Vierte Szene

[175] Franziska. Breitenbach.


BREITENBACH. Hast du denn meinen Brief nicht erhalten?

FRANZISKA. Seit mein Kind krank wurde, öffne ich nur Briefe, deren Handschrift mir aus der Adresse bekannt ist.

BREITENBACH. Was fehlte dem Kind?

FRANZISKA. Das gehört nicht hierher. Es ist wieder gesund. Was haben Sie mir zu sagen?

BREITENBACH. Franziska! – Als ich vom Tode deiner Mutter hörte, da wurde noch einmal alles in mir lebendig, was wir an berauschendem Glück zusammen genossen haben. Aber ich sagte mir: Es geht nicht! Es geht nicht!

FRANZISKA. Um so besser!

BREITENBACH. Für dich doch nicht! Aber du hast zuviel gesehen, zuviel gehört, zuviel erlebt, zuviel gelernt, viel[175] zuviel nachgedacht! An deiner Treue würde ich ja niemals zweifeln. Wie käme ich dazu! Ich! Weißt du noch?

Was ist süßer als Honig!

Was ist stärker als der Löwe!

Aber du bist dir selbst so verzweifelt treu! Das ist für mich das Furchtbare an dir! Deine liebe alte Mutter ...

FRANZISKA. Willst du ihr nicht ihre Ruhe lassen?

BREITENBACH. Dazu geht mir ihr Schicksal zu nahe. Nach den stärksten inneren Erschütterungen hatte sich die Frau schließlich damit abgefunden, daß ihr Kind, ihre Franziska, in Wirklichkeit ein Mann sei. Darauf erholte sich die sechzigjährige Dame allmählich von ihrer Schwermut. Man entläßt sie als geheilt aus der Anstalt. Und kaum ist sie draußen, erhält sie die betäubende Nachricht, daß du einem Kinde das Leben geschenkt hast. Nun soll das abgebrauchte sechzigjährige Gehirn alles, was es sich mit der größten Selbstverleugnung abgerungen hat, wieder als unbrauchbar beiseite werfen und sich noch einmal eine ganz neue Denkungsart einpauken. – Ich bin durchaus nicht schwerfällig, aber solch einer Gymnastik wäre auch mein[176] Verstand nicht gewachsen. Und deshalb, siehst du, geht es eben nicht!

FRANZISKA. Was geht nicht?! Ich habe dich nicht hergebeten.

BREITENBACH. Gib dir weiter keine Mühe. Ich erkläre dir ein für allemal: es geht nicht.

FRANZISKA. Du bist doch verheiratet.

BREITENBACH. Seit dem ersten Tage unserer Bekanntschaft – volle vier Jahre sind es jetzt her – lasse ich mich fortgesetzt von meiner Frau scheiden. Du hast das auf dem Gewissen! Niemand anders als du!

FRANZISKA. Damit finde ich mich zur Not ab.

BREITENBACH. Mein Freund, Veit Kunz, hat sich der Sache angenommen und führt sie jetzt auch energisch zu Ende. Es kostet ein Sündengeld. – Wenn du also davon absehen willst, daß ich jemals als Vater deines Kindes in Betracht komme, dann würde ich mich glücklich schätzen, wenn ich dir, damit du nicht gänzlich vereinsamt in der Welt stehst, deine alte gute Mutter ersetzen könnte.[177]

FRANZISKA mit größter Ruhe. Verlassen Sie mein Haus!

BREITENBACH. Ich?

FRANZISKA. Oder ich. Nach Belieben. Ab.

BREITENBACH für sich. Trotzkopf! – Und nur, um sich selbst nicht untreu zu werden. Ab.


Quelle:
Wedekind, Frank: Franziska. Ein modernes Mysterium in fünf Akten, München 1912, S. 175-178.
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