8. Bild

Achtes Bild


[132] Ankleideraum im Theater der Fünftausend. Franziska in dorischem Chiton, Sandalen an den Füßen. Ralf Breitenbach als jugendlicher Simson.


FRANZISKA. Mir vergingen die Sinne.

BREITENBACH. Schwatz' nicht!

FRANZISKA. Aber zurückdenken.

BREITENBACH. Quatsch!

FRANZISKA. Das erstemal, daß mir vollständig die Sinne schwanden.

BREITENBACH. Schnabel halten!

FRANZISKA. Nur fühlen.

BREITENBACH. Fühlen? – Ich sehe und höre nichts.[133]

FRANZISKA. Das Denken hört auf.

BREITENBACH. Denken? – Ich bin ein Tier.

FRANZISKA. War ich auch. – Möchte es bleiben.

BREITENBACH. Schnabel halten!

FRANZISKA. Geliebter!

BREITENBACH. Quatsch!

FRANZISKA. Was sagte ich denn?

BREITENBACH. Was weiß ich!

FRANZISKA. »Mach' mich tot. Ich sterbe.«

BREITENBACH. Das höre ich täglich.

FRANZISKA. Deshalb gehöre ich dir!

BREITENBACH. Aber ohne Erläuterungen!

FRANZISKA. Geliebter![134]

BREITENBACH. Wozu spiele ich den Simson:

Mich, der ich dir zu Ehren dreißig Mann

In einer Nacht zu Askalon erschlagen,

Mich, deinen Richter aus dem Stamme Dan,

Mich willst du schmachvoll zu verleugnen wagen?!

FRANZISKA fällt ihm um den Hals und küßt ihn ab. Je mehr Weiber du hast, desto inbrünstiger liebe ich dich!

BREITENBACH. Möchte nur wissen, wozu Helena auch noch in der Unterwelt so leichtgeschürzt herumzustrolchen braucht! Ich ertrage das einfach nicht. Ich gehe aus den Fugen. Ich gerate außer Rand und Band. Ich werde gemeingefährlich!

FRANZISKA. Um so wonniger für mich. – Ich bin so gekleidet, weil Helena als ganz junges Mädchen in der Unterwelt weilt, so wie sie einst von Perseus zu ihrem ersten Abenteuer nach Athen verschleppt wurde.

BREITENBACH. Jetzt geht mir ein Licht auf! Seit drei Wochen frage ich mich schon, was der Perseus eigentlich mit dieser Höllenfahrt zu tun hat.[135]

FRANZISKA. Sobald Helenas spätere Schandtaten in Betracht kommen, wechsle ich doch auch das Kostüm.

BREITENBACH. Jedenfalls haben wir uns nichts vorzuwerfen. Warum läßt er dich mit mir allein! Das ist nichts als unverschämte Prahlerei von ihm! In diesem Augenblick hat er draußen nicht das geringste zu suchen.

FRANZISKA. Vielleicht hat ihn jemand um sein Autogramm gebeten.

BREITENBACH. Wir spielen hier ganz einfach »Gyges und sein Ring oder wenn schon, denn schon«! Du bist die Rhodope. Welcher anständige Krieger läßt sich denn von Seinesgleichen zur Parade befehlen, ohne daß er eine Schlacht liefern darf!

FRANZISKA. So weit hätte ich mich jedenfalls nicht entwickeln sollen!

BREITENBACH. Entwickeln? Was heißt das?

FRANZISKA. Ich sollte mich nach allen Richtungen möglichst weitgehend entwickeln, damit er um so mehr Anregung in mir findet. Sicherlich empfand er deine künstlerische Mitwirkung auch als Anregung.[136]

BREITENBACH. Anregung! – Gesunde Menschen danken ihrem Schöpfer, wenn sie von ihren Trieben nicht blindlings über den Haufen gerannt werden!


Veit Kunz im Büßerhemd, einen Strick um die Lenden, tritt hastig ein.


VEIT KUNZ. Du bist noch nicht umgekleidet, Franziska?! Die Pause ist gleich zu Ende!

BREITENBACH. Unsinn! Wir haben noch zwanzig Minuten Zeit. – Vergessen Sie nur nicht, gnädiges Fräulein, Ihr Haar in Ordnung zu bringen.

FRANZISKA. Ich danke Ihnen. Sie tritt hinter einen Wandschirm.

