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[81] Ich rekapituliere, denn es ist nun einmal wichtig, durch die klare Beweisführung zur klaren Schlußfolgerung zu gelangen. Das Beispiel tritt nicht als ein Beispiel zur Person, sondern zur Sache auf.

Die Idee des ›Caspar Hauser‹ war, zu zeigen, wie Menschen aller Grade der Entwicklung des Gemüts und des Geistes, vom rohesten bis zum verfeinertsten Typus, der zwecksüchtige Streber wie der philosophische Kopf, der servile Augendiener wie der Apostel der Humanität, der bezahlte Scherge wie der besserungssüchtige Pädagoge, das sinnlich erglühte Weib wie der edle Repräsentant der irdischen Gerechtigkeit, wie sie alle vollkommen stumpf und vollkommen hilflos dem Phänomen der Unschuld gegenüberstehen, wie sie nicht zu fassen vermögen, daß etwas dergleichen überhaupt auf Erden wandelt, wie sie ihm ihre unreinen oder durch den Willen getrübten Absichten unterschieben, es zum Werkzeug ihrer Ränke und Prinzipien machen, dieses oder jenes Gesetz mit ihm erhärten, dies oder jenes Geschehnis an ihm darlegen wollen, aber nie es selbst gewahren, das einzige, einmalige, herrliche Bild der Gottheit, sondern das Holde, Zarte, Traumhafte seines Wesens besudeln, sich vordringlich und schänderisch an ihm vergreifen und schließlich morden. Der zuletzt den Stahl führt, ist nur ausübendes Organ; gemordet hat ihn jeder in seiner Weise: die Liebenden[81] so gut wie die Hassenden, die Lehrenden wie die Verklärenden; die ganze Welt ist an ihm zum Mörder geworden; so schreit es ja auch schließlich aus der gequälten Brust der Clara von Kannawurf.

Der Vorgang nun steht in der Landschaft, die ihm bereits von der Geschichte gegeben war; innerste deutsche Welt und, ich glaube es wohl sagen zu dürfen, gültige deutsche Menschen. Deutsch die Stadt, deutsch der Weg, deutsch die Nacht, deutsch der Baum, deutsch die Luft und das Wort. Mag sein, daß ein sehr hoch thronender Richter mit weisem Lächeln mir zurufen könnte: was du von den Ahnen hast und durch dein Blut bist und in deinem Werk sich mitverkündigt, das kannst du selbst nicht beurteilen. So würde ich doch antworten, und er, der Weise, würde es billigen: Die es trotzdem spüren, sind schon vom niedern Wahn Gelöste, und sie freuen sich dessen, der sie bestätigt und erweckt; ob er vom Osten kommt oder vom Westen, gilt ihnen gleich, nur seine Menschenstimme und seine Opfertat ist ihnen wichtig. So viel weiß ich von den Erweckten.

Die andern, denen ich Jude war und blieb, wollten mir damit zu erkennen geben, daß ich ihnen nicht genug tun konnte, als Jude nämlich; daß ich, als Jude, nicht fähig sei, ihr geheimes, ihr höheres Leben mitzuleben, ihre Seele aufzurühren, ihrer Art mich anzuschmiegen. Sie räumten mir die deutsche Farbe, die deutsche Prägung nicht ein, sie ließen das verschwisterte Element nicht zu sich her. Was unbewußt und pflanzenhaft daran war, schien ihnen ein Produkt der Erklügelung, Ergebnis jüdischer Geschicklichkeit, schlauer jüdischer Ein- und Umstellung, gefährlicher jüdischer Täuschungs- und Bestrickungsmacht. Was half die stille oder auch geäußerte Überzeugung, daß ein Buch wie dieses, aus dem Herzen des Volkes entstanden und durch alle ihm beschiedene Zeit hindurch als volksmäßig ansprechbar, wäre es von einem Namenlosen oder Unbekannten ausgegangen, vielleicht sogar für Deutschtümler ein Fanal geworden wäre, sie[82] sich's wenigstens als solches hätten aufreden lassen wie manches minder bezeichnende und flachere, wie manches größere auch, das sie gierig ins Joch ihrer Machenschaften preßten? Da waren ja überbrachte Symbole, das verfolgte Fürstenkind, hinschmelzend in romantischer Sehnsucht; alles von alter Weise eigentlich, nur daß am Ende Versöhnung und Glorie fehlten und das Schicksal, folgerichtig nach innen, vorgangstreu nach außen, seinen schauerlichen Weg vollzog. Was die tiefen und starken Empfänger daneben noch empfangen konnten, steht auf einem andern Blatt, steht dort, wo es steht. Gewiß ist nur das eine: Es durfte vor der deutschen Öffentlichkeit nicht wahr sein, daß ein Jude ein so eigentümlich deutsches Buch schrieb.

