Vierte Szene

[26] Else Reißner, einige große Rosen in der Hand, tritt ein. Hinter ihr erscheint der Wachtmeister in der Tür. Die Vorigen.


ELSE rasch auf sie zugehend. Klara, ich bringe dir diese Rosen!

KLARA. Else! – Die schönen Blumen! – Du findest mich hier in einer ganz unmöglichen Toilette!

DER WACHTMEISTER in der offenen Tür. Aufseherin! Der Herr Direktor sagt, Sie könnten die Gefangene mit den Herrschaften jetzt, wo die Frau Professor hier ist, allein in der Zelle lassen. Sie wissen, was Sie zu tun haben?

DIE AUFSEHERIN. Schon gut, schon gut. Sie bleiben hier, Herr Oberaufseher?

DER WACHTMEISTER. Gehen Sie nur. Ich bleibe hier.

DIE AUFSEHERIN. Dann gehe ich also!


Sie verläßt die Zelle. – Der Wachtmeister bleibt anfangs in der Türe, tritt dann in den Gang hinaus und geht vor der offenen Zelle auf und nieder.[26]


ELSE. Deine Begnadigung, Klara, ist ausgefertigt! Du bist begnadigt, Klara! Du bist begnadigt. Wir warten hier nur noch auf den Gefängnisdirektor, der dir die allerhöchste Entscheidung mitteilen muß, und dann verlassen wir dieses entsetzliche Bauwerk!

KLARA scheu und angstvoll. Ich soll voraussichtlich wieder einmal freigesprochen werden!

ELSE. Du bist begnadigt, Klara. Glaub mir, du bist begnadigt! – Seit dem Verhandlungstage, an dem du zu acht Monaten verurteilt wurdest, gab es in meinem Kopfe nur einen Gedanken: Wie kann ich sie befreien! Wie kann ich Klara befreien! Nächtelang habe ich mein Gehirn mit diesem einen Gedanken zermartert! Endlich kam mir die Erleuchtung: ein Gnadengesuch an den Großherzog! Erste Bedingung war natürlich, daß das Gnadengesuch dem Justizminister nicht in die Hände geriet. Denn der Justizminister hat für alles, was nicht gleich Räuber und Mörder ist, nicht das geringste Verständnis. Dein Gnadengesuch mußte dem Großherzog von jemandem, der ihm menschlich nahe steht, zu lesen gegeben werden, und diesen hilfreichen Engel fand ich in der Person der Baronin Sommerfeld. Ich tat einen Fußfall vor ihr, ich habe aufrichtig und ehrlich vor ihr geweint. Wie das in dem Augenblick plötzlich so gegen all mein Erwarten über mich kam, ist mir heute noch nicht verständlich. Nun handelte es sich nur noch darum, das Begnadigungsgesuch wirkungsvoll zu stilisieren. Deine beste Fürbitterin, Klara, war, ohne daß sie sich's träumen läßt, deine liebe Mutter. Ich schrieb, daß du eine schweizerische Offizierstochter seiest, und daß deine Mutter seit Jahren an einem schweren Herzleiden daniederliege. Der Großherzog soll sofort geäußert haben. daß nur ja die alte Dame nichts von der Geschichte erfährt! Er begreife ja, wie einem hübschen, jungen Mädchen so etwas passieren könne, aber es wäre doch zu gräßlich, wenn die alte Mutter dafür büßen müßte!

KLARA. Ich möchte mich vor Scham erdrosseln, Else, daß ich hier in diesem Rock und in dieser Jacke vor dir stehen muß! Da, nimm deine Blumen! Die Blumen passen mir nicht[27] recht zu meiner Frisur! Ich will Gott danken, wenn diese Tür wieder hinter Euch zugeriegelt wird! Mir war in dieser Zelle so wohl wie dem Fisch im Wasser, solange ich allein darin war! Euer Besuch martert mich mehr, als es der Untersuchungsrichter mit all seinen Verhören getan hat!

ELSE. Klara, Klara, wie kannst du mich so fürchterlich quälen! In einigen Minuten – es kann höchstens noch eine Stunde dauern – wird der Gefängnisdirektor hier sein! Ich kann ja vor Glück über deine Befreiung die Tränen kaum zurückhalten! Vom Weinen überwältigt. O Klara, du ahnst ja gar nicht, wie gut es dir ergangen ist! In jener gleichen Nacht, in der du damals nach Antwerpen flohst, wurde die unglückliche Frau Fischer, mit der zusammen du angeklagt warst, zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt!

KLARA. Allmächtiger Gott!

JOSEF sachlich. Die Frau Fischer wurde zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt! Ein Jahr von ihrer Strafe hat sie bis heute schon abgebüßt!

DER WACHTMEISTER tritt hastig ein und geht direkt auf das Bett zu. Der Herr Direktor kommt! Haben Sie die Matratze vorschriftsmäßig zurechtgerichtet? Fährt mit der Hand über den oberen Rand des Bettes. Na, Gott sei Dank! Die Zeitungen bemerkend, die auf dem Tisch liegen. Was tut denn der dicke Packen Zeitungen hier?

KLARA. Der Herr Direktor hat mir die Zeitungen eben erst hereingeschickt, damit ich sie dem Datum nach ordnen soll.

DER WACHTMEISTER. Das weiß der Herr Direktor aber doch gar nicht mehr! Ich kriege einen Verweis! Strammstehend, da von außen rasche Schritte laut werden. In Gottes Namen!

JOSEF zu den Damen. Jetzt, bitte, ruhig![28]


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1969, S. 26-29.
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