VEIT KUNZ. Ich wurde da draußen ganz unversehens von einem Manager festgehalten. Der Mann hat ein unermüdliches Maulwerk. Wenn ich ihn recht verstand, will er ein eigenes Festspielhaus für meine Mysterien bauen.

BREITENBACH. Ist es nicht eine geradezu übermenschliche Anstrengung für Sie, verehrter Meister, Ihre Haut zu gleicher Zeit als Dramatiker und als Darsteller zu Markte zu tragen?[137]

VEIT KUNZ. Wenn das das schlimmste wäre! – Hatten Sie heute Beifall bei den Worten:

Du Satan, hieltst uns niemals hier gefangen,

Hättst du mit meinem Kalbe nicht gepflügt ...?

BREITENBACH.

..., dem unlösbaren Rätsel! Aufgegangen

Ist die Erleuchtung mir! Du bist besiegt!

Es hat jemand geklatscht. – Ich weiß nicht, verehrter Meister, ob ich Ihnen zu Dank spiele, wenn ich meinen Simson:


Er legt Veit Kunz die Hand auf die Schulter.


Den Kinnbacken vom Esel in der Hand,

Mit dem um tausend Mann ich sie geschoren! –

... wenn ich ihn als einen Gauner auffasse, der seine Stammesgenossen Adam, Noah und die drei Erzväter verächtlich über die Achsel ansieht, während er sich von Perseus, Helena und Sokrates ruhig mit der größten Geringschätzung behandeln läßt:

O Helena, aus keiner Unterwelt

Läßt Simson je sich ohne dich erlösen!

VEIT KUNZ. Sie tun mir einen außerordentlichen Gefallen damit, mein lieber Breitenbach. Mir kam es natürlich nur darauf an, bevor die Gottheit über Satan triumphiert, das stumpfsinnig spießbürgerliche Alltagstreiben[138] zu schildern, in dem sich die Bewohner der Hölle seit Jahrhunderten mit ihren Qualen zurechtgefunden haben.

BREITENBACH. Genau so, verehrter Meister, war meine Auffassung:

Wer will mit einem besseren Los mich äffen,


Mit einem Blicke nach Franziska.


Dreht' ich die Mühle doch in Gaza schon!

VEIT KUNZ. In dem Augenblick, wo die Gottheit dann ihr Wunder verrichtet und mit einem Schlage in der ganzen Hölle die seit Jahrhunderten erduldeten Leiden aufhören, in dem Augenblick. ... ich weiß nicht, ob das heute richtig zur Geltung kam?

BREITENBACH beistimmend, Veit Kunz auf die Schulter klopfend. Satanas ist schon aufs tiefste gedemütigt. Mit hilflosem Staunen erwartet er, was aus seiner geliebten Hölle werden soll ...

VEIT KUNZ. Da ... verzeihen Sie, ich weiß nicht mehr recht, was ich sagen wollte.

BREITENBACH. Da sinkt alles umher mit betäubendem Jubelgeschrei in die Knie und will zu Licht und Seligkeit hinaufgeführt werden. Der ganze Orkus eine Rebellion:[139]

Weltüberwinder, lenk' uns himmelan!

Weltopfer, sei gepriesen! Ewige Zeiten

Beglückt uns, was die Welt dir Leids getan!

Das war heure abend wieder ein Eindruck beim Publikum:

Laß uns hinfort in deinen Spuren schreiten!

Solang ich beim Theater bin, habe ich nie etwas Ähnliches miterlebt!

VEIT KUNZ. Mir fällt der Anfang des ersten Bildes immer am schwersten.

BREITENBACH. Ich begreife. Ihre Überfahrt mit Charon, dem sie die ganze Vorgeschichte zu erzählen haben!

VEIT KUNZ. Noch mehr strengt mich freilich der diplomatische Notenwechsel mit Cerberus an. Ich frage mich immer wieder, ob ich die Szene nicht im Interesse der Gesamtwirkung kürzen soll.

BREITENBACH. Jedenfalls rechne ich es mir geradezu als eine Art von Lebensglück an, daß ich einmal Gelegenheit fand, an einem Ihrer Prachtwerke mitzuarbeiten.


