Fünftes Bild


[552] Gefängnis.


DER KÖNIG sitzt vor sich hin pfeifend auf den Stufen und flicht an einem Weidenkorb. – – – Ich verspüre Durst – – – Ist es wirklich schon wieder so spät am Tage. Er erhebt sich sehr vergnügt und blickt durch einen der Ausgänge forschend nach oben. – Wie hier die Zeit vergeht! – Weiß Gott! – Die Sonne beginnt schon über die Südmauer des Turmes zu gleiten! – Also den Wasserkrug! – Er holt einen irdenen Krug aus der Ecke und wendet sich in erwartender Stellung der Tür zu. – Er kommt schon! – – Hat mir, solange ich König war, je ein Trunk so gemundet wie dieser frische Trunk Wasser, den ich nun seit zwölf Monden täglich um diese Stunde erhalte? – Ich glaube, es ist ein unverdientes Glück für mich, daß ich nicht unter meiner eigenen Regierung ins Gefängnis gekommen bin.


Die Tür wird klirrend aufgerissen und draußen schreit eine rauhe Stimme: »Wasserkrug!« Der König setzt den Krug hastig vor die Tür und kehrt in die Zelle zurück. Die Tür fällt ins Schloß, wird aber

sofort wieder geöffnet, und der Gefängniswärter tritt ein.


DER GEFÄNGNISWÄRTER. Himmelkreuzsackerment, Gigi, was zerschmeißt du den Wasserkrug! Schweig, du Hund! Der Krug hat ein Loch! Gestern war er noch heil! Dir heiz ich ein, daß dein Blut von der Stirne trieft! Du hältst mich schon für deinen Bedienten, weil ich dir in letzter Zeit nicht mehr so auf die Finger sah! Jetzt sollst du's erleben, daß die Haare dir weiß werden! – Deine Arbeit zeig vor!


Der König holt den Weidenkorb.[552]


DER GEFÄNGNISWÄRTER. Das dein Tagewerk?! Du kriegst keinen Happen Brot, eh du das Fünffache lieferst! Ihm den Korb vor die Füße werfend. Da! – Und nun werde ich deine Zelle revidieren. Sieh dich vor! Du kommst mir nicht mehr lebendig aus diesem Loch! – Er geht, die Hände auf dem Rücken, von der Tür bis zum Fenster schrittweise der Wand entlang, indem er die Mauer vom Plafond bis zur Erde mustert und sich hin und wieder nach dem Gefangenen umdreht, der ihm verwundert mit den Blicken folgt. Was tut das Spinngewebe dort oben?! Vierte Disziplinarstrafe auf acht Tage! Sich umwendend. Du weißt doch die sieben Disziplinarstrafen noch auswendig? He, Gigi?

DER KÖNIG. Ich weiß sie auswendig.

DER GEFÄNGNISWÄRTER. Erste Disziplinarstrafe?

DER KÖNIG von jetzt an jede Antwort mit einem geringschätzigen Lächeln begleitend. Entziehung von Vergünstigungen.

DER GEFÄNGNISWÄRTER. Ich werde dir deine Laute in Stücke schlagen, mit der du deine Arbeitszeit verplemperst! – Zweite Disziplinarstrafe?

DER KÖNIG. Entziehung der Arbeit.

DER GEFÄNGNISWÄRTER. Dann sieh, womit du die Zeit verbringst! In acht Tagen tragen dich deine Beine nicht mehr! – Dritte Disziplinarstrafe?

DER KÖNIG. Entziehung des weichen Nachtlagers. – Mein Lager ist ohnehin so hart, als wäre es mit Kieselsteinen gestopft!

DER GEFÄNGNISWÄRTER. Schweig! – Der Kerl möchte wohl gern ins Heu schlafen gehen! – Vierte Disziplinarstrafe?

DER KÖNIG. Schmälerung der Kost.

DER GEFÄNGNISWÄRTER. Wasser und Brot von heute auf acht Tage! – Hast du's gehört?! Fünfte Disziplinarstrafe?

DER KÖNIG. Einsperren im Dunkeln.

DER GEFÄNGNISWÄRTER. Sechste Disziplinarstrafe?

DER KÖNIG. Anschließen an die Kette.

DER GEFÄNGNISWÄRTER. Das hast du nämlich so zu verstehen, daß du krumm geschlossen wirst, so daß dir nach der ersten Stunde schon alle Teufel, die du im Leibe hast, Lebewohl sagen! Siebente Disziplinarstrafe?[553]

DER KÖNIG. Körperliche Züchtigung.

DER GEFÄNGNISWÄRTER am Fenster angelangt. Du sollst hier dein Fell noch spüren! Du Tagedieb sollst mir diese Himmelsleiter hinauf- und hinunterklettern, bis du tot herunterfällst. Er geht vor dem König durch, verläßt die Zelle und schließt von außen zu.

