Zweites Bild


[532] Heerstraße. Waldsaum.

Der König und Prinzessin Alma, beide in Bettlerkleidern.


DER KÖNIG. Wie lange ist es jetzt her, daß ich dich von Ort zu Ort schleppe und du für mich bettelst?

ALMA. Ruht Euch aus, Vater; nachher werdet Ihr besserer Laune sein.

DER KÖNIG setzt sich am Wege nieder. Warum verschlangen mich an jenem Abend die tobenden Wogen nicht! Dann wäre alles längst vorbei!

ALMA. Stürztet Ihr Euch denn aber über den Brückenrand, um Eurem Leben ein Ende zu bereiten? Ich wußte doch, welch eine Kraft in Euren Armen wohnt, und daß Euch das reißende Wasser zur Freiheit verhelfen werde. Wo hätte ich ohne diese Zuversicht den Mut hergenommen, aus dem Kloster und aus der Stadt zu entfliehen!

DER KÖNIG. Hier unten liegen die reichen Jagdgründe, in denen ich mit der Hofgesellschaft auf die Reiherbeize ritt. Du warst noch zu jung, um uns zu begleiten.

ALMA. Daß Ihr dieses kleine Land Umbrien nicht verlassen wollt, mein Vater! Die Welt ist so groß! In Siena, in Modena harren Euer die Anverwandten. Ihr würdet mit Jubel begrüßt und Euer teures Haupt wäre endlich in Sicherheit.

DER KÖNIG. Du opferst mir viel, mein Kind! Trotzdem bitte ich dich, mir diese eine immer wiederkehrende Frage nicht mehr zu stellen. Darin eben Hegt mein Verhängnis:[532] Vermöchte ich dieses Land zu verlassen, dann hätte ich auch seine Krone nicht verloren. Aber meine Seele wird von Wünschen beherrscht, die ich auch um mein Leben nicht unerfüllt lassen kann. Als König glaubte ich mich sicher genug vor der Welt, um ohne Gefahr meinen Träumen leben zu können. Ich vergaß, daß der König wie auch der Bauer und jeder andere Mensch nur der Wahrung seines Standes und der Verteidigung seines Besitzes leben darf, wenn er nicht beides verlieren will.

ALMA. Jetzt spottet Ihr Euer selbst, mein Vater!

DER KÖNIG. Das ist der Gang der Welt! – Du findest, daß ich meiner spotte? – Das wäre schon wenigstens etwas, wofür die Menschen vielleicht unseren Unterhalt bestreiten möchten. So wie ich mich ihnen jetzt darbiete, bin ich nicht zu verwenden. Entweder verletze ich sie durch Anmaßung und Stolz, zu denen mein Bettlergewand im lächerlichsten Gegensatz steht, oder mein höfliches Benehmen macht sie mißtrauisch, da bei ihnen mit schlichter Bescheidenheit niemand auf einen grünen Zweig gelangt. Wie zerquälte ich meinen Geist schon in diesen sechs Monaten, um mich in ihr Wesen und Treiben zu finden. Aber von allem, was ich einst als Erbprinz von Umbrien lernte, läßt sich in ihrer Welt nichts verwerten; und von allem, was sich in ihrer Welt verwerten läßt, habe ich als Prinz nichts gelernt. – Gelänge es mir aber, meiner Vergangenheit zu spotten, wer weiß, mein Kind, ob wir dann nicht noch einmal an reich gedeckter Tafel Platz finden! Denn wenn der Schweineschlächter auf den Thron erhoben wird, dann bleibt für den König schlechterdings keine andere Lebensstellung im Staate mehr übrig, als die eines – Hofnarren.

ALMA. Entrüstet Euch in Eurer Müdigkeit nicht so, mein Vater. Seht, daß Ihr ein wenig schlummert! Ich schaue nach frischem Wasser aus, um Euren Durst zu löschen und Eure glühende Stirn zu kühlen.

DER KÖNIG sein Haupt zurücklehnend. Dank dir, mein Kind!

ALMA ihn küssend. Geliebter Vater! Ab.

DER KÖNIG erhebt sich, plötzlich auffallend munter. Wie ich jetzt erst dieses schöne Land lieben lerne, seit ich unter[533] steter Lebensgefahr darin umherschweife! – Auch das schlimmste Unheil führt doch immer sein Gutes mit: hätte ich mich um mein braves Volk von Perugia und Umbrien nicht so blutwenig geschert, hätte es mich nicht je nur im Karneval im Maskenflitter zu sehen bekommen, Gott weiß, ob ich dann nicht schon längst erkannt worden wäre! – Da kommt wieder einer von der Sorte!


Ein Gutsbesitzer kommt des Weges daher.


DER KÖNIG. Gott zum Gruß, Herr! Habt Ihr nicht Arbeit für mich auf Eurem Gute?

DER GUTSBESITZER. Für dich möchte sich lohnende Arbeit auf meinem Gute wohl finden, aber gottlob wird mein Haus von kräftigen Wolfshunden bewacht. Und hier, siehst du, trage ich ein Weidmesser, das ich so gut zu handhaben verstehe, daß ich dir nicht raten mochte, mir noch einen Schritt näherzukommen!

DER KÖNIG. Herr, Ihr habt es auch nicht vom Himmel verbrieft, daß Ihr nicht noch einmal, um nicht zu hungern, um Arbeit bitten müßt!