William Fahrstuhl, Notizbuch und Bleistift in der Hand, tritt hastig ein.[140]


FAHRSTUHL. Verzeihung, verehrter Meister! Aber ich muß zwei Fragen an Sie richten, bevor ich meine Besprechung über die heutige Aufführung an meine Zeitung abschicke. Jetzt begreife ich ja erst, warum die Geistlichkeit einen so erbitterten Kampf gegen Sie führt.

VEIT KUNZ. Lassen Sie mir bitte die Geistlichkeit in Frieden! Kein Geistlicher ist je so abergläubisch wie jeder gebildete Freidenker!

FAHRSTUHL. Nochmal, bitte. Schreibend. Kein Geistlicher ist je so abergläubisch wie jeder gebildete Freidenker. – Das druckt meine Zeitung, obschon es von Ihnen ist. Schlimmstenfalls schreibt sie, es sei von Nietzsche. Aber nun die Idee unseres Mysteriums. Verzeihung, verehrter Meister! Ich bin so hingerissen, daß ich von den beiden ersten Akten nicht das geringste begriffen habe.

VEIT KUNZ. Schreiben Sie Ihrer Zeitung: Die Gottheit verbringt einen Abend, einen Tag und einen Morgen in der Unterwelt, um die Geisteshelden der Vergangenheit von dem ihnen drohenden Fluch des Totgeschwiegenwerdens zu befreien.

FAHRSTUHL. Verzeihung! Totgeschwiegenwerden druckt meine Zeitung nicht. Dazu muß sie einerseits zuviel Rücksicht[141] nehmen – Sie wissen ja, wie das ist! – und anderseits ist sie zu unabhängig dazu. Ließe sich nicht ein milderes Wort dafür finden?

VEIT KUNZ. Da nennen Sie's den Fluch des Verkanntwerdens oder Invergessenheitgeratens.

BREITENBACH. Gestatten Sie, verehrter Meister, daß ich dem Herrn William Fahrstuhl über die weiteren Hindernisse hinweghelfe. Zu Fahrstuhl. Unter den Geisteshelden der Vergangenheit, lieber Herr Fahrstuhl, befindet sich unter anderen auch Simson. Den spiele ich, wie Sie vielleicht bemerkt haben:

Herr, gib mir nur dies eine Mal noch Kraft,

Daß ich mit einem Schlag für meine armen

Augen an den Philistern Rache nehme!

Der Besieger der Hölle sucht sich nun seine Leute aus, gerät dabei in ein tief religiöses Gespräch mit Sokrates, aber Simson gegenüber, der sich mit Perseus fortgesetzt um Helena katzbalgt:

Nicht dir allein lacht dieses Weibes Gunst!

... Simson gegenüber zweifelt er noch, ob er ihn in sein himmlisches Reich mitnehmen soll. Damit schließt der zweite Akt. Der erste, wie Ihnen viel leicht noch in Erinnerung ist, fand sein Ende in der ersten Begegnung zwischen der erlösenden Gottheit und dem Beherrscher der Unterwelt.[142]

FAHRSTUHL. Danke sehr! Ich lege mir Ihre ganze Höllenfahrt bei mir zu Hause schon so zurecht, daß sie sich für meine Zeitung eignet.


Franziska, reich geschmückt, in hellrotem Übergewand, tritt hinter dem Wandschirm vor.


FAHRSTUHL. Sieh da! Helena! Ich habe noch keinen Schauspieler um seinen Beruf beneidet. Der Mann lernt auswendig und erzählt's dem Publikum weiter. Aber Schauspielerin! Die Unmenge Einladungen zum Abendessen und was damit zusammenhängt! Meinen Vater schlüg' ich tot, wenn es mir dadurch möglich würde, Schauspielerin zu werden!

BREITENBACH. Der Künstler, wissen Sie, hat überhaupt keinen Beruf, wie der Arzt oder der Fabrikbesitzer. Der Künstler, Maler, Musiker, sei er, was er sei, sucht sich nur mit möglichst geringem Kostenaufwand einen möglichst ausgiebigen Lebensgenuß zu verschaffen.

FRANZISKA. Immer gelingt es ja auch nicht. Ich kenne ein Mädchen, das Malerin werden wollte, aber keine Begabung dazu hatte. Darauf wollte es Bildhauerin werden, hatte aber auch dazu keine Begabung. Darauf wollte es Tänzerin werden, hatte aber auch dazu keine Begabung. Schließlich wurde es Schneiderin.[143]

FAHRSTUHL. Ist das nicht großartig, wie viele Entwicklungsmöglichkeiten einem jungen Mädchen in unserer Zeit offenstehen?!

