Siebenter Auftritt


[202] Katharina. Die Vorigen.


KATHARINA in Promenadentoilette, die Fahrpeitsche in der Hand, von links hinten. Er könnte sich ja eventuell im Heuschober versteckt haben ...

SCHWIGERLING plötzlich zur Besinnung kommend. Sieh da, der schöne Urquell meiner Leiden.

KATHARINA. Habt ihr Kama nicht gesehen, Kinder?

ENJUSCHA, ALIOSCHA. Nein, Katja Alexandrowna, wir haben Kama nicht gesehen.

KATHARINA. Geht, ruft mir Cölestin!


Die Kinder nach rechts vorn ab.


KATHARINA für sich. Heute früh flog er mir doch noch bis zum Hoftor nach.

SCHWIGERLING für sich. Gehen wir direkt zur Quelle!

KATHARINA. Haben Sie Kama nicht gesehen?

SCHWIGERLING sich ihr mit einem Sessel nähernd. Ich muß bedauern, der Dame nicht vorgestellt zu sein. Aber wenn mir Komtesse sonst zwei kurze Worte gestatten wollten ...

KATHARINA sich setzend, mit einem Blick auf seinen Talar. Sie spielen hier wohl Alibaba und die vierzig Räuber?[202]

SCHWIGERLING sich setzend. Ich befinde mich hier in meiner Eigenschaft als Professor für moderne Philologie ...

KATHARINA. Ich glaubte, Sie wären Kunstreiter?

SCHWIGERLING. Von ganzer Seele, Komtesse!

KATHARINA. Es muß nicht leicht sein, sich bei Ihnen zu orientieren.

SCHWIGERLING. Orientiert bin ich, Komtesse ...

KATHARINA. Das freut mich.

SCHWIGERLING. Es hat mich Kopfzerbrechen genug gekostet ...

KATHARINA. Das glaub ich Ihnen.

SCHWIGERLING. Soviel steht indessen jetzt für mich fest, daß Fürst Iwan Michailowitsch bis zum Wahnsinn in Sie verliebt ist.

KATHARINA. Der Dummkopf.

SCHWIGERLING. Bis zum Wahnsinn – wenn nicht weit darüber hinaus! Als mich der Fürst in Petersburg als Professor für moderne Philologie engagierte, hatte er ohne Zweifel schon die kapitale Idee gefaßt, Sie, mein verehrtes Fräulein, auf übernatürlichem Wege durch mich gefügig zu machen.

KATHARINA. Davon bin ich fest überzeugt.

SCHWIGERLING. So?

KATHARINA. Das sieht ihm vollkommen ähnlich.

SCHWIGERLING. Ja. Ich muß gestehen, daß ich nicht darauf gefaßt war. – Nun befinde ich mich also in der unangenehmen Lage, ihm entweder Sie, mein verehrtes Fräulein, so wie Sie dasitzen, in die Arme zu liefern oder meinen – Mangel an Welterfahrung, wenn ich mich so ausdrücken darf, mit meiner Freiheit, wenn nicht mit meinem Leben zu bezahlen.

KATHARINA. Er ist mir zu dumm.

SCHWIGERLING. Komtesse brauchten die Angelegenheit ja nicht allzu ernst zu nehmen. Eine kleine Komödie. Wenn sich Komtesse die Fingerspitzen küssen lassen wollten. Das hätte nicht die geringsten Konsequenzen für Sie.

KATHARINA. Er ist mir zu dumm.

SCHWIGERLING. Er ist Ihnen zu dumm?

KATHARINA. Ja. Er ist mir zu dumm.

SCHWIGERLING. Er ist allerdings sehr dumm; unwahrscheinlich dumm; das läßt sich nicht leugnen. Aber – um so besser[203] für uns. Wenn ihm Komtesse zum Beispiel ein Rendezvous geben – möglichst weit vom Hause entfernt – an einer romantischen Stelle im Urwald ...

KATHARINA. Er ist mir zu dumm.

SCHWIGERLING. Ich glaube Ihnen mit meiner Kavaliersehre dafür bürgen zu können, daß Sie nichts dabei aufs Spiel setzen.

KATHARINA sich erhebend. Er ist mir zu dumm. Geht nach rechts.

SCHWIGERLING. Weiß Gott im Himmel, ich bin der letzte, der das einem hübschen, begehrenswerten, jungen Mädchen, wie Sie es sind, verdenken kann. Aber es wäre doch nicht mehr als ein Scherz. Halten Sie mich bitte nicht der Ungeheuerlichkeit für fähig, daß ich Ihnen meiner Rettung wegen ein wirkliches Opfer zumute!

KATHARINA rechts vorn. Er ist mir zu dumm.

SCHWIGERLING erhebt sich nervös, geht nach links vorn. Wenn er Ihnen denn tatsächlich zu dumm ist ...! Sich halb umwendend. Es gilt ja allerdings nur ein Kunstreiterleben, Komtesse!

KATHARINA sehr ruhig. Wenn ich Ihnen aber sage, er ist mir zu dumm.

SCHWIGERLING zuckt die Achseln. Na, denn nicht!

KATHARINA. – Sagen Sie mir bitte, Herr ...

SCHWIGERLING. Fritz Schwigerling.

KATHARINA. Ist es richtig, daß man im Zirkus die freie Verfügung über seine Person behält?

SCHWIGERLING. Jedenfalls wird man nicht an Händen und Füßen gefesselt in den Keller geworfen!

