[262] Johanna saß in ihren Mantel gehüllt, trotzdem es im Zimmer warm war.
Amadeus Voß erzählte: »Ich weiß von einem heiligen Priester, der im siebzehnten Jahrhundert in Frankreich lebte, Louis Gaufridy war sein Name. Damals glaubte das Volk noch an Magie und Hexenkünste, und das war gut, denn es hatte damit ein Gegengift gegen gottlose Begierden. Heute glauben die Erlesenen wieder an die Magie, und sie bannen damit den Götzen, der sich Wissenschaft nennt. Louis Gaufridy galt für den frömmsten Mann seiner Zeit, auch seine Feinde bestritten es nicht. In einem Kloster, wo er die Beichte abnahm, war eine Nonne, Magdalene de la Palud; diese hatte sich in ihrer Phantasie des Heilands wie eines fleischlichen Geschöpfs bemächtigt; mit dem Bild des Heilands hatte sie gebuhlt, sagen die Chroniken. Es stand in ihrem verstörten Auge, und der Priester Gaufridy erkannte es und wollte sie durch die Beichte befreien. Aber die Dämonen verschlossen ihren Mund und vermauerten ihr Herz. Und sie wurde von ihnen besessen, die Teufel Asmodi und Leviathan redeten aus ihr, sie hatte unzüchtige Gesichte, sie, die bisher keusch gelebt hatte, und klagte den Priester an, er habe zauberische Schändlichkeiten an ihr verübt. Gaufridy wurde verhaftet und peinlich verhört und mit Magdalene konfrontiert. Er schwur bei Gott und den Heiligen, daß er falsch angeschuldigt sei, doch die Nonne beteuerte aus ihren Visionen heraus, daß er der Fürst der Zauberer sei und daß er sie in der Beichte mißbraucht und ihre Seele vergiftet habe. Vor den Richtern flehte er Magdalene an, von ihrem Wahn zu lassen und die Wahrheit zu bekennen; aber sie hatte keine Wahrheit mehr; außer sich rief sie ihm entgegen, er habe sich der Hölle mit Blut verschrieben und sie gezwungen, das gleiche zu tun. Daraufhin wurde er nochmals grausam[263] gefoltert und auf dem Dominikanerplatz in Aix lebendig verbrannt.«
Johanna lächelte gequält.
»Das ist die Geschichte von Magdalene de la Palud,« sagte Voß; »die tiefe Geschichte vom himmlischen und irdischen Eros und von der Fata Morgana der Sinne. Wer war schuldig? Magdalene, weil sie sich am Bild des Heilands vergangen und es mit ihren lüsternen Gedanken besteckt, oder Gaufridy, weil er sie in den Zwiespalt mit sich selbst gestürzt hatte und Fleisch vom Geiste lösen wollte? Dafür mußte er leiden, dafür muß jeder leiden. Aber was ich spüre und worauf auch eine Andeutung in einer überlieferten Schrift schließen läßt, ist, daß den frommen Mönch eine geheimnisvolle und furchtbare Liebe zu Magdalene de la Palud ergriff, als sie ihn auf die Folter stieß, und daß diese Liebe sogar den Schmerz des Feuertodes für ihn linderte. In jeder Menschenbrust entsteht nur einmal Liebe und nur zu einem Wesen. Alles andre ist Mißverständnis und fruchtloser Wiederbelebungsversuch. Es führt zur Lüge, es führt zur Folter.«
Johanna lächelte gequält.
»Ich bin gestern mit einer Dirne gegangen,« sagte Voß plötzlich und sah stier in die Luft.
Johanna rührte sich nicht.
»Es ist ein altes Grauen, das mich zu den Dirnen zieht,« fuhr er tonlos fort. »Wenn ich manchmal mutterseelenallein, halb krank vor Sehnsucht, ohne Geld in der Tasche durch die Gassen schlenderte, sah ich ihnen nach und beneidete die Menschen, die mit ihnen gehen konnten. Es ist ein altes Gefühl und sitzt sehr tief. Ich kann nicht davon loskommen, jetzt schon gar nicht, wo ich im Finstern irre und der Boden weicht. Da nun Christus im Fleische gelitten, so wappnet auch ihr euch mit dem nämlichen Sinne, heißt es, denn wer im Fleische leidet, stehet von der Sünde ab.«[264]
»Du sprichst,« sagte Johanna und stand auf. »Hätt ich sprechen gelernt, so könnt ich dir auch sagen, was du tust.«
»Ich leide im Fleische,« antwortete er, und sein Blick brannte auf ihr.
Sie ging ein paarmal durch das Zimmer. Sie haßte ihren Schritt, ihr Sehen, Hören und Denken. Sie hatte ein so hinglühendes Verlangen nach Menschennähe, einer freundlichen Hand, einem menschlichen Wort, daß sie sich, wozu es sie trieb, nicht einmal zu gestehen wagte. Es schwebte ihr nur dunkel vor, daß sie in jenem Hinterzimmer in der Stolpischen Straße saß, um auf Christian zu warten, stundenlang, nächtelang, gleichgültig wie lange, zu warten, nichts andres, und da zu sein, wenn er kam, und außen zu lächeln und inwendig zu weinen, man hatte das ja in der Übung, ohne Zweck, ohne Aussprache, ohne Geständnisse, ohne Klagen, wie es unter erzogenen Leuten Brauch war, die ihre Angelegenheiten in der Stille und mit sich allein abmachten; ohne andern Sinn, als da zu sein und die Gefriertemperatur des Herzens um ein paar Grade zu erhöhen.
Aber es war so verbrecherisch und so dumm: etwas zu wollen, zu planen, zu unternehmen, von irgendwoher etwas zu erhoffen, ein leeres Beginnen, wie das des Vogels, der nach gemalten Körnern pickt.
»Du erwähntest neulich, daß du die Miete nicht zahlen kannst, erlaube, daß ich dir aushelfe,« sagte sie in ihrer kargen, spitzen Art und legte mit einer Gebärde aus der Schulter heraus einige Geldstücke auf den Tisch. »Sprich nicht, ich bitte dich, diesmal sprich nicht.«
Er schaute sie verzehrend an und lachte höhnisch.
Sie blieb stehen wie eine Bildsäule, und er wollte sie küssen. Sie duldete es wie eine, der man ein Messer an die Kehle setzt.
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
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