VEIT KUNZ. Vor fünfhundert Jahren hätte man sie längst als Hexe verbrannt gehabt, bevor sie bei der Schneiderin angelangt gewesen wäre.

FRANZISKA. Bist du verstimmt?

VEIT KUNZ. Im Gegenteil! Es fiel mir nur eben ein Gleichnis dafür ein, worin denn eigentlich die Bedeutung aller Kunst besteht.

BREITENBACH. Nun, verehrter Meister? Ich bin aufs äußerste gespannt!

FAHRSTUHL. Einen Augenblick! In seinem Notizbuch blätternd. Dazu brauche ich eine neue Seite. Meine Zeitung druckt ein Feuilleton darüber.

VEIT KUNZ. Kunst ist der Spiegel, in dem der Mensch seine Lebensfreude betrachtet. Denn solange ihm das Leben nur Unannehmlichkeiten bringt, hat er keine Zeit und keine Lust, in den Spiegel zu sehen.[144]

FAHRSTUHL schreibend. Das stimmt. Davon kann ich ein Liedchen singen.

FRANZISKA. Und weiter?

VEIT KUNZ. Nun wirkt aber der Spiegel belebend und anregend auf den zurück, der sich darin spiegelt, da der Glückliche nicht nur die Freude, die er selber empfindet, sondern obendrein auch den Anblick des Spiegelbildes seiner Freude genießt. Dadurch wird nun aber auch das Spiegelbild wieder um ebensoviel belebter und angeregter. Und so feuern und spornen sich die beiden, Mensch und Spiegelbild, gegenseitig zu immer wilderem Genießen an, bis ...

BREITENBACH. Bis der Mensch seinem eigenen Spiegelbild ins Gesicht speien möchte.

FRANZISKA. Oder bis er vor seinem Spiegelbild behaglich einschläft.

FAHRSTUHL. Oder bis die hohe Obrigkeit kommt und den Spiegel in tausend Scherben schlägt! Punktum! Schluß! Meine Zeitung bezahlt mir drei Pfennige mehr für die Zeile. Aber was ist das für ein dumpfes Donnergepolter? Das tönt ja, weiß Gott, wie wenn im Herbst die Kartoffeln in den Keller hinunterkollern.[145]

FRANZISKA. Das ist der Chor der Schatten. Da jeden Abend einige Neulinge dabei sind, muß der Chor vor Beginn des Spieles immer noch einmal besonders eingeübt werden.


Ein Regisseur, einen Taktstock schwingend, tritt rückwärts schreitend von der einen Seite auf. Ihm folgt ein Zug in graue Schleier gehüllter Mädchen.

Der Zug bewegt sich langsam quer durch den Raum und geht nach der entgegengesetzten Seite ab.


REGISSEUR. Links, zwei, drei! Rechts, zwei, drei! Links, zwei, drei! Rechts!

DIE MÄDCHEN singen.

Unter regenschweren Weiden,

Von schaurigem Nebel umwallt,

Ohne Taten, ohne Freuden,

Von Kindheit auf müd und alt,

Soweit das Erinnern streift,

Der Menschheit fremd,

Rasch verbraucht, nie gereift,

Zwischen Pflicht und Not geklemmt,

Abgesperrt vom berauschenden Licht,

In der eignen Finsternis blind –

Das glückliche Weltall darf uns nicht

Schauen, wie wir sind.

Erst halb verhüllt, dann ganz verhüllt,[146]

Schleichen wir bang einher.

Kindheitshoffen blieb unerfüllt,

Kopf und Brust sind leer.

Durch Schmeicheln gewonnen,

Umwedelt, getäuscht.

Und eh' wir entronnen,

Schon sind wir zerfleischt.

Denn der Herr mit dem finstern Blick,

Grimmerfüllt, von wildem Gebaren,

Ungelenkig, mit wirren Haaren,

Gibt uns nicht mehr der Welt zurück. –

Oder dann aufs Blut gequält,

Mit bellendem Magen,

Weil Trank und Speise fehlt,

Selbst unsere Mörder erjagen? –

Ohn' ein Wissen, von wo wir kamen,

Ohn' ein Ahnen, wohin's uns treibt,

Ohne Sprache und ohne Namen.