DER KÖNIG sieht ihm, den Kopf schüttelnd, in höchster Verwunderung nach, ohne daß seine gute Laune im geringsten gelitten hat. Was war das? – Worin habe ich mich denn versehen? – – Diese Bestie glaube ich im Laufe eines Jahres zum Menschen erzogen zu haben? – Plötzlich, nach all der Mühe, fällt sie mir wieder ins Tierreich zurück? – Oder Sich betastend. habe ich geträumt? – Daß der Krug zerbrochen war, ist ganz unmöglich. – Diesen Morgen trank ich noch daraus. Er wird ihn jetzt draußen zerschlagen und mir dann die Scherben vorzeigen! – Ob er mich heute dursten läßt? – Soll er mich dursten lassen! So brauche ich doch wenigstens sein Gesicht nicht zu sehen. – Wenn er kommt, dann empfange ich ihn mit einem Blick, vor dem sein Auge sich in die Erde bohrt. Sich Haltung gebend. Hilf mir, königliche Majestät, daß der Geselle sich seine Niederträchtigkeit selbst ins Bewußtsein zurückruft! – – Horchend. Da ist er schon! – Ein Zweikampf ohne Waffen – Mensch gegen Mensch!


Die Tür öffnet sich rasselnd. Drauf tritt Prinzessin Alma, gekleidet wie im vorigen Bild, in beiden Händen einen Krug tragend, in die Zelle. Hinter ihr fällt die Tür krachend wieder ins Schloß.


DER KÖNIG in maßlosem Freudenschreck. Alma?! Mein Kind?! – O tierische Bosheit!

ALMA. O Vater, ich kann Euch ja nicht umarmen! Ich bringe Euch diesen Krug mit Wein.

DER KÖNIG nach Atem ringend, beide Hände auf der Brust. O satanische Grausamkeit! – Nimmt ihr den Krug ab und setzt ihn beiseite. Wo kommst du her, mein Kind? – Zwölf Monde lechzte ich nach deinem Anblick! Du lebst noch; du bist gesund und wohl. Sprich, wie ergeht es dir unter den elenden Menschen?[554]

ALMA. Wir haben nur einen kurzen Augenblick! Endlich gelang es mir, den Wärter zu bestechen; und von nun an läßt er mich jede Woche einmal zu Euch kommen. Sagt mir rasch, wie ich Eure Leiden mildern kann!

DER KÖNIG höhnisch. Meine Leiden! – Ja! Welch ein Vater bin ich, daß ich mein Kind der Welt schutzlos überantworte! Das sind meine Leiden! – Sonst danke ich Gott jeden Tag, daß ich durch diese sechs Fuß dicken Mauern von der Menschheit getrennt und vor ihr in Sicherheit bin!

ALMA. Ihr seht mir wohl an, mein Vater, daß die Menschen lieb zu mir sind. Ich stehe noch bei dem Gerichtsschreiber in Dienst. Sagt mir nur, was ich Euch bringen darf, um Eure Kräfte zu stärken. Welch furchtbare Qualen müßt Ihr hier erduldet haben!

DER KÖNIG im Flüsterton, aber sehr lebhaft. Nein, nein, mein Kind! Bring mir nichts Fremdes in diese Einsamkeit. Du weißt ja nicht, mit welcher Windeseile die Zeit hier verfliegt! Zu Anfang hatte ich siebenhundertunddreißig Striche in jene Mauer gekritzelt, um jeden Tag die Freude zu haben, einen auszulöschen. Wie bald mußte ich sie wochenweise, mondenweise tilgen. Und jetzt sehe ich nur noch mit Grauen, wie rasch ihrer weniger werden, bis der letzte dahin ist und ich wieder unter überhängenden Felsen Obdach suche und mich mit den Wölfen um ihre Jagdbeute reiße! – Aber laß dich meine Worte nicht betrüben! Du kannst ja nicht wissen, wie mich der Wärter auf dein Kommen vorbereitete!

ALMA. Mit stummem Entsetzen denke ich, wie teuflisch er Euch martern wird!

DER KÖNIG mit verächtlichem Lächeln. Was du dir einbildest! Dazu müßte er kein schwacher Erdenwurm sein. Mit meiner Empfindungslosigkeit hält keine Grausamkeit gleichen Schritt. Weißt du, daß er, ohne die geringste Klage von mir gehört zu haben, hier schon helle Tränen geweint hat? Wer ist auch so entartet, daß er nicht dankbar wird, wenn sein besseres Selbst unverhofft Anerkennung findet! – Die Freude, dich, mein Kind, wiederzusehen, konnte er mir freilich nicht ungetrübt gönnen. Aber Im Ton tiefster Verachtung. das liegt an der feigen Angst, die sein Beruf ihm einflößt. Der arme[555] Mensch ist so eifersüchtig auf die lächerliche Scheingewalt, die er mit seinem Schlüsselbund ausübt, daß er durch die Gnade, die er mir heute erweist, schon völlig überflüssig zu werden fürchtete. Aber, hast du nicht Mangel gelitten, um die Gunst dieses Schurken zu erkaufen?

