Erstes Bild


[525] Thronsaal.


ERSTER BEDIENTER sich aus dem Fenster beugend. Sie kommen! Das wälzt sich näher und näher, wie das Jüngste Gericht!

ZWEITER BEDIENTER stürzt zur gegenüberliegenden Tür herein. Weißt du, daß der König gefangen sitzt?

ERSTER BEDIENTER. Unser König gefangen?!

ZWEITER BEDIENTER. Seit gestern früh! Die Hunde haben ihn ins Gefängnis geworfen!

ERSTER BEDIENTER. Dann machen wir uns am besten aus dem Staub, sonst verfahren sie mit uns, als wären wir die Betten gewesen, auf denen er ihre Kinder verführt hat!


Die Bedienten stürzen hinaus. Bewaffnet, mit Blut besudelt, vom Kampf erhitzt, treten Pietro Folchi, Filipo Folchi, Andrea Valori nebst einigen Bürgern auf.


PIETRO FOLCHI stößt eines der Bogenfenster auf und spricht zu der draußen versammelten Menge. Mitbürger! – Die Gassen von Perugia sind mit den Leichen unserer Kinder und Brüder bedeckt. Manchem von euch ist es heiligster Wunsch, einen teuren Toten zu würdiger Ruhestätte zu geleiten. – Mitbürger! Vorher gilt es noch eine höhere Pflicht zu erfüllen. Laßt uns so rasch als möglich das Unsrige tun, daß die Toten nicht einzig zum Ruhm ihrer Tapferkeit starben, sondern zum dauernden Glück ihres Vaterlandes! Nutzen wir den Augenblick! Geben wir unserem Staat eine Verfassung, die seine Kinder in Zukunft vor der Mordwaffe schützt und seinen Bürgern den gerechten Lohn ihrer Arbeit sichert!

DIE BÜRGER. Es lebe Pietro Folchi!

ANDREA VALORI im Eingang des Saales nach außen sprechend. Mitbürger! Wir können diesen teuer erkämpften Platz, eh wir ihn wieder verlassen, nur dadurch vor unseren[525] Feinden schützen, daß wir uns jetzt schon über die zukünftige Staatsform einigen. Den ehemaligen König halten wir im Gefängnis verwahrt; die Patrizier, die ihr Nichtstun mit unserem Schweiß bestritten, sind auf der Flucht nach den Nachbarstaaten. Nun frage ich euch, Mitbürger, proklamieren wir, wie es in Florenz, wie es in Parma, in Siena geschehn ist, in unserem Staate die Umbrische Republik?

DIE BÜRGER. Es lebe die Freiheit! Es lebe Perugia! Es lebe die Umbrische Republik!

PIETRO FOLCHI. Schreiten wir ohne Verzug zur Wahl eines Podesta!

DIE BÜRGER. Es lebe unser Podesta Pietro Folchi! Es lebe die Republik Perugia!

ANDREA VALORI. Mitbürger! Keine Übereilung in dieser Stunde! Es gilt, die erstrittene Macht derart zu befestigen, daß sie uns, solange wir leben, nicht entrungen werden kann! Gelingt uns das, wenn wir Umbrien zur Republik machen?! Unter dem Schütze republikanischer Freiheit werden die verjagten Herrensöhne sich die Eitelkeit unserer eigenen Töchter zunutze machen, um uns unversehens, während des nächtlichen Schlummers wieder in Ketten zu schmieden! Blickt hinüber nach Florenz! Blickt nach Siena! Ist dort nicht die Freiheit nur der Deckmantel wüstester Willkürherrschaft, unter der der Bürger zum Bettler wird? Unter seinen Königen ist Perugia zu Macht und Wohlstand emporgediehen, bis das Zepter einem Dummkopf und Wüstling in die Hände geriet. Erheben wir den Würdigsten unter uns auf seinen Thron! Nur dann werden wir selber, so wie wir vom Kampf ermattet hier stehen, in Zukunft die Aristokraten unserer Stadt und die Herren des Landes sein; nur dann werden wir uns dauernd und in Ruhe unserer heißerrungenen Vorrechte erfreuen können!

DIE BÜRGER. Es lebe der König! Es lebe Pietro Folchi!

EINIGE STIMMEN. Es lebe die Freiheit!

DIE BÜRGER lauter. Es lebe unser König Pietro Folchi! Es lebe König Pietro!