DER GUTSBESITZER. Hahaha! Wer arbeiten will, um nicht zu hungern, der ist mir schon gerade der rechte Arbeiter! Erst kommt die Arbeit und dann der Hunger! Wer ohne Arbeit leben kann, der verhungere lieber heute als morgen!

DER KÖNIG. Herr, Ihr hattet wohl klügere Lehrmeister als ich!

DER GUTSBESITZER. Das will ich wohl hoffen! – Was hast du gelernt?

DER KÖNIG. Das Kriegshandwerk.

DER GUTSBESITZER. Damit ist Gott sei Dank unter der Herrschaft König Pietros, den uns der Himmel noch lange erhalten möge, in Umbrien wenig mehr zu verdienen. Stadt und Land genießen der Ruhe, und mit den Nachbarstaaten leben wir endlich in Eintracht.

DER KÖNIG. Herr, Ihr werdet mich für jede Arbeit auf Eurem Gute brauchbar finden.

DER GUTSBESITZER. Ich werde mir das Geschäft überlegen. Du scheinst mir ein harmloser Bursche zu sein. Ich bin auf dem Wege zu meinem Neffen, der in Todi ein großes Haus und Familie hat. Nach Mittag komme ich zurück.[534] Erwarte mich hier an dieser Stelle. – Vielleicht nehme ich dich dann mit. – Ab.

DER KÖNIG allein. Wer ohne Arbeit leben kann, der verhungere! Welche Weistümer dieses Geschmeiß hegt, um sich sein kümmerliches Dasein zu ermöglichen? – Und ich? – Nicht einmal meinem Kinde kann ich zu essen geben! Mir ward vom Himmel eine Herrlichkeit überantwortet, wie sie unter Millionen Menschen nur einem zuteil wird! Und ich kann nicht einmal meinem Kinde zu essen geben! Mir gestaltete mein gütiger Vater jede Stunde des Tages durch fröhliche Spielgefährten, durch die weisesten Lehrer, durch den ehrerbietigsten Dienertroß zum Freudenfeste; und mein Kind muß zitternd vor Kälte am Heerweg unter dem Zaun schlafen! – Erbarm dich ihrer, o Gott, und tilg die Liebe zu mir Elendem aus ihrem Herzen! Sehr leichtherzig. Mir soll dann begegnen was will – ich trag es leicht!

ALMA stürzt mit aufgelöstem Haar aus dem Gebüsch. Vater! Jesus Maria! Mein Vater! Steht mir bei!

DER KÖNIG sie in die Arme schließend. Was ist dir, Kind?

EIN LANDSTREICHER der das Mädchen verfolgt hat, tritt vor und stutzt. Ah!? – – Wie kann ich wissen, daß ein anderer sie hat!

DER KÖNIG stürzt mit erhobenem Stock auf ihn los. Von hinnen, du Hundeseele!

DER LANDSTREICHER. Ich Hundeseele? – Was bist denn du??

DER KÖNIG schlägt ihn. Das bin ich! – Und das! – Und das!


Der Landstreicher sucht das Weite.


ALMA sich bebend an ihren Vater schmiegend. O mein Vater! Ich beuge mich über die Quelle, da stürzt sich der Mensch auf mich!

DER KÖNIG schwer atmend. Beruhige dich, mein Kind ...

ALMA. Mein armer Vater! Daß ich, statt Euch helfen zu können, noch Eurer Hilfe bedarf!

DER KÖNIG. Ich bringe dich heute noch nach Perugia. Wirf dich dem König Pietro zu Füßen ...

ALMA. O laßt mich das nicht immer wieder hören! Ich Euch verlassen, wo Euch täglich der Tod bedroht!

DER KÖNIG. – Es wird in Zukunft wohl klüger sein, wenn du statt[535] in Frauentracht in Männerkleidern gehst. Wunder genug, daß dich die Vorsehung bis heute vor den Schrecknissen bewahrt hat, die dich bei unserem Umherirren bedrohen! In Männerkleidern wirst du sicherer sein. – Ein Bauer kam eben des Weges. Wenn er zurückkehrt, will er mich mitnehmen und mir Arbeit auf seinem Gute geben.

ALMA. Wollt Ihr wirklich den Versuch noch einmal unternehmen, Euch in die Knechtschaft von Leuten zu verdingen, die so abgrundtief unter Euch stehen?

DER KÖNIG verdutzt. Das sagst du, mein Kind! Warum stehen sie unter mir? – Übrigens ist es noch gar nicht sicher, daß er mich seiner Arbeit für würdig findet. – Heißt er mich aber mitgehen, dann folge uns, auf daß ich dir meinen Platz unter seinem Dache überlassen kann.

ALMA. Nein, nein, meinetwegen dürft Ihr Euch kein Ungemach bereiten. Wie hätte ich das um Euch verdient!

DER KÖNIG. Weißt du auch, mein Kind, daß ich heute wahrscheinlich längst wegen gemeinen Straßenraubes am lichten Galgen hinge, wenn ich dich, mein Kleinod, nicht als Schutzengel bei mir hätte?! – Er läßt sich am Wege nieder. Nun laß uns hier in geduldiger Ergebung des Ironisch. allgewaltigen Mannes harren, dessen Rückkunft über unser Sehnen und Hoffen, mit Menschen in Gemeinschaft leben zu dürfen, entscheiden wird.


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 532-536.
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