ALMA. Redet nicht von mir, mein Vater! Die Zeit vergeht, und ich weiß nicht, wie ich Euch helfen kann!

DER KÖNIG vollkommen ratlos, verlegen lächelnd. Ich weiß es wahrhaftig auch nicht! – Wäre ich ein tüchtigerer Mensch, dann erschiene mir mein Schicksal vielleicht bedauernswürdig. Armselig, wie ich bin, zittre ich nur vor dem Augenblick, wo mich keine eisenbeschlagene Tür mehr schützt, wo kein Gitterfenster mehr hindert, daß man zu mir hereinsteigt, wo ich wieder unter Menschen stehe, mit denen ich keine Verständigung finde und von deren Treiben ich nun erst recht durch den Spruch des Gerichtes ausgeschlossen bin. – Wüßtest du, wie schmerzlos in dieser Einsamkeit die klaffenden Wunden der Seele vernarben! Die Richter glaubten meine Strafe zu verschärfen, indem sie mich zu Einzelhaft verurteilten. Wie inbrünstig habe ich ihnen schon dafür gedankt, daß ich hier nicht mit Menschen zusammenzuleben brauche!

ALMA ärgerlich. Heiliger Gott im Himmel! Dann mögt Ihr mich hier wohl auch nicht mehr bei Euch sehen!

DER KÖNIG sich besinnend. Ich belohne deine Opfer durch Unmut und Verdrossenheit Die Gedanken werden schwer und ungefügig, wenn der Mensch tagaus, tagein im Gespräch mit sich selbst verharrt. – Nur um das eine bitte ich dich: Wird mir die Freiheit zurückgegeben, dann überlaß mich meinem Geschick – nicht für immer – nur so lange, bis ich mich deiner Seelengroße würdig erwiesen.

ALMA. O nimmermehr! Verlangt nicht, daß ich Euch je verlasse! Es kann uns in Zukunft doch unmöglich wieder so schlimm ergehen wie zuvor!

DER KÖNIG. Dir nicht. Das glaube ich gern.

ALMA. In dieser Dunkelheit hat sich Eurer armen Seele die Melancholie bemächtigt. Euer stolzes Herz ist nahe daran, stille zu stehen. In Euren Zügen ist nichts von der friedlichen Ruhe zu lesen, die Ihr zu fühlen vorgebt.[556]

DER KÖNIG düster. Ich habe mein Gesicht seit Jahresfrist nicht gesehen; aber ich kann mir denken, wie häßlich es hier geworden ist. Wie muß mein Anblick deine Augen verletzen!

ALMA. O redet nicht so, mein Vater!

DER KÖNIG plötzlich wieder vergnügt. Aber du kennst die Unverwüstlichkeit meiner Natur. Und nun trittst du, das einzige, was meinem Glück vorenthalten wurde, zu mir herein! Nur um dich, mein Kind, reich und herrlich zu belohnen, müßte ich noch einmal König sein.

ALMA. Ich höre den Wärter. Sagt mir, wie ich Eure Qualen erleichtern kann!

DER KÖNIG hell auflachend. Aber was entbehre ich denn? Wie unbehaglich würde dieser Kerker, wenn die Genüsse des Lebens hier Zutritt hätten! Wie soll mich hier nach einem schönen Weibe verlangen, wo sich mein Erinnern die Schönheit nicht mehr vorzuzaubern vermag! Nach dem Ausgang deutend. Mein Lager dort ist tagsüber angeschlossen. Da mir kein anderer Ruheplatz bleibt, lege ich mich abends so ermattet nieder, als hätte ich einen Acker umgepflügt. Und morgens weckt mich die gellende Glocke aus einem so wunschlos heiteren Traum, wie ich ihn auch als Kind nie geträumt habe. Da die Tür geöffnet wird. Wenn du wiederkommst, mein Kind, sollst du nicht eine einzige Klage mehr von mir hören. Du sollst dich so froh bei mir fühlen, als wärst du draußen in deiner sonnigen Welt. – Leb wohl!

ALMA. Lebt wohl, Vater! – Sie verläßt die Zelle. Die Tür fällt hinter ihr zu.

DER KÖNIG ihr nachblickend. Noch ein ganzes langes Jahr! – – Er wendet sich zur Mauer zurück. Ich werde doch wieder einmal genau die Striche nachzählen, wie viele ihrer noch zu tilgen sind![557]


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 552-558.
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