Zweiter Auftritt

[242] Dr. Goll. Lulu. Die Vorigen.


SCHWARZ. Darf ich vorstellen ...

GOLL zu Schön. Was treiben denn Sie hier?

SCHÖN Lulu die Hand küssend. Frau Medizinalrat.

LULU. Sie wollen doch nicht schon gehen?

GOLL. Welcher Wind führt denn Sie hierher?

SCHÖN. Ich habe mir das Bild meiner Braut angesehen.

LULU nach vorn kommend. Ihre Braut ist hier?

GOLL. Sie lassen hier also auch arbeiten?

LULU vor dem Brustbild. Sieh da! Bezaubernd! Entzückend!

GOLL sich umsehend. Sie halten sie wohl hier irgendwo versteckt?

LULU. Das ist also das süße Wunderkind, das Sie zu einem Menschen gemacht ...[242]

SCHÖN. Sie sitzt meistens am Nachmittag.

GOLL. Und davon erzählen Sie einem nichts?

LULU sich umwendend. Ist sie denn wirklich so ernst?

SCHÖN. Wohl noch die Nachwirkung der Pensionszeit, gnädige Frau.

GOLL vor dem Brustbild. Man sieht, daß Sie eine tiefgehende Wandlung durchgemacht haben.

LULU. Nun dürfen Sie sie aber auch nicht mehr länger warten lassen.

SCHÖN. In vierzehn Tagen denke ich unsere Verlobung bekanntzumachen.

GOLL zu Lulu. Laß uns keine Zeit verlieren. Hopp!

LULU zu Schön. Denken Sie, wir fuhren im Trab über die neue Kaibrücke. Ich habe selber kutschiert.


Schön will sich verabschieden.


GOLL. Nein, nein. Wir beide sprechen nachher weiter. Geh, Nelli. Hopp!

LULU. Jetzt kommt's an mich!

GOLL. Unser Apelles leckt sich schon die Pinsel ab.

LULU. Ich hatte mir das viel amüsanter vorgestellt.

SCHÖN. Sie haben dabei immerhin die Genugtuung, uns den seltensten Genuß zu bereiten.

LULU nach rechts gehend. Na, warten Sie nur.

SCHWARZ vor der Schlafzimmertür. Wenn Frau Obermedizinalrat so freundlich sein wollen. Schließt die Tür hinter ihr und bleibt davor stehen.

GOLL. Ich habe sie in unserm Ehekontrakt nämlich Nelli getauft.

SCHÖN. So? – Ja.

GOLL. Was halten Sie davon?

SCHÖN. Warum nennen Sie sie nicht lieber Mignon?

GOLL. Das wäre auch was. Daran habe ich nicht gedacht.

SCHÖN. Glauben Sie, daß der Name soviel dabei ausmacht?

GOLL. Hm – Sie wissen, ich habe keine Kinder.

SCHÖN sein Zigarettenetui aus der Tasche nehmend. Sie sind doch aber auch erst ein paar Monate verheiratet.

GOLL. Danke. Ich wünsche mir keine.

SCHÖN. Rauchen Sie eine Zigarette?

GOLL sich bedienend. Ich habe an dem einen vollkommen genug. Zu Schwarz. Sagen Sie mal, was macht denn eigentlich Ihre kleine Tänzerin?[243]

SCHÖN sich nach Schwarz umwendend. Sie und eine Tänzerin?

SCHWARZ. Die Dame saß mir damals nur aus Gefälligkeit. Ich kenne die Dame von einem Ausflug des Cäcilienvereins her.

GOLL zu Schön. Hm – ich glaube, wir kriegen anderes Wetter.

SCHÖN. Das geht wohl nicht so rasch mit der Toilette?

GOLL. Das geht wie der Blitz! Die Frau muß Virtuosin in ihrem Fach sein. Das muß jeder von uns in seinem Fach, wenn das Leben nicht zur Bettelei werden soll. Ruft. Hopp, Nelli!

SCHWARZ an der Tür. Frau Obermedizinalrat!

LULU von innen. Gleich, gleich.

GOLL zu Schön. Ich begreife solche Stockfische nicht.

SCHÖN. Ich beneide sie. Diese Stockfische kennen nichts Heiligeres als ihr Hungertuch. Sie fühlen sich reicher als unsereiner mit dreißigtausend Mark Renten. Sie können übrigens nicht über einen Menschen urteilen, der von Kindesbeinen an von der Palette in den Mund gelebt hat. Nehmen Sie es auf sich, ihn zu finanzieren. Es ist ein Rechenexempel. Mir fehlt der moralische Mut. Man verbrennt sich auch leicht die Finger ...

LULU als Pierrot aus dem Schlafzimmer tretend. Da bin ich.

SCHÖN wendet sich um, nach einer Pause. Superb!

LULU tritt näher. Nun?

SCHÖN. Sie beschämen die kühnste Phantasie.

LULU. Wie gefall ich Ihnen?

SCHÖN. Ein Bild, vor dem die Kunst verzweifeln muß.

GOLL. Finden Sie nicht auch?