EINIGE BÜRGER unwillig den Saal verlassend. Dafür vergossen wir unser Blut nicht! Nieder mit der Knechtschaft! Es lebe die Freiheit![526]

DIE BÜRGER. Hoch lebe König Pietro!

PIETRO FOLCHI besteigt den Thron. Durch eure Wahl dazu berufen, besteige ich diesen Thron und nenne mich König von Umbrien! – Die Mißvergnügten, die unter dem Ruf nach Freiheit aus unserer Mitte schieden, sind nicht weniger die Feinde unseres Staates als die adligen Faulenzer, die unsern Mauern den Rücken kehrten. Ich werde ein wachsames Auge auf sie haben, denn sie fochten an unserer Seite nur in der Hoffnung, in den Trümmern unserer teuren Stadt plündern zu können. Wo ist mein Sohn Filipo?

FILIPO FOLCHI aus der Menge tretend. Was befehlt Ihr, mein Vater?

KÖNIG PIETRO. An den Schrammen, die du über dem Auge trägst, sehe ich, daß du gestern und heute dem Tode nicht aus dem Wege gingst! Ich ernenne dich zum Befehlshaber unserer Kriegsmacht. Verteile die uns ergebenen Söldner auf die zehn Tore der Stadt und laß auf dem Markte die Werbetrommel schlagen! Perugia muß in allerkürzester Frist zu einem Zuge nach den Grenzen gerüstet sein. Du haftest mir für das Leben eines jeden Bürgers und stehst mir gut für die unverbrüchliche Sicherheit allen Eigentums! Nun laß den ehemaligen König von Umbrien aus seiner Gefangenschaft heraufführen, denn es ziemt sich wohl, daß niemand anders als ich ihm sein Urteil verkünde.

FILIPO. Eure Befehle sollen pünktlich vollzogen werden. – Hoch lebe König Pietro! Ab.

KÖNIG PIETRO. Wo ist mein Schwiegersohn, Andrea Valori?

ANDREA VALORI vortretend. Hier, mein König, bin ich zu Eurem Befehl.

KÖNIG PIETRO. Ich ernenne dich zum Schatzmeister des Königreiches Umbrien. Du und mein Vetter Giulio Diaceto und unser berühmter Rechtsgelehrter Bernardo Ruccellai, dessen beredtes Wort im Auslande unsere Stadt zu wiederholten Malen vor Blutvergießen bewahrt hat –: Ihr drei werdet meine Ratgeber bei der Erledigung der Staatsgeschäfte sein. Nachdem die Gerufenen vorgetreten. Stellt euch mir zur Seite! Sie tun es. Der hohen Pflicht, über andere zu herrschen, kann[527] ich nur genügen, wenn die verdienstvollsten Männer des Vaterlandes ihr Leben in meinen Dienst stellen. – Und nun geht, ihr übrigen, um die Opfer des zweitägigen Kampfes zu bestatten. Damit sie nicht umsonst für ihrer Brüder und Kinder Wohl in den Tod gegangen sind, lasset den heutigen Tag einen Tag der Trauer und der ernstesten Wachsamkeit sein.


Alle verlassen den Saal bis auf König Pietro, den Staatsrat und einige Landsknechte. Hierauf wird der gefangene König von Filipo Folchi und zwei Bewaffneten hereingeleitet.


DER KÖNIG. Wer erdreistet sich, uns durch die Gewalt dieser pflichtvergessenen Schelme hierher führen zu lassen?!

KÖNIG PIETRO. Durch, die Bestimmung unserer Gesetze war die Königsgewalt in Umbrien dir als dem ältesten Sohne des Königs Giovanni zugefallen. Du hast deine Macht verwandt, um mit Dirnen und Buhlknaben den Namen eines Königs zu entwürdigen. Schwelgereien, Maskenbälle und Jagden, durch die du den Staatsschatz vergeudet und das Land arm und wehrlos gemacht hast, zogst du jeder fürstlichen Beschäftigung vor. Du hast uns unsere Tochter geraubt und dein Treiben war unseren Söhnen das verderblichste Beispiel. Du hast für des Staates Wohlergehen so wenig wie für dein eigenes gelebt. Du schafftest nur an deinem und unseres Vaterlandes Untergang!

DER KÖNIG. Mit wem redet der Schlächtermeister?

