Dreizehnter Auftritt


[184] Schwigerling. Cölestin. Später die Fürstin.


SCHWIGERLING nach vorn kommend. Wer ist das, himmlischer Lebœuf – Ich sitze vor dem Wirtshaus bei meinem Tee, da jagt in Karriere dieses Mädchen vorbei ...

CÖLESTIN. Seit früh fünf Uhr in Karriere!

SCHWIGERLING. Gleich darauf Geschrei und Gejohl; ich sehe sie noch im Sattel, dunkelrot, dem zusammengesunkenen Tier die Gerte um den Kopf wetternd. Ich hebe sie sachte herunter, wobei sie mich angrollt, als wollte ich ihr ans Leben, und bringe den keuchenden Rapphengst mit Aufbietung meiner ganzen Tierarzneikunde wieder hoch. Ich biete ihr die Hand zum Aufsitzen. Wortlos, den Kopf im Nacken, die Unterlippe zwischen die Zähne geklemmt, jagt man, ohne zurückzublicken, zum Dorfe hinaus.

CÖLESTIN. Man nennt sich Katharina Alexandrowna und will die Tochter des Grafen Totzky sein. Die Mutter, die bei ihrer Geburt das Zeitliche zu segnen vorzog, wäre demnach eine Schwester des Fürsten Rogoschin gewesen. Bis zu ihrem sechzehnten Jahre hauste sie beim Grafen Totzky auf einem halbverfallenen Edelhof im Gouvernement Saratow und bildete mit dem Alten zusammen den Schrecken der Umgegend. Wochenlang soll sie sich in Mannskleidern mit ihm im Lande herumgetrieben haben, Tag und Nacht zu Pferde, die Urwälder nach Raubtieren absuchend, die sie dann auf ihren Edelhof schleppten und zähmten, bis ihnen die Bestien aus der Hand fraßen. Als der Alte dann ohne eine Kopeke zu hinterlassen zur Hölle fuhr, war Fürst Rogoschin wahnsinnig genug, ihr und ihrer Menagerie sein Haus zu öffnen. Die Tiere sind, Gott sei Dank, bis auf eines[184] krepiert. Aber dafür hetzt sie jetzt die Menschen hier ebenso durcheinander, wie sie es vorher mit ihren Bestien getan hat. Nur über eine hat sie keine Gewalt ...


Fürstin von links, geht quer über die Bühne. Cölestin und Schwigerling verneigen sich. Sie grüßt huldvollst. Ab nach rechts.


CÖLESTIN weit ausholend.

»Der Sonne gleich, wie majestätisch sie

Im Osten sich empor zur Wölbung rollt,

Mild niederstrahlend, bis sie ferne scheidet

In düstrer blutgefärbter Purpurglut!«

»Phädra« – du erinnerst dich!

SCHWIGERLING die Tür fixierend, durch die die Fürstin verschwunden. An wen erinnert mich denn die Frau!

CÖLESTIN. Das ist es, lieber Freund! Sie hat das Eigentümliche, daß sie jedermann an irgend jemanden erinnert.

SCHWIGERLING wie oben. Ich war im Verlauf meines Lebens so manches liebe Mal in der hohen Gesellschaft zu Gast ...

CÖLESTIN. Eine Sphinx, sag ich dir!

SCHWIGERLING wie oben. Ich war Kavalier Ihrer Majestät der Kaiserin von Brasilien auf der irländischen Fuchsjagd ...

CÖLESTIN. Wenn du ihr in der Patience gegenübersitzt, dann überkommt es dich wie Geistergruß!

SCHWIGERLING sich plötzlich nach ihm umwendend. Ich begreife dich nicht!

CÖLESTIN. Ein verkörpertes Requiem!

SCHWIGERLING. Kann denn der Mensch mehr als Künstler sein, um die junge Welt im Zügel zu führen! Was hindert dich denn, dir alles Herzbestrickende, was dir der Zufall in den Weg führt, tributpflichtig zu machen! Du bist doch, weiß Gott, kein Saugkalb mehr, um dich an den ehrfurchtgebietenden Anwandlungen dieser erbleichenden Korkzieherlocken zu versündigen!

CÖLESTIN. Lebensart, mein Lieber! Lebensart! – Ich habe dir von Anfang an gesagt – unsere Beziehungen sind rein!

SCHWIGERLING. Daß dich der ...! In gemütlichem Tone. Du tust mir leid, lieber Freund. Du bist hier aufgefahren. Möglich, daß mich der Himmel extra hierher gesandt, um dich alten Piraten wieder flottzumachen. Wir haben[185] kein Heim, wir haben keinen Besitz; dafür verlieh uns der Himmel jenes dämonische Je ne sais quoi ...

CÖLESTIN. Bleib mir weg mit dem Je ne sais quoi. Das habe ich satt.

SCHWIGERLING. Das wäre noch kein Grund, dich zum Stiefelputzer zu erniedrigen!

CÖLESTIN. Immer noch hundertmal lieber Stiefelputzer als Schulmeister.

SCHWIGERLING. Ich bin nur auf der Durchreise hier. Als ich mich in Petersburg mit Renz überworfen, kam mir dieser Fürst wie von Gott. Warum denn nicht einmal Professor für moderne Philologie! Man genießt der Ruhe und pflegt seinen Körper, bis irgendwo am Firmament wieder die Sonne durchbricht. Dann aber mit frischen Kräften hinaus! Du bist ein Mann, Lebœuf; du hast Kopf und Herz, du bist jünger als ich Ihm die Hand reichend. geh mit, wenn hier meine Stunde schlägt!

CÖLESTIN. Unmöglich!

SCHWIGERLING. Mit deinem idealen Plunder hast du zeitlebens das Nachsehen! – Elastizität! Du bist aus der Übung. Ich bin dreimal vom Turmseil gestürzt, ich war siebenmal verheiratet, ich war siebenmalsiebzigmal zum Sterben verliebt. Kein Glied an meinem Körper, das ich nicht schon gebrochen. Aber zeig mir die Situation, deren ich mich nicht zu bemeistern wüßte! Das lernt sich im Zirkus, siehst du. Ein entschlossener Sprung, und wenn der Fuß die Erde berührt, eine graziöse Kniebeuge, daß man nicht auf die Nase fällt. Jeder stürzt mal in Nacht und Finsternis, aber wem es an Elastizität gebricht, der bleibt im Grase und die wilde Jagd saust johlend, kläffend, achtlos über ihn hin.


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 184-186.
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