Dritte Szene

[107] Veit Kunz. Franziska.

Veit Kunz ganz in schwarzem Trikot, den Kopf in einer schwarzen Kapuze mit Augenlöchern, huscht im Hintergrund aus den schwarzen Vorhängen und dreht die Schreibtischlampe auf.


VEIT KUNZ. Wir sind allein, min Jung!

FRANZISKA aus der Seitenwand tretend. Bedenkst du denn gar nicht, daß wir für den ungeheuerlichen Unfug, den wir hier treiben, auf zehn Jahre ins Gefängnis kommen können?

VEIT KUNZ zieht die Kapuze vom Kopf und wirft sich in einen Sessel. Fürs Gefängnis sind wir beide doch längst reif.

FRANZISKA. Du sicherlich! Ich doch nicht!

VEIT KUNZ. Hast du dich etwa nicht gegen das Gesetz vergangen, um deine Mitwirkung bei diesem Gastspiel zu ermöglichen?[107]

FRANZISKA. Ich habe geturnt, ich habe geschwommen, ich bin geritten, ich habe Tararabumdieh getanzt. Einem jungen Mädchen wird das doch wohl erlaubt sein! Aber hast du gehört, daß meine Brüder zu Hause ein Entmündigungsverfahren gegen mich eingeleitet haben? Sie wollen mich für unzurechnungsfähig erklären und mich unter Vormundschaft stellen lassen.

VEIT KUNZ. Was kümmert uns das! Deine Kapitalien sind vor allen Gerichten der Welt in Sicherheit. Aber hast du gehört, daß dein früherer Geliebter, der Dr. Hofmiller, am Matterhorn tödlich verunglückt ist?

FRANZISKA. Warum erzählst du mir das?

VEIT KUNZ. Warum erzählst du mir die Eseleien deiner Brüder? – Wir stehen hier im Mittelpunkt einer europäischen Staatsaktion und du versinkst in gefühlvolle Träumereien!

FRANZISKA. Ist das ein Wunder, wenn ich längst nicht mehr weiß, worauf du mit mir ausgehst?

VEIT KUNZ. Nach unserer Vereinbarung bist du heute übers Jahr meine Leibeigene. Dazu hätten wir gar keinen Vertrag zu schließen brauchen, da dir das Naturgesetz[108] ohnehin keine andere Wahl frei läßt. Heute bin ich aber noch dein Knecht, der dir jeden Wunsch erfüllt. Diese Stellung benutze ich, um dir die besten Gelegenheiten zur möglichst ausgiebigen, möglichst vollkommenen, möglichst vielseitigen Entwicklung all deiner Veranlagungen, all deiner Begabungen zu verschaffen. Ich wünsche in dir eine Leibeigene zu bekommen, der nichts Menschenmögliches unbekannt geblieben ist.

FRANZISKA. Worin erblickst du denn meine Begabungen?

VEIT KUNZ. In deiner Wollust, in deiner Herrschsucht, in deiner Leichtlebigkeit, in deiner Spielwut, in deiner Vergnügungssucht und, um das Herrlichste nicht zu vergessen, in deiner maßlosen Eitelkeit.

FRANZISKA. Auf meine Treulosigkeit scheinst du keinen besonderen Wert zu legen?

VEIT KUNZ. Genau so wenig wie auf deine Dankbarkeit. Deine Treue laß getrost meine Sache sein. Was haben Liebe und Treue mit Veranlagung zu tun? Sie sind euer Geschäft. Ich vertraue einfach darauf, daß du zu klug bist, um schlechte Geschäfte zu machen.

FRANZISKA. Sehr einfach! Und worauf soll ich vertrauen?[109]

VEIT KUNZ. Auf meine ungeheure Erfahrung! Darauf, daß es ein Prachtgeschöpf wie du und einen so wählerischen Menschenkenner wie ich nicht noch einmal auf dieser Welt gibt! – Offenbar fürchtest du wieder einmal, ich könnte Schindluder mit dir treiben?

FRANZISKA. Ich und fürchten? Sie lacht. In dem Augenblick, wo du Schindluder mit mir treibst, spiele ich dir einen Schabernack!

VEIT KUNZ. Tu das!

FRANZISKA. Fürchtest du denn aber gar nicht, daß sich dein Herzog in mich verliebt?

VEIT KUNZ. Ich und fürchten? Diesen Herzog? Er lacht. Beiderseitige Enttäuschung und ich bin eine alberne Gans los, die meiner nicht würdig war! – Für den Herzog kommst du als Weib gar nicht in Frage. Der Herzog liebt Weiber, die geistig mit seinen Pferden und Hunden auf gleicher Stufe stehen!

FRANZISKA. Wenn er mich aber für ein überirdisches Wesen hält?

VEIT KUNZ. Das tut er und davon ist er nicht abzubringen![110] Dem Herzog fehlt jede Entwicklungsmöglichkeit. Genau so, wie es auch den armseligen Straßenmädchen an nichts anderem fehlt. Hundert Männer lernen sie kennen, ohne mit einem die Verkettung der Lebensbedürfnisse zu finden, die das Weib ganz von selbst zur Treue zwingt.

FRANZISKA. Ich glaube, daß es meinem Vater im Grunde auch nur an Entwicklungsmöglichkeit fehlte.

VEIT KUNZ. Läßt dir dein Vater immer noch keine Ruhe?

FRANZISKA. Weil ich ihm unrecht getan habe! – Als ich das letztemal zu Hause war, bedrückten mich die Gewissensbisse so entsetzlich, daß ich eines Nachts die Stirn auf die Stufen der Schloßtreppe schlug und schrie, als lebte ich meine ganze Kindheit noch einmal durch.

VEIT KUNZ. Habe ich darüber nicht einmal ein Gedicht von dir gehört, das dir noch zu Lebzeiten deines Vaters einfiel?

FRANZISKA. Das Gebet eines Kindes?

VEIT KUNZ. Wie ging das Gedicht?[111]

FRANZISKA hinter dem Schreibtisch sitzend, die Arme auf den Tisch gestützt.

O heilige Nacht! Aus Kampfgebraus

Fleh' ich mit gläubiger Gebärde

Zu dir, daß uns geholfen werde.


Gieß deinen milden Segen aus,

Und sieh, es würde dieses Haus,

Zum schönsten Paradies der Erde!


VEIT KUNZ. Das Gedicht versetze ich dem Herzog!


Quelle:
Wedekind, Frank: Franziska. Ein modernes Mysterium in fünf Akten, München 1912, S. 107-112.
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