Sag' ein Gott, wo ein Ausweg bleibt!

Ewig schreckt uns des Hades Flut

Durch Zähneklappen und Stöhnen. –

Aber trinken wir einmal Blut,

Dann sind wir die mächtigen Schönen!


Lauter.


Aber trinken wir einmal Blut,

Dann sind wir die mächtigen Schönen![147]

FAHRSTUHL. Jammerschade, verehrter Meister, daß man von den Reizen der mitwirkenden Damen so blutwenig zu sehen bekommt. Sie müßten das notwendig ändern!

VEIT KUNZ. Wenn es dir recht ist, Franziska, dann sprechen wir, bevor der Vorhang aufgeht, rasch unsern großen Dialog noch einmal durch.

FRANZISKA. Mit Vergnügen, wenn du es für nötig hältst.


Sie stellen sich einander gegenüber.


VEIT KUNZ. Wir beginnen an der Stelle, wo im Publikum regelmäßig der sarkastische Widerspruch einsetzt.

FRANZISKA. Mir ist jede Stelle recht.

VEIT KUNZ.

Ich muß die Macht für größeres mir bewahren.

Doch steigt herab und hebt zum Himmel dich

Vielleicht ein Andrer in zweitausend Jahren.

FRANZISKA.

Weißt du, daß mein Geschick dem deinen glich,

Daß wir, obwohl getrennt durch Ewigkeiten,

Denselben Weg genommen, du und ich?[148]

VEIT KUNZ.

Um eitles Nichts laß uns nicht länger streiten:

Mir fehlt der Wunsch, dir fehlt für mich der Glaube.

Ich kann die Heidin nicht zum Licht geleiten!

FRANZISKA.

Der Schwan ein Greuel, ein Idol die Taube!

Tyndareos, meiner Mutter Gatte, hört

Kein Lob aus dem ihm abgezwungenen Raube.

VEIT KUNZ.

Wenn ein Erschüttern durch das Weltall fährt,

Und sich der Held bekennt als größten Sünder,

Dann ist verloren, wer auf dich noch schwört!

FRANZISKA.

Zehn Jahr alt waren wir als Wunderkinder

Umschwärmt, ich in Athen, auf Zion du! –

Besiegt fleh' ich zu meinem Überwinder.

VEIT KUNZ.

Was gelt' ich dir in deiner üpp'gen Ruh'?! –

Wie ich aus diesem Dasein mich entferne,

Trägt in der Welt sich nicht noch einmal zu.

FRANZISKA.

Ich ward gehenkt und dann unter die Sterne

Versetzt. Laß mich des Heils teilhaftig sein,

Daß ich bei euch mich zu verleugnen lerne![149]

VEIT KUNZ.

Leg' der Verführung gleißnerischen Schein

Erst ab! Begnüg' dich ruhmlos mit Gebären!

Du bist der Hölle Helferin allein!

FRANZISKA.

Erhöht entring' ich mich den dunklen Sphären.

Darf ich erst fesselfrei im Lichte weilen,

Wird sich mein Bild so rasch wie deines klären.

VEIT KUNZ.

Weh dir! Schon seh' ich düstre Flammensäulen!

Jahrhundertlang der Abergläubigen Beute,

Wirst schuldlos du gemartert kreischen, heulen!

FRANZISKA.

Dann aber führt durch unbegrenzte Weite

Gemeinsam uns der Weg vor Gottes Thron.

Dann wandle ich gleichberechtigt dir zur Seite.

VEIT KUNZ.

Doch nicht, eh' zwei Jahrtausend noch entflohn!

Sehr gut! Ausgezeichnet! Nur würde ich die Worte: »Dann wandle ich gleichberechtigt dir zu Seite« mit etwas mehr innerer Wärme sprechen.

BREITENBACH. Ganz meine Ansicht. Sie müßten etwas mehr Seelenglut hineinlegen. Übertreibend, zwischen Veit Kunz und Franziska tretend.

»Dann wandle ich gleichberechtigt dir zur Seite!«[150]

FRANZISKA wird von einem heftigen Lachkrampf geschüttelt.

VEIT KUNZ. Da geschah etwas!

