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[287] Amadeus Voß, beunruhigt durch Johannas Ausbleiben, hatte auf Schleichwegen erfahren, daß sie das Haus ihrer Verwandten plötzlich verlassen hatte. Am Tag, nachdem sie zuletzt bei ihm in Zehlendorf gewesen, war sie heimgekehrt, still und bekümmert. Man war schon in Unruhe um sie; überall dachte man jetzt gleich an Mord und geheimnisvolles Verschwinden. Die Fragen, wo sie die Nacht zugebracht, hatte sie unbeantwortet gelassen und statt dessen einfach erklärt, sie bleibe überhaupt nicht mehr. Allem Bestürmen und Erkundigen hatte sie Schweigen entgegengesetzt, hatte in Eile ihre Sachen gepackt, dann war ein bestelltes Auto erschienen, und mit einigen förmlichen Dankesworten hatte sie Abschied genommen. Ihrer Cousine, die auf einem vertrauteren Fuß als die übrigen mit ihr stand, hatte sie gesagt, sie brauche eine Zeitlang Sammlung und Einsamkeit und ziehe darum in ein möbliertes Zimmer; man möge ihr aber nicht nachforschen, das habe keinen Zweck und werde sie nur noch weiter scheuchen,[287] ja, sie hatte sogar mit Schlimmerem gedroht, falls man sie nicht in Frieden lasse. Trotzdem hatten die geängsteten Leute ihre Spur verfolgt, und es war ihnen mitgeteilt worden, daß sie sich in der Kommandantenstraße eingemietet hatte. Da es eine anständige Frau war, bei der sie Wohnung genommen, und sich auch sonst nichts Aufregendes mit ihr ereignete, achtete man ihren Willen und zerbrach sich nur über das Unbegreifliche den Kopf.

Das alles war Voß von einem bei der Familie bediensteten Mädchen verraten worden, der er dafür ein Fünfmarkstück schenkte. Mit verkrampftem Gesicht und entzündetem Herzen ging er heim, um zu überlegen, was er zu tun habe. Er fand einen Brief von Johanna vor. Sie schrieb: »Ich weiß nicht, wie es zwischen uns künftig sein wird. Ich kann momentan keine Entschlüsse fassen. Ich interessiere mich augenblicklich zu wenig für mich und mein Schicksal; ich habe einen triftigen Grund dafür. Suche mich nicht auf. Ich bin fast den ganzen Tag in der Stolpischen Straße, aber suche mich nicht auf, wenn dir noch etwas an mir liegt und wenn du wünschst, daß mir an dir noch etwas liegen soll. Ich will dich jetzt nicht sehen, ich mag dich jetzt nicht hören. Das Erlebnis war zu schrecklich, zu unerwartet. Du würdest mich verändert finden in einer Weise, die dir unliebsam wäre. Johanna.«