SCHÖN zu Lulu. Sie wissen doch wohl nicht recht, was Sie tun.

LULU. Ich bin mir meiner vollkommen bewußt!

SCHÖN. Dann dürften Sie etwas besonnener sein.

LULU. Ich tue ja doch nur meine Schuldigkeit.

SCHÖN. Sie sind gepudert?

LULU. Was fällt Ihnen ein!

GOLL. Sie hat eine weiße Haut, wie ich sie noch nirgends gesehen habe. Ich habe unserem Raffael auch gesagt, er möge sich mit dem Fleisch nur ja so wenig wie möglich abgeben. Ich kann mich einmal für die moderne Kleckserei nicht begeistern.

SCHWARZ an den Staffeleien, seine Farben präparierend. Dem[244] Impressionismus dankt es die heutige Kunst jedenfalls, daß sie sich alten Meistern ohne Erröten an die Seite stellen darf.

GOLL. Für ein Stück Schlachtvieh mag sie ja ganz angebracht sein.

SCHÖN. Nur um Gottes willen keine Aufregung!


Lulu fällt Goll um den Hals und küßt ihn.


GOLL. Man sieht dein Negligé. Du mußt es herunterziehen.

LULU. Ich hätte es am liebsten weggelassen. Es geniert nur.

GOLL. Er wäre imstande und malte es hin.

LULU nimmt den Schäferstab, der an der spanischen Wand lehnt, auf das Podium steigend, zu Schön. Was würden Sie jetzt sagen, wenn Sie zwei Stunden Parade stehen müßten?

SCHÖN. Meine Seele verschriebe ich dem Teufel, um mit Ihnen tauschen zu dürfen.

GOLL sich rechts setzend. Kommen Sie hierher. Hier ist nämlich mein Beobachtungsposten.

LULU das linke Beinkleid bis zum Knie hinaufraffend, zu Schwarz. So?

SCHWARZ. Ja ...

LULU es um eine Idee höher raffend. So?

SCHWARZ. Ja, ja ...

GOLL zu Schön, der auf dem Sessel neben ihm Platz genommen hat, mit einer Handbewegung. Ich finde sie nämlich von hier aus noch vorteilhafter.

LULU ohne sich zu rühren. Ich bitte sehr! Ich bin von allen Seiten gleich vorteilhaft.

SCHWARZ zu Lulu. Das rechte Knie weiter vor, bitte.

SCHÖN mit einer Geste. Der Körper zeigt vielleicht feinere Linien ...

SCHWARZ. Die Beleuchtung ist heute zum mindesten halbwegs erträglich.

GOLL. Sie müssen sie flott hinwerfen! Fassen Sie Ihren Pinsel etwas länger!

SCHWARZ. Gewiß, Herr Medizinalrat.

SCHÖN. Behandeln Sie sie als Stilleben!

SCHWARZ. Gewiß, Herr Doktor. Zu Lulu. Sie pflegten den Kopf um eine Idee höher zu halten, Frau Medizinalrat.[245]

LULU den Kopf hebend. Malen Sie mir die Lippen etwas geöffnet.

SCHÖN. Malen Sie Schnee auf Eis. Wenn Sie sich dabei erwärmen, dann wird Ihre Kunst sofort unkünstlerisch.

SCHWARZ. Gewiß, Herr Doktor!

GOLL. Die Kunst, wissen Sie, muß die Natur so wiedergeben, daß man wenigstens geistig dabei genießen kann!

LULU den Mund etwas öffnend, zu Schwarz. So – sehen Sie. So halte ich sie halb geöffnet.

SCHWARZ. Sobald die Sonne kommt, wirft die Mauer von gegenüber warme Reflexe herein.

GOLL zu Lulu. Du mußt dich in deiner Stellung überhaupt so verhalten, als ob unser Velasquez hier gar nicht vorhanden wäre.

LULU. Ein Maler ist doch auch eigentlich gar kein Mann.

SCHÖN. Ich glaube nicht, daß Sie von einer rühmlichen Ausnahme so ohne weiteres auf die ganze Zunft schließen dürfen.

SCHWARZ von der Staffelei zurücktretend. Ich hätte mir im vergangenen Herbst doch lieber ein anderes Atelier mieten müssen.

SCHÖN zu Goll. Was ich fragen wollte – haben Sie die kleine O'Morphi schon als peruanische Perlenfischerin gesehen?

GOLL. Morgen sehe ich sie mir zum viertenmal an. Der Fürst Polossow führte mich hin. Sein Haar ist vor Entzücken schon wieder dunkelblond geworden.

SCHÖN. Sie finden sie also auch so fabelhaft?

GOLL. Wer will das je im voraus beurteilen!

LULU. Ich glaube, es hat geklopft.

SCHWARZ. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.


Geht zur Türe und öffnet.


GOLL. Du darfst ihn getrost etwas unbefangener anlächeln.

SCHÖN. Dem macht das gar nichts.

GOLL. Und wenn! – Wozu sitzen wir beide denn hier![246]


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 242-247.
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