BREITENBACH. Finden Sie nicht, verehrter Meister, daß sich das Gelächter ganz vorzüglich für diese Stelle eignet?

VEIT KUNZ. Was heißt das, Franziska?!

FRANZISKA beginnt sich lachend in wildem Tanze zu drehen.

VEIT KUNZ schreit entsetzt. Ich will Wahrheit!


Franziska stürzt lachend und tanzend hinaus. Veit Kunz folgt ihr.


FAHRSTUHL zu Breitenbach. Erzählen Sie mir jetzt bitte noch rasch den Inhalt des letzten Aktes, sonst wird meine Besprechung vor Mitternacht nicht mehr fertig!

BREITENBACH sehr ruhig. So geistreich ist doch unser Mysterium nicht, daß Sie sich das nicht selber zusammenreimen könnten! Im dritten Akt erkläre ich, Simson, daß ich ohne Helena die Unterwelt unter keinen Umständenverlasse:[151]

Aus keiner Höllenqual, o Helena,

Läßt Simson je sich ohne dich befreien!

FAHRSTUHL schreibend. Weiter! Weiter! Die Minuten sind kostbar! Was geschieht weiter?

BREITENBACH. Dann legt sich Sokrates ins Mittel und beweist mir, Simson, daß sich mir die Gelegenheit, von all meiner Sündenstrafe loszukommen, nicht so leicht wieder bietet. Ich gebe Helena den Abschiedskuß, ich empfehle sie der freundlichen Obhut meines Höllenfreundes Perseus und dann folgen wir einträchtiglich, Adam, Noah, die drei Erzväter, ich im Verein mit Sokrates, Platon und Aristoteles unserm Befreier in ein schöneres Dasein.


Lautes Geschrei hinter der Szene.


FAHRSTUHL. Das ist zum Verzweifeln, daß man sich hier nicht einmal in Ruhe seinen Zeitungsartikel diktieren lassen kann!


Franziska tanzt in wildem Taumel mit den Mädchen des Chores herein. Alle drehen sich unter Dudelsacksklängen mit fliegenden Haaren, wie von

Wahnsinn erfaßt, um sich selber. Sie sind mit Tierfellen umgürtet, mit Efeu und Blumen bekränzt[152] und schwingen Thyrsosstäbe und Schellentrommeln in den Händen. – Veit Kunz folgt ihnen, ruhig beobachtend, und stellt sich im Proszenium so, daß er Breitenbach gegenübersteht.


FAHRSTUHL in heller Verzückung. Da kommen die Weiber wieder! Und gänzlich verändert! Es wird einem ganz übernatürlich zumute!

DIE MÄDCHEN singen.

Blut haben wir getrunken,

Uns dürstet nach Blut.

Entfacht sind die Funken.

Die peitschende Glut

Jagt über alle Schranken

Uns blitzschnell hinaus.

Die Berggipfel wanken,

Zertrümmern das Haus.


Jauchzt auf durch die Täler!

Klagt durch den dunklen Wald!

Wir haben unsern Quäler

In finsterm Hinterhalt

Lebendig zerrissen

In unersättlicher Wut.

Als wir ihn totgebissen,

Sprangen wir in die Flut.[153]


Da kühlten uns die Glieder

Die Wasser wundersam.

Nun tanzen wir wieder

Und lachen aller Scham.

Zu dulden, zu dienen,

Des wird kein Weib mehr froh.

Die Herrscherin ist erschienen,

Wir herrschen ebenso.


Warum tanzten und sangen

Wir nicht seit Anbeginn!

Wenn wir die Gerte schwangen,

Welch köstlicher Gewinn!

Uns Tieren, ins Joch gebogen,

Der Menschheit angetraut,

Uns bleibt der Mensch noch gewogen,

Auch wenn ihm vor uns graut!


Die Mädchen tanzen unermüdlich weiter.


DER REGISSEUR kommt eilig nach vorn und ruft. Ruhe! Ruhe! Ruhe! – Zu Veit Kunz. Die Ludersch lassen sich einfach nicht bändigen!

FAHRSTUHL zu Veit Kunz. Das ist der reine heilige Sankt Veitstanz! Zum Regisseur. Gehören denn diese Menaden nicht mit zu unserem Mysterium?[154]

REGISSEUR. Fällt ihnen gar nicht ein! Ich begreife nicht, wo sie den Tanz her haben!