FILIPO FOLCHI. Schweig!

DER KÖNIG. Gebt mir mein Schwert zurück!!

ANDREA VALORI. Legt ihm Fesseln an! Er wird rasend!

DER KÖNIG. Der Schlächtermeister soll weitersprechen!

KÖNIG PIETRO. Dein Leben ist verwirkt und liegt in meiner Hand. Aber ich lasse das Todesurteil unvollstreckt, wenn du hier in einer staatsrechtlichen Urkunde zu meinen Gunsten und zugunsten meiner Erben für dich und deine Anverwandten auf die Königswürde Verzicht leistest und mich als deinen Herrn, als rechtmäßigen Nachfolger und als Herrscher von Umbrien anerkennst.

DER KÖNIG lacht laut auf. Hahaha, man verlange von einem[528] Karpfen, der in der Pfanne liegt, er möge darauf verzichten, Fisch zu sein. Daß dieses Gewürm unser Leben in seiner Macht hat, beweist freilich, daß die Fürsten nicht unter die Götter gehören, weil sie wie Menschen sterblich sind. Töten kann auch der Blitzstrahl; aber wer als König geboren ist, stirbt nicht als Mensch! Es lege einer dieser Handwerker Hand an uns, wenn ihm nicht vorher das Blut in den Adern erstarrt! Dann mag er sehen, wie ein König stirbt!

KÖNIG PIETRO. Ihr seid Euch selbst mehr Feind, als es Eure Todfeinde sein könnten. Wollt Ihr denn nicht Verzicht leisten, so lassen wir in dankbarem Andenken an die segensreiche Herrschaft des Königs Giovanni, dessen leibliches Kind Ihr seid, Milde walten und verbannen Euch von heute ab auf ewig unter Verhängung der Todesstrafe aus den Grenzen des Umbrischen Staates.

DER KÖNIG. Verbannen, hahaha! Wer in der Welt will den König verbannen! Aus einem Lande, dessen Beherrschung ihm vom Himmel verliehen ist, soll ihn die Todesangst fernhalten! Nur ein Handwerker kann sich das Leben so teuer und die Königskrone so wohlfeil ausmalen! – Hahaha, diese bedauernswürdigen Toren scheinen sich einzubilden, wenn man einem Schlächtermeister eine Krone aufsetzt, dann werde ein König daraus. Schau einer hin, wie der Dickwanst bleich und zitternd dort oben klebt, gleich einem an die Wand geschleuderten Käse! – Hahaha, wie sie uns anstarren, die blöden Dickköpfe mit ihren feuchten Hundeaugen, als wäre ihnen der Sonnenball vor die Füße gefallen!

PRINZESSIN ALMA stürzt herein. Fünfzehn Jahre alt, mit wirrem Haar, in reicher aber zerfetzter Kleidung, an der Tür die Wachen durchbrechend. Laßt mich hindurch! Laßt mich zu meinem Vater! Wo ist mein Vater? Vor dem König zusammensinkend und seine Knie umfassend. Vater! Hab ich Euch wieder! Mein innigstgeliebter Vater!

DER KÖNIG zieht sie empor. So halte ich dich unversehrt wieder in meinen Armen, du mein teuerstes Kleinod! Warum mußt du mit deinem herzzerfleischenden Jammer eben in diesem Augenblicke vor mich hintreten, wo ich die blutlechzende[529] Meute schon beinahe wieder unter die Füße gestampft hatte!

ALMA. Dann laßt mich mit Euch sterben! Den Tod mit Euch zu teilen, ist mir höchste Seligkeit gegen alles, was ich in diesen beiden Tagen in den Straßen von Perugia erlebt habe. Stoßt mich nicht von Euch! Man ließ mich nicht zu Euch ins Gefängnis, aber nun seid Ihr wieder mein! Bedenkt, mein Vater, daß ich keinen anderen Menschen auf dieser weiten Welt habe als Euch!

DER KÖNIG. Mein Kind, mein liebes Kind, warum zwingst du mich, vor meinen Mördern zu bekennen, wie schwach ich bin! Geh, ich habe mein Geschick selbst über mich heraufbeschworen; laß es mich allein tragen! Von meinen ärgsten Feinden, das werden dir diese Männer bestätigen, hast du jetzt mehr Gnade und Glück zu hoffen, als wenn du dich an deinen vom Schicksal zerschmetterten Vater klammerst.

