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[268] Das »Nein, Niemals, Nimmermehr« hatte Christian sinnlos umhergetrieben. An diesem Tag vergaß er Karen in ihrer Todeskrankheit.

Als er gegen Abend in die Stolpische Straße kam, regnete es. Trotzdem standen vor den Häusern Leute in Gruppen. Ein ungewöhnliches Ereignis hatte sie aus den Stuben gelockt.

Er war ohne Schirm und naß bis auf die Haut. Auch unterm Tor standen Menschen, Bewohner des Hauses. Sie flüsterten aufgeregt. Ihn gewahrend, schwiegen sie, wichen zur Seite und ließen ihn passieren.

Ihre Gesichter flößten ihm Schrecken ein. Er schaute sie an. Sie schwiegen. Der Schrecken legte sich, ein Stück Eis, auf seine Brust.

Er ging weiter. Er wollte in Karens Wohnung hinauf, besann sich aber vor der Treppe und lenkte seine Schritte zum[268] Hof. Er wünschte in seinem Zimmer eine Weile allein zu sein. Einige Leute folgten ihm, darunter die Frau des Gisevius und deren Sohn, ein junger Mensch mit dem stark ausgeprägten Klassenbewußtsein des organisierten Arbeiters im Wesen.

Christian bemerkte nicht einmal, daß die Fenster seiner Stube erleuchtet waren. Er schob sich an der Mauer hin, naß am Leibe. Die Tür öffnend, sah er Johanna und den Knaben. Er erkannte Michael Hofmann noch nicht, da er abgewandt von ihm saß. Johanna nickte er überrascht zu. Der funkelnd gespannte Blick, den sie auf ihn heftete, machte ihn stutzig. Zum Tisch tretend, erkannte er Michael Hofmann. Er wurde bleich und mußte sich an der Kante festhalten.

Die Tür war noch offen, und im trüben Licht der Flurlampe drängten sich vor der Schwelle die fünf oder sechs Menschen, die ihm gefolgt waren, nicht in aufdringlicher Absicht, sondern weil sie von Gerüchten beunruhigt waren und erwarteten, daß er ihnen Auskunft geben könne.

Christian legte dem Knaben die Hand auf die Schulter. »Wo warst du, Michael?« fragte er; »wo kommst du her?«

Der Knabe verharrte in lautloser Starrheit.

»Wo ist Ruth?« fragte Christian mit einer gewaltsamen Anstrengung.

Da erhob sich Michael. Seine Augen waren unnatürlich weit aufgerissen. Er machte mit beiden Armen eine ausholende, deutende Bewegung. Das Entsetzen schüttelte ihn dermaßen, daß ein gurgelnder Ton, der aus seiner Kehle drang, wie bei Schlingbeschwerden, erstickt wurde. Plötzlich wankte er, taumelte und fiel um wie ein Stück Holz. Er lag auf dem Boden.

Christian kniete nieder. Er umfing ihn. Er hob ihn mit den Armen ein wenig empor; er schloß die kotbedeckte, von Zittern durchschüttelte Gestalt dicht in seine Arme; er beugte das Gesicht herab und erfuhr Unerhörtes aus dem flehend, grausend, durch finstere Tiefen zu ihm herauflangenden Blick. Er preßte den Körper Michaels inbrünstig an den seinen, der naß[269] war und dessen Nässe er nicht mehr spürte; er riß ihn zu sich; er riß ihn in sich hinein, als wäre seine Brust ein Behälter und ein Schutz, und der Knabe umklammerte nun auch ihn mit den Armen, seine kataleptische Erstarrung lockerte sich; ein furchtbares, dem Heulen in einem unterirdischen Rohr ähnliches Schluchzen brach aus dem zu einem Skelett abgemagerten Leibe.

Er mußte wissen. So zerstört werden konnte nur ein Mensch, der Wissen hatte.

Und Christian küßte das steinbleiche, schmutzige, tränenüberströmte Gesicht.

Johanna sah es; auch die schüchtern vor der Tür stehenden Leute sahen es.[270]

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 268-271.
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