FAHRSTUHL triumphierend. Tanzwut ausgebrochen! Nymphomanie! Flagellantismus! Er ruft. Ärzte! Rettungsgesellschaft! Feuerwehr!

FRANZISKA sinkt Breitenbach an die Brust und küßt ihn.

Deiner Küsse, holder Buhle,

Bin ich lange noch nicht müd.

Lehr' mich du in strengster Schule,

Wie der Körper Funken sprüht. –

Dort ist ein Prophet zu sehen,

Der sich meiner sicher fühlt.

Hab' ihm drum im Handumdrehen

Einen Schabernack gespielt.


Franziska tanzt mit Breitenbach hinaus. Alle übrigen folgen bis auf Veit Kunz.


VEIT KUNZ allein.

Aus! Hin! Verloren! Mein Geschöpf! Warum

War's mein? Gab ich ihr mehr, als sie mir gab?

Ich hohler Kahlkopf baute dreist und dumm

Auf ein Gesetz, das Menscheneigentum[155]

Durch Opferfreudigkeit aus Menschen macht!

Besitz an Menschen! Wie vernichtend hab'

Den Torenwahn ich tausendmal verlacht!

Doch durch Selbstlosigkeit ... Veit Kunz! Au weh!

Selbstlosigkeit heißt: vier mal vier gleich zwei

Bei dir und andern Narren. Ich versteh'

Mein Einmaleins genau. Ich schreie laut:

Zwei sind's, nur ist ein Stärkerer jetzt dabei!

Da steckt der Rechenfehler. Und man baut

Mir ein Theater noch dafür! Tragödien,

Komödien, endlos wiederholt, entschädigen

Mich Jammerhelden nie. O grimmer Fluch!

Ein halb Jahrhundert alt und nichts, was mein

In Gottes Schöpfung! Vorher schrie entsetzlich

Vor Armut ich! Jetzt gilt's nur den Versuch

Noch mit dem Strick!


Er reißt sich den Strick vom Leib.


Schnür' mir die Kehle zu

Enger als Höllenschmerz! Der Strick wird plötzlich

Die klarste Lösung des Mysteriums sein!


Er hat sich den Strick als Schlinge umgelegt.


Die Schlinge zu, dann hast du endlich Ruh'!


Er zieht kräftig zu und gleitet bewußtlos zu Boden. – Nach einer Pause, röchelnd.


Entwicklung! – Heilige Zuversicht! – Die Schlinge

An meinem Hals! – o Spott! – entwickelt sich.[156]

Dann wohl auch ich! Fast scheint mir, ich bezwinge

Den Höllenschmerz, ich überlebe mich.

Zermalmend siegt das Weiterleidenwollen.

Sie hätt' so weit sich nicht entwickeln sollen!

Ganz nah daran. Dann halt. Je mehr gefährdet

Schien sie ein um so köstlicheres Gut.

Fluch meinem Spiel! Dem Stolz! Dem Übermut!

Als welch ein Maulheld hab' ich mich gebärdet:

Versicherungsbeamter, Sklavenhalter,

Gesangsmagister, Kuppler, Diplomat,

Hanswurst, Schriftsteller, Schauspielakrobat,

Marktschreier, Bräutigam noch in meinem Alter,

Erpresser, Heiratsschwindler, Bauernfänger,

Revolverjournalist und Bänkelsänger,

Um jetzt im Überschwang von Hochgefühlen

Als dümmster Narr den lieben Gott zu spielen!

Nicht Unglück, Ekel nur, mit Haß gepaart,

Kann mich, der unzerbrechlich schien, zerstückeln.

Mag sich die Welt, so schön sie will, entwickeln!

Ich schließe ab mit dieser Höllenfahrt!


Er zieht die Schlinge noch einmal kräftig zu und sinkt ruckweise zusammen. Pause. Freiherr von Hohenkemnath, auf den Arm eines Livreebedienten gestützt, einen Krückstock in der Rechten, tritt ein.


HOHENKEMNATH.

Da ist sie nicht! – Da ist überhaupt kein Mensch! –

Sonderbar! – Wo führen Sie mich denn hin? –[157]

Veit Kunz bemerkend. Da – da liegt etwas. Bemüht sich zu einem Sessel. Lassen Sie mich hier nieder sitzen und sehen Sie erst einmal nach, was da liegt.