Wohlwollende noch deuteten an: ja, ja, alles recht schön, aber dies vergrübelte Wesen ist von fremdem Ursprung; diese psychologische Bohr- und Grubentechnik hat nichts mit unserer Stammesart gemein. Das ist noch das Mildeste, was in den meisten der beliebten und verbreiteten Literaturgeschichten zu lesen ist. (In Parenthese: Die Massenheerschau und Massenabschlachtung eines Großteils dieser wissenschaftlich tuenden Literaturgeschichten mit ihrer leichtsinnigen Schablonisierung und dem auf Unwissende und Unmündige berechneten Oberlehrerton ist geradezu eine deutsche Schande, in den Augen gebildeter Nationen eine Lächerlichkeit.) Was dort also zu lesen ist, wurde zur gängigen Urteilsmünze, und welche Anstrengungen immer ich aufwenden, welche Gestalten und Gesichte immer ich darbieten mochte, wie hoch ich baute, wie tief ich schürfte, es wurde stets in den nämlichen Retorten das nämliche Gift gekocht, das bestimmt war, den freien Flug zu lähmen, die freudige Hingabe zu brechen.

Man wird einwenden: alles Geschaffene stößt auf Widerspruch und Widerstand; was dich auf deiner Linie hemmt, ist nur ein Umgebogenes, Umgelogenes von dem, was andere auf ihrer behindert; verwundbar, weil[83] verwundet bis zurück ins zehnte Glied schon, trifft dich der Nadelstich wie Dolchstoß, der Faustschlag wie Knüppelhieb; dein Argwohn bereits macht Unsichere zu Feinden und Nörgler zu Meuchlern; vergiß nicht den Dornenpfad Größerer, vergiß auch nicht, was du in deinem Kreis gewirkt und gewonnen.

Es handelt sich darum nicht. Es handelt sich nicht darum, was ich gewirkt und gewonnen. Es handelt sich um die Lüge, die wurmhaft vor mir herkriecht und von Zeit zu Zeit ihr gesprenkeltes Haupt erhebt, um mich anzuspeien. Um die unbesiegbare, grauenvolle Lüge handelt sich's, in die sich der Geist eines ganzen Volkes gehüllt hat, und der kein Augenschein, kein Opfer, keine Liebe, kein Beweis etwas anzuhaben vermag.

Man denke sich einen Arbeiter, der, wenn er seinen Lohn begehrt, niemals voll ausgezahlt wird, obgleich seine Leistung in nichts hinter der der übrigen Arbeiter zurücksteht, und den man auf die Frage nach dem Grund solcher Unbill mit den Worten bescheidet: du kannst den vollen Lohn nicht beanspruchen, weil du blatternarbig bist. Er schaut in den Spiegel: Sein Gesicht ist durchaus ohne Blatternarben; er geht hin: Was wollt ihr? Ich bin ja gar nicht blatternarbig. Man zuckt die Achseln, man erwidert: Du bist als blatternarbig gemeldet, also bist du blatternarbig. In dem Gehirn des Menschen entsteht eine sonderbare Verwirrung: Das Recht wird ihm verkürzt unter dem Vorwand eines äußeren Makels, und in der Beunruhigung, die es ihm erregt, daß er den Makel nicht finden und erkennen kann, unterläßt er es, mit dem Aufgebot aller Kraft sein Recht durchzusetzen. Eine raffiniert ausgedachte Qual.