Bleich vor Wut fuhr er sofort nach Berlin zurück und bis zum Bahnhof Schönhauser Allee. Als er in der Stolpischen Straße ankam, war es neun Uhr abends. Frau Gisevius sagte ihm, das Fräulein sei vor einer halben Stunde weggegangen. Er warf einen Blick in Christians Stube und sah einen ihm unbekannten Knaben am Tisch sitzen. Er zog die Frau beiseite und fragte, wer das sei. Ob er denn von nichts wisse? war die erstaunte Gegenfrage der Frau; es sei der Bruder des ermordeten Mädchens. Wahnschaffe sei nicht wiederzuerkennen, seitdem diese Geschichte passiert sei; er gehe verloren herum, und wenn man ihn anrede, antworte er entweder[288] gar nicht oder verkehrtes Zeug. Das Frühstück, das sie ihm am Morgen bringe, berühre er nicht. Ost stehe er eine halbe Stunde lang mit gesenktem Kopf auf einem Fleck, so daß man für seinen Verstand fürchten müsse; vor zwei Tagen sei sie ihm drüben in der Rhinower Straße begegnet, da habe er, am hellichten Tag und unter Menschen, laut vor sich hin geredet. Die Leute hätten gelacht. Gestern sei er ohne Hut fortgegangen, und ihre Jüngste habe ihm den Hut nachgetragen, aber er habe sie eine ganze Weile verständnislos angeblickt. Kurz darauf sei er mit einigen seiner Freunde zurückgekommen, und da habe sie ihn plötzlich schreien gehört und sei ins Zimmer gestürzt; da sei er vor den andern auf den Knien gelegen und habe erst wie ein kleines Kind geschluchzt, dann um sich geschlagen und habe gerufen, das könne nicht sein, das dürfe nicht sein, das ertrage er nicht, das sei ja alles nicht menschenmöglich. Das Fräulein Schöntag sei auch dabei gewesen, aber die hätte geschwiegen dazu, und alle hätten geschwiegen und ausgesehen wie die Schlottergestalten. Die Veranlassung zu dem Anfall sei gewesen, daß ihm einer von den jungen Leuten voreiligerweise gesagt, heute finde die gerichtliche Obduktion der Leiche statt. Da habe er gleich hingehen gewollt; sie hätten ihn mit Mühe halten können und hätten ihm in ihrer Not schließlich gesagt, es sei schon zu spät, es sei schon vorüber. Dann sei er die Nacht über im Zimmer auf und ab marschiert, während der Michael auf dem Ledersofa gelegen; sie hätten aber nicht ein Wort miteinander geredet; sie sei öfters auf den Flur geschlichen und habe gelauscht; nicht eine Silbe hätten sie miteinander geredet. Um fünf Uhr früh sei schon das Fräulein gekommen; um sieben Uhr der Lamprecht und noch ein Student; die hätten ihn überredet, er solle mit ihnen nach Treptow fahren; sie wollten den Tag mit ihm verbringen; er habe weder zugestimmt noch widersprochen; sie hätten ihn bloß so mitgeschleppt. Dann seien Bekannte von der Ruth Hofmann dagewesen, bis Mittag,[289] eine Frau und ein junger Mensch; die kämen auch manchmal am Abend, nachdem das Fräulein gegangen, damit der Michael nicht allein sei. Was mit dem werden solle, das wisse niemand; mit dem habe sich noch nicht das mindeste verändert; seit er gekommen, habe er die Kleider noch nicht vom Leib getan, und hätte ihn das Fräulein nicht so geschickt rumgekriegt, er hätte sich nicht mal den Kot abbürsten und Gesicht und Hände waschen lassen. Zuweilen besuche ihn ein rothaariger Herr, auch einer von Wahnschaffes Freunden, sie höre, es sei ein Baron; der habe vorgestern ein Schachspiel mitgebracht, da ihm irgendwer gesagt, der Junge verstehe das Schach und habe oft mit seiner Schwester gespielt. Aber als er die Figuren aufgestellt, habe Michael nur so geschaudert und mit keinem Finger hingerührt. Das Brett mit den Figuren stehe noch auf dem Tisch, Herr Voß könne sich überzeugen.

Die Frau hätte noch lange fortgeschwatzt, aber Voß verabschiedete sich mit einem stummen Gruß. Er war nachdenklich geworden. Was er über Christian vernommen, hatte ihn nachdenklich gemacht. Unschlüssig, wohin er sich wenden solle, ging er gegen den Exerzierplatz zu. Er grübelte; er zweifelte. Sich Christian vorzustellen, wie ihn das Weib geschildert, weigerte sich seine Einbildungskraft. Es war das Widersinnige schlechthin, alle Erfahrung Höhnende. Schmerz, solcher Schmerz und Christian? Verzweiflung, solche Verzweiflung und Christian? Das trieb die Dinge aus ihrer Bahn. Dahinter lag ein Rätsel. Elemente verändern schließlich unter Anwendung höchstgesteigerter Mittel ihren Aggregatzustand, aber daß Marmor zu Lazerte wird, ist schwer zu denken, und daß ein Herz entsteht, wo keines war, gar nicht.

Wie zurückgezwungen kehrte er um und ging wieder in die Stolpische Straße. Da sah er Johanna dicht vor sich. Er rief sie an. Sie blieb stehen und nickte ihm zu, ohne Überraschung zu zeigen. Auf seine hastigen, halblauten Fragen schwieg sie. Ihr Gesicht war von transparenter Blässe. Im[290] Torweg des Hauses besann sie sich, dann ging sie in den Hof, an das Fenster von Christians Stube; sie wollte hineinschauen, es war verhängt. Sie eilte in den Flur, läutete bei Gisevius, und nach einem kurzen Gespräch mit der Frau kam sie zurück. »Ich muß nach oben,« sagte sie, »ich muß sehen, wie es Karen geht.« Sie bedeutete Voß nicht, zu warten; um so entschlossener wartete er. Er hörte aus den Wohnungen Musik, Gelächter, Kindergeplärr, das Sticheln einer Nähmaschine; Leute gingen vorüber, treppauf, treppab; endlich kam Johanna zurück und schritt an seiner Seite auf die Straße. Sie sagte in ratlosem Ton: »Die Arme wird die Nacht kaum überleben, und Christian ist nicht da; was soll man tun?«

Er schwieg.

»Du mußt verstehen, was jetzt mit mir geschieht,« sagte Johanna leise und eindringlich.