KATHARINA. Danach frage ich jetzt nicht!

SCHWIGERLING. Wonach fragen Sie denn?

KATHARINA. Ich meine, ein junges Mädchen. Eine Schulreiterin.

SCHWIGERLING. Darum kümmert sich der Zirkus nicht. Halten Sie den Zirkus bitte nicht für ein ...

KATHARINA. Davon bin ich weit entfernt. Im Gegenteil, ich habe, so gut es mir allein möglich war, mich selbst zur Schulreiterin ausgebildet.

SCHWIGERLING. Wir taxieren eine Künstlerin nach ihrer Grazie, ihrem Temperament, nach ihrer – Seele, wenn Sie mir den Ausdruck erlauben. Ob Sie eine Schauspielerin als[204] Ophelia oder eine Seiltänzerin auf dem hängenden Draht sehen, das Ausschlaggebende ist immer nur der Mensch, die geistige und körperliche Schönheit: Die Schönheit der Bewegung und die Schönheit der Formen. Und was wir auf dem Draht, im Trapez, am Reck, in den römischen Ringen vom Menschen verlangen, das suchen wir beim Tier durch die sorgfältigste, umsichtigste Erziehung zu wecken. Der Geist, die Seele, die in dem schönen Organismus schlummert, muß in vollendeter, rhythmisch gebundener Form zutage treten. Es war etwa vor hundert Jahren, da lebte in Deutschland oder wo ein sogenannter – Dichter, ein gewisser – wie nannte er sich doch noch ...

KATHARINA schüchtern. Goethe?

SCHWIGERLING. Goethe? – Ganz recht! Woher wissen Sie denn das? Sie können ihn doch un möglich gekannt haben.

KATHARINA. Ich habe etwas von ihm gelesen.

SCHWIGERLING. Sie auch?

KATHARINA. Nur ein paar Sätze.

SCHWIGERLING. Mehr habe ich auch nicht von ihm gelesen. Dieser – Goethe sagte, als er in Göttingen in die Reitbahn des großen berühmten Stallmeisters Ayer kam ...

KATHARINA. Gewiß, das ist es gerade, was ich von ihm gelesen habe!

SCHWIGERLING. Sie haben das auch gelesen?

KATHARINA. Gewiß! Nimmt das Buch vom Tisch. Hier steht es Geht zu Schwigerling.

SCHWIGERLING. Dann hat er jedenfalls sonst auch nicht viel geschrieben.

KATHARINA. Hätte er denn durchaus noch mehr schreiben sollen?

SCHWIGERLING. Meinetwegen nicht. Er ist durch diese Gedanken berühmt genug geworden.

KATHARINA das Buch öffnend. Hier! Sie liest sehr gebrochen. Eine wo – wohlbestellte Reitbahn hat immer etwas Im – Im – Im – – Bitte, lesen Sie weiter. Ich bin zu aufgeregt.

SCHWIGERLING. Zeigen Sie. Liest noch schlechter. Immer etwas Im – Haben Sie kein Vergrößerungsglas?

KATHARINA. Nein.

SCHWIGERLING. Imposantes! – M – mensch und T – tier – Ich bin nämlich weitsichtig – v – verschmelzen der – der –[205] ge – stalt ... Klappt mit raschem Entschluß das Buch zu, legt es auf den Tisch links und geht nach rechts. Es befremdet mich gewaltig, Komtesse, wie Sie bei soviel Interesse Ihre Pferde derart zuschanden reiten können!

KATHARINA kleinlaut. Sie scheinen sich auch nicht sonderlich auf Drucksachen zu verstehen.

SCHWIGERLING. Aber Sie vielleicht!

KATHARINA halb für sich. Etwas muß man doch zugrunde richten.

SCHWIGERLING sich plötzlich besinnend. Aber was geht mich das denn alles an! – Ich wiederhole Ihnen, Komtesse, ich glaube Ihnen mit meiner Ehre dafür bürgen zu können, daß Sie bei einem verabredeten Rendezvous mit Seiner Durchlaucht, dem Fürsten, nicht die geringste Gefahr laufen würden.

KATHARINA wendet sich zum Gehen. Er ist mir zu dumm.

SCHWIGERLING. Das ist es ja gerade!

KATHARINA tonlos, für sich. Das ist es ja gerade.

SCHWIGERLING. Dann verzeihen Sie meine unpassende Zumutung. Aber dann – Ihr rasch den Weg vertretend. dann klären Sie mich bitte über etwas anderes auf! Wer ist diese Fürstin?

KATHARINA. Wen meinen Sie?

SCHWIGERLING. Diese Dame des Hauses! Diese geheimnisvolle Erscheinung, die hier seit gestern immer auf der einen Seite auftaucht und auf der anderen wieder verschwindet ...

KATHARINA. Lisaweta Nikolajewna?

SCHWIGERLING. Also doch Russin?

KATHARINA. Ja – sie hat ihre Vergangenheit ins Gesicht geschlagen!

SCHWIGERLING. Meine Ahnung! – Sie ist vom Hof?

KATHARINA. Vom Hofe gerade nicht, aber trotzdem bewegte sie sich in den höchsten Sphären, eh sie die Mesalliance mit diesem Kosaken einging.

SCHWIGERLING. Sprechen Sie!

KATHARINA. Lisaweta Nikolajewna ist tief heruntergestiegen. Da Schwigerling noch etwas einwenden will. Cölestin soll sich sofort bei mir melden! Nach rechts hinten ab.


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 202-206.
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