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[265] Als sie in die Stolpische Straße kam, war es sieben Uhr abends. Christian war nicht zu Hause, und sie wartete.

Sie zündete die Lampe an, setzte sich an den Tisch und wartete, unbeweglich vor sich hinschauend. Nach einer Weile, da die Kälte des ungeheizten Raums unter den Mantel und die Kleider kroch, erhob sie sich und wanderte auf und ab. Manchmal betastete sie Gegenstände, ein Notizbuch, das verstaubte Tintenfaß, die kalten Ofenkacheln. Sie ließ die Rollgardinen herunter und sah die einfältigen Bildereien an, mit denen sie bedruckt waren.

Wieder wie damals hörte sie das Haus. Es raunte; es umdrängte sie, ein Schicksal.

Da wurde an die Tür gepocht, in raschen, heftigen Schlägen. Sie erschrak, ging hin und machte auf. Ein Knabe stand vor ihr. Der Anblick, den er bot, machte sie schaudern. Seine Kleider waren von oben bis unten mit Kot bespritzt, ja, an einzelnen Stellen, an den Knien und an der Brust, bildete der Kot eine dicke Kruste. Er war ohne Kopfbedeckung; pechschwarze Haare hingen wirr um den Schädel; auch sie starrten von Kot. Das Gesicht war weiß, so vollkommen weiß, wie es Johanna nie gesehen hatte; kein Tropfen Blut schien unter der Haut zu stießen.

Auf dem linken Fuß hinkend trat er an Johanna vorbei ins Zimmer. Seine Bewegungen waren traumhaft mechanisch; der Willensantrieb lag geraume Zeit hinter der Handlung.

»Ich bin Michael Hofmann,« sagte er, und seine Zähne klapperten.

Johanna kannte ihn nicht und wußte nichts von ihm. Sie glaubte es mit einem Irrsinnigen zu tun zu haben. Aus Furcht entfernte sie sich nicht von der Schwelle. Sie war jeden Augenblick gewärtig, daß er sich auf sie stürzen würde, und horchte nach Schritten vom Flur oder vom Hof. Sie wollte flüchten,[266] hatte aber Angst, sich zu bewegen. Als der Knabe in den Lichtkreis der Lampe kam, entschlüpfte ihr ein mit einem Seufzer abbrechender Aufschrei, so gräßlich war der Ausdruck in seinen Augen.

Er stockte. Er schaute sich um. Er suchte offenbar Christian Wahnschaffe. Im Schauen vergaß er das Suchen wieder; der Blick verlor sich. Er griff nach einer Stuhllehne. Erschöpfung schien ihn zu befallen; indem er sich auf den Stuhl setzen wollte, wirbelte es ihn halb um seine Achse, und hätte er nicht die Lehne krampfhaft gepackt, so wäre er niedergebrochen. Nun sah Johanna, daß es kein Irrsinniger war, auch kein Betrunkener. Es war ein Mensch, dem ein unfaßbar entsetzliches Geschehnis die Besinnung, die Kraft, die Sprache und den Blick geraubt hatte. Nicht bloß das Schlottern der Glieder und das steinweiße Gesicht verkündeten es, die Atmosphäre um ihn verriet es.

Sie schloß leise die Tür. Sie näherte sich zaghaft dem Stuhl, auf dem er wie festgekeilt saß. Sie wagte keine Frage. An der Lippe nagend, unterdrückte sie ein heiß aufschießendes Gefühl. Sie fühlte sich zusammenschrumpfen, sie wurde sich ganz dünn und schmal, sie hatte das Recht zu atmen vor sich verwirkt.

Jede Sekunde, die verstrich, vermehrte ihre unsägliche Bestürzung. Die Beine wankten ihr; sie setzte sich abseits. Der Knabe kehrte ihr den Rücken, und sie gewahrte, daß sein Körper zu zucken anfing. Es war an den Rockfalten und den herabhängenden Armen merkbar und dauerte ohne Pause konvulsivisch an. Die Hilflosigkeit, in der sie sich dem unbekannt Schauerlichen gegenüber befand, erregte physischen Schmerz, trieb zur Selbstbeschimpfung und Selbstverhöhnung. Ihre Seele war in Schwärze getaucht, zerfasert und zerstäubt. Während sie so litt, kam eine Begierde über sie, eine trotzige, mit Zweifeln ringende, an einen letzten Halt sich klammernde Begierde: zu erfahren, wie Christian dieses Fürchterliche aufnehmen[267] würde, in das er allem Anschein nach verstrickt war; ob er es abtun würde mit seiner Glätte, ob es zerschellen würde an seiner Undurchdringlichkeit, die sie kannte, an der auch sie zerschellt war mit ihrem Leben und Schicksal; oder ob er der andere war, der Umgewandelte, der Unzweideutige, der das Wunder an sich vollbracht und Menschen damit hingerissen hatte, nur sie nicht, weil sie nicht glaubte, nicht glauben konnte, aus Scham nicht, aus Verzweiflung nicht, aus Verlassenheit nicht, aus Kränkung nicht. Gab es das, war es so, stimmte die Probe aufs Exempel, dann brauchte sie sich ferner nicht zu quälen. Was bedeutete dann einer Johanna Schöntag kleiner Kummer noch? Dann mußte sie sich bescheiden und eines Rufes gewärtig sein. Welchen Rufes, das wußte sie nicht.

Und sie wartete, den schlanken Hals reckend wie ein durstiges Tier.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 265-268.
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