»Ich verstehe nichts,« erwiderte Voß gedrückt, »nichts, außer daß ich leide, unsinnig leide.«

Johanna sagte hart: »Du kommst nicht in Betracht.«

Sie waren beim Humboldthain. Es war kalt, trotzdem setzte sich Johanna auf eine Bank. Sie schien ermüdet. Ihrem zarten Körper waren Anstrengungen wie Wunden. Scheu nahm Voß ihre Hand und forschte: »Was ist es denn?«

»Laß,« hauchte sie und entzog ihm ihre Hand. Sie schwieg lange. Endlich fing sie an: »Man hat ihn immer für unempfindlich gehalten. Einige haben sogar behauptet, das sei der Grund seines Erfolges bei allen, die mit ihm zu tun haben. Eine hübsche Theorie; ich für meinen Teil habe nie daran geglaubt. Da die meisten Theorien falsch sind, weshalb sollte die gerade richtig sein? Es wird so viel über Menschen geschwätzt. Es ist so mühsam; alles ist so mühsam. Jasagen ist mühsam, Neinsagen ist mühsam. Ich gebe zu, eine Gemütserbauung war seine Gesellschaft nicht. Man nahm sich instinktiv in acht vor ihm, wenn man von irgend etwas ergriffen war; man genierte sich dann. Und nun das. Du kannst es[291] dir ja nicht vorstellen; und wie soll mans beschreiben? Die ganze Zeit, während er sich um Michael zu schaffen machte, an jenem ersten Abend, wußte er noch nichts. Um neun oder halb zehn ging er zu Karen hinauf und wollte nach einer Stunde wiederkommen. Er kam aber früher. Im Hof standen noch Leute; von denen erfuhr ers. Dann kam er in die Stube. Ganz leise. Er kam herein, und ...« Sie zog ihr Taschentuch hervor, drückte es an die Augen und weinte still.

Voß ließ sie eine Weile weinen, dann fragte er gespannt: »Er kam herein und –? Und was?«

Die Augen bedeckt haltend, sprach Johanna weiter: »Man hatte das Gefühl: Schluß. Schluß mit dem Sichfreuen, Schluß mit Lächeln und mit Lachen; Schluß. Sein Gesicht war in einer Viertelstunde um zwanzig Jahre älter geworden. Ich habe es angeschaut, aber nur mit einem Blick, dann hatte ich keinen Mut mehr dazu. Du denkst vielleicht, ich phantasiere, wenn ich sage: der ganze Raum war Schmerz, die Luft war Schmerz, das Licht war Schmerz. Aber es ist die Wahrheit. Alles tat weh. Alles was man dachte und sah, tat weh. Dabei war er vollständig stumm, und seine Miene war ungefähr so, als strenge er sich an, eine undeutliche Schrift zu lesen. Das war das Schmerzlichste.«

Sie schwieg, und Voß störte ihr Schweigen nicht. Man müßte sich überzeugen, ob Marmor zu Lazerte werden kann, dachte er böse und eifersüchtig, müßte sehen, hören, prüfen. Er blieb willentlich verstockt. Die Erklärungen, die er sich zurechtlegte, waren von niedriger Beschaffenheit, aber um Johanna nicht zu reizen, heuchelte er Glauben. Und doch erschütterte ihn etwas an der Erzählung und machte ihn feig.

Johanna war des Halts bedürftig. Sie fror in ihrer neuen Freiheit; sie mißtraute ihrer Kraft, Freiheit zu ertragen; sie wunderte sich bang, daß niemand sie mit Gewalt ins Wohlige zurückschleppte, in das umhegte Leben, zu den Sorglosen und Gesicherten.[292]

Es war ihr recht, daß Amadeus an ihrer Seite ging. Ach, man war inkonsequent, man war charakterlos, man hielt sich selbst nicht Wort, aber es war ein solches Grauen: allein sein. Trotzdem schien ihre Abschiedsgebärde unwidersprechlich, als sie vor dem Haus in der Kommandantenstraße anlangten, wo sie wohnte. Amadeus Voß, ihre Schwäche witternd, ihre Melancholie spürend, begleitete sie bis zur finsteren Stiege, und dort riß er sie an sich, mit einer Heftigkeit, als wolle er sie zerfleischen. Sie seufzte bloß.

Da erwachte der unwiderstehliche Wunsch in ihr, Mutter zu werden. Gleichviel durch wen, gleichviel, ob der Kuß Wonne oder Ekel einflößte; gleichviel; sie wünschte, Mutter zu werden. Nur etwas zeugen, etwas bilden, nicht so leer sein, so kalt sein, so allein sein; sich an etwas hängen, sich wertvoller dünken und für ein Wesen wichtig werden. Hatte dieser nicht, der sie wie ein Raubtier umkrallte, das Wort gesprochen von der Sehnsucht des Schattens nach seinem Körper? Sie glaubte es auf einmal zu verstehen.

Dunkel forschend, mit ihrem starken Blick, schaute sie ihn an, als sie wieder auf die Straße traten; schaute ihn an und ging mit ihm.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 287-293.
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