So auch spricht der Deutsche, der Nur-Deutsche, Dolmetsch von vielen, wenn ich in seine heimlichsten Hintergründe dringe, zu mir: Für das, was du machst und schaffst, ist jeglicher Lohn genug; du kannst überhaupt froh sein, daß ich dir Spielraum gewähre, da es ja meine unerschütterliche Überzeugung ist, daß alles, was du bildest[84] und formst, weder nützlich, noch erfreulich für mich sein kann.

Sind das Nadelstiche, so sind es doch mörderische; sind es Faustschläge, so will ich nicht erfahren, wie Knüppelhiebe schmecken. Das Evoe und Hosianna der Spärlichen, die um einen sind, übertäubt nicht das Pereat von draußen. Man muß wachsam sein auf die Stimmen von draußen. Jedem Schriftsteller gegenüber konstituiert sich ein Gesamtverhalten der Nation; nach diesem richtet sich die Freiheit seines Gemüts, die Sicherheit seine Allüre und ein schwer umschreibbares Etwas von geistigem Takt, von eingebetteter Stromkraft. Unerläßlich, daß er voraussetzungslos genommen wird, erwachsen ihm doch aus Werk und Handwerk so viel Hemmungen und Ängste, daß die Jahres-, die Stundenschale randvoll davon überfließt, des häßlich beschwerten Alltags nicht zu gedenken. Bekommt er nicht zu spüren, daß die Wärme, die er ausgibt, wieder Wärme erzeugt, so bricht die Natur in ihm zusammen. Wie soll er sich einer Anklage erwehren, die ihm je sinnloser erscheinen muß, je wahrer er in seinem Kreis, in seiner Ordnung steht? Möglich, er betrachtet als Auszeichnung, möglich, als drückendes Schicksal, möglich sogar, als zu sühnende Schuld, was ihm durch das Judesein geschehen ist; es gibt ja Erscheinungen der letzten Art genug, und ich werde noch von ihnen zu reden haben; in keinem Fall wird er begreifen, wird er es zu ertragen lernen, daß im gereinigtsten, geweihtesten Bezirk mit zweierlei Maß soll gemessen werden und keine Reinigung und Weihe zureichen soll, keine Tat, keine Entselbstung, nicht Schweiß noch Blut, nicht Bild noch Figur, nicht Melodie noch Vision, ihm das Vertrauen, die Würde, die Unantastbarkeit von vornherein zuzugestehen, die im gegnerischen Lager der Geringste ohne Abzug genießt. Ist er aber einmal zu der Erkenntnis der Vergeblichkeit des Kampfes gelangt, woher soll er dann noch Worte und Gründe nehmen, woher den Mut zur Erweisung und Verkündigung?[85]

Bild und Figur führen im deutschen Leben eine Katalogexistenz. Der Deutsche findet nicht zu ihnen, er identifiziert sich niemals mit ihnen, höchstens, daß er von ihnen abstrahiert; sie müssen ihm plausibel gemacht werden. Trotzdem kann man ihn weder überreden, noch eigentlich überzeugen; er glaubt nur, was zu glauben befohlen ist oder wozu eine Majorität ihn zwingt.

Wohlverstanden: hier wird nicht um Gnade gewinselt. Hier ist nicht einer, der sich als reuiger Sünder gebärdet oder als weißer Rabe. Auch nicht einer, der sich brüsten will mit einer Märtyrerkrone oder mit Erlittenem sich schmücken. Auch nicht einer, der sich losgetrennt hat, hüben und drüben, um sich in prahlerische Einsamkeit zu retten. Auch nicht einer, der mit dem getretenen Stolz, verbissenen Trotz des Zurückgewiesenen Komplotte schmiedet und Konventikel gründet, der plötzlich uraltehrwürdige Zugehörigkeit als neu entdeckt und sich an die klammert, weil ihm die Wahl- und Geisteszugehörigkeit bestritten wird.

Nein. Es geht um Auseinandersetzung. Es geht um Rechenschaft, von hüben und von drüben. Es geht schließlich um die Frage: warum schlagt ihr die Hand, die für euch zeugt?

Quelle:
Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1994, S. 81-86.
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