DER DIENER Veit Kunz betastend. Der ist tot.

HOHENKEMNATH. Warum nicht gar! So liegt kein Toter. Schauen Sie nur etwas genauer nach.

DER DIENER Veit Kunz rüttelnd. Nein, Exzellenz, mit dem ist es aus. Einen Strick hat er um den Hals.

HOHENKEMNATH. So, so. – Dann – dann schneiden Sie den Strick durch. Rückt mit dem Stuhl näher und reicht dem Diener sein Taschenmesser. Hier haben Sie ein Messer. Vielleicht geht es am besten mit dem Sektöffner. Veit Kunz betrachtend. Ist das nicht? – Das ist doch der Darsteller, der die Hauptrolle agiert. Der nimmt seine Rollen aber ernst!

DER DIENER hat den Strick durchschnitten. Es ist wahr, Exzellenz. Der lebt noch.

HOHENKEMNATH. Da haben wir glücklich noch einem das Leben gerettet.[158]

VEIT KUNZ öffnet die Augen und blickt wirr umher. Zu Hohenkemnath. Wer sind Sie?

HOHENKEMNATH. Ich bin der Baron Hohenkemnath. Ich komme in den Zirkus, um die kleine Eberhardt noch einmal zu begrüßen. Zum Diener. Füllen Sie eine Schale mit Wasser und kühlen Sie dem Herrn die Schläfen.

VEIT KUNZ sich halb aufrichtend. Verzeihen Sie, Herr Baron, meine Formlosigkeit. Ich habe sehr viel von Ihnen erzählen hören.

HOHENKEMNATH. Ja, ja, ich habe das Mädel gekannt. Ist sie nicht hier? Ich wollte ihr noch einmal in die Augen sehen.

VEIT KUNZ den Strick in der Hand, schreit auf. Wer zerschnitt den Strick?!

HOHENKEMNATH. Seien Sie froh, Sie junger Mann! Das Sterben überlassen Sie mir. Ich fahre heute noch ins Sanatorium. Deshalb eben. Zum Diener, der mit einer Schale Wasser ankommt. Helfen Sie dem Herrn auf einen Sessel.

VEIT KUNZ sich setzend. Sie waren ihr erster Freund?[159]

HOHENKEMNATH. Also ihretwegen! – So! – Ich verstehe es. – Aber wozu?

VEIT KUNZ. Sobald ich sie aus den Krallen des Wahnsinns befreit hatte! Auf der Treppe ihres väterlichen Schlosses!

HOHENKEMNATH. Ein edles Menschenkind! Da Veit Kunz von Schluchzen geschüttelt wird. Verzeihung! Ich begreife Sie – beneide Sie –

VEIT KUNZ. Mich? – Um was?

HOHENKEMNATH. Ich war schon reichlich alt, als wir uns kennen lernten, in der Sommerfrische in einem Alpendorf, als sie mir vorlas.

VEIT KUNZ. Um ein winziges bißchen zuviel Freude, die ich an ihr haben wollte, alles, alles verloren!

HOHENKEMNATH. Ihr Geliebter war ich nie. Ich sag' es ganz offen. Sie war noch reichlich jung. Das hätte uns zwar beide nicht gestört. Sie am allerwenigsten. Wo ist sie nur?

VEIT KUNZ. Ich Tölpel, der ich sie zu kennen glaubte![160]

HOHENKEMNATH. Aber was kennt man denn! Haben Sie schon einen Mann gekannt, der seine Frau gekannt hat? Oder umgekehrt? Als sie sich heirateten, da kannten sie sich. Oder ein Kind, das seine Eltern gekannt hat? Das ist rein logisch schon ganz und gar unmöglich.

VEIT KUNZ reicht Hohenkemnath die Hand. Ich muß mich noch etwas verschnaufen. Dann ruf' ich sie.

HOHENKEMNATH. Ich wollte sie heiraten. Gar keine Verpflichtungen hätte sie gehabt. Wer weiß, wie bald wäre sie jetzt selbstherrliche Freifrau auf Hohenkemnath. Sie war sich zu gut dazu. Mit siebzehn Jahren. Ein loses Mädel.[161]

Quelle:
Wedekind, Frank: Franziska. Ein modernes Mysterium in fünf Akten, München 1912, S. 132-162.
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