ALMA in höchster Leidenschaftlichkeit. Nein, sagt das nicht! Ich beschwöre Euch, sprecht das nicht noch einmal aus! – Schmeichelnd. Bedenkt doch nur, es ist ja noch gar nicht entschieden, daß sie uns hinmorden. Und wenn wir lieber sterben, als daß wir uns voneinander trennen, wer auf dieser Welt kann uns dann etwas anhaben!

KÖNIG PIETRO der sich während dieser Szene mit dem Staatsrat leise verständigt hat, zum König gewandt. Die Stadt Perugia wird Eurer Tochter bis zu ihrer Mannbarkeit die sorgsamste Erziehung angedeihen lassen und wird sie alsdann mit einem fürstlichen Heiratsgut ausstatten, wenn Eure Tochter das Versprechen ablegt, meinem Sohne Filipo Folchi, der mein Nachfolger auf diesem Throne sein wird, die Hand zum ehelichen Bunde zu reichen.

DER KÖNIG. Hast du's gehört, mein Kind? Der Thron deines Vaters steht dir offen!

ALMA. O mein Gott, wie könnt Ihr Eures armen Kindes so spotten!

KÖNIG PIETRO zum König. Was dich betrifft, so werden dich noch in dieser Stunde Bewaffnete unter meines Sohnes Führung bis an die Grenze des Landes bringen. Laß dich's nicht gelüsten, noch je einen Fuß breit unseres Staates zu betreten Langsam und mit Nachdruck. wenn dein[530] Haupt nicht auf dem Markt von Perugia unter Henkershand fallen soll!


Filipo Folchi läßt den König und die Prinzessin, die sich fest an ihren Vater klammert, durch Bewaffnete abführen. Er will ihnen eben folgen, als er von dem atemlos hereinstürzenden Benedetto Nardi in vollster Wut am Arm gepackt wird.


BENEDETTO NARDI. Hab ich dich, Schandbube! Zu König Pietro. Dieser dein Sohn, Pietro Folchi, hetzte gestern abend im Verein mit seinen Zechbrüdern mein wehrloses Kind durch die Gassen der Stadt und stand im Begriff, ihr Gewalt anzutun, als zwei meiner Gesellen, auf ihr Wehgeschrei herbeigeeilt, die Nichtswürdigen mit Stockhieben in die Flucht jagten. – Da trägt der Bube noch die blutigen Schrammen über dem Auge!

KÖNIG PIETRO aufbrausend. Verteidige dich, mein Sohn!

FILIPO FOLCHI. Er spricht die Wahrheit.

KÖNIG PIETRO. Zurück in die Werkstatt mit dir! Von meinem eigenen Sohn muß ich meine Herrschaft am ersten Tage in der ruchlosesten Weise geschändet sehen! Dich treffe das Gesetz mit seiner grausamsten Strenge! Und nachher bleib an der Schlachtbank stehen, bis die Bürger Perugias auf den Knien vor mir liegen, um Gnade für dich zu erflehen! – Legt ihn in Ketten!


Die Söldner, die den König hinausgeführt, kommen mit Alma zurück. Ihr Führer wirft sich, ein Knie beugend, vor dem Throne nieder.


DER SÖLDNER. Laßt, o Herr, Eure Knechte das furchtbare Unglück nicht entgelten! Wie wir den König eben hier vor dem Portal über die Brücke San Margherita führen, kommt uns ein Fähnlein unserer Kameraden entgegen und drängt uns an die Brustwehr. Diese Gelegenheit nutzte der Gefangene, um sich mit gewaltigem Sprung in die vom Regen angeschwollenen Fluten zu stürzen. All unserer Kraft bedurften wir, um diese Jungfrau zu hindern, ein gleiches zu tun; und als ich mich dem Gefangenen nachstürzen wollte, hatten ihn die tosenden Wogen längst unter sich begraben.[531]

KÖNIG PIETRO. Sein Leben ist das bedauernswerteste Opfer nicht in diesen blutigen Tagen! Für ihn sind hundert Bessere gefallen. – Zu den Staatsräten. Man führe das Kind zu den Ursulinerinnen und halte es in sorglichster Obhut. Sich erhebend. Die Sitzung des Staatsrates ist geschlossen.

ALLE ANWESENDEN. Heil dem König Pietro!


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 525-532.
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