Fünfte Szene

[29] Der Gefängnisdirektor tritt ein, ein hochgewachsener, rüstiger Graubart in Offiziersuniform mit schweren silbernen Epauletten. Die Vorigen.


DER GEFÄNGNISDIREKTOR. Was fahren heute hier überall, wohin man kommt, diese Zeitungen herum?!

DER WACHTMEISTER. Befehl, Herr Oberst!

KLARA. Die Zeitungen wurden mir hereingebracht, damit ich sie dem Datum nach ordnen soll.

DER GEFÄNGNISDIREKTOR Josef die Hand reichend. Herr Professor! – Wollen Sie mich, bitte, Ihrer Frau Gemahlin vorstellen.

JOSEF. Herr Gefängnisdirektor – meine Frau.

DER GEFÄNGNISDIREKTOR zieht ein Schriftstück aus der Tasche und prüft es von oben bis unten. Zu Klara. Ich habe Ihnen mitzuteilen, daß Ihnen durch Allerhöchste Entschließung seiner Königlichen Hoheit des Großherzogs der Rest Ihrer Strafe – und zwar auf dem Gnadenwege – erlassen ist. Der Allerhöchste Erlaß, den ich hier in Händen halte, ordnet ausdrücklich an, daß Sie mit dem heutigen Tage aus der Haft entlassen werden. – Das Schriftstück zusammenfaltend. Von diesem Augenblicke an sind Sie nicht mehr meine Gefangene. Sich leicht verbeugend und Klara die Hand reichend. Gestatten Sie mir, mein Fräulein, daß ich Sie aufrichtig, aus vollem Herzen, zu Ihrer unverhofften Befreiung beglückwünsche.


Klara sinkt langsam in die Kniee, küßt die Hand des Gefängnisdirektors, die sie in der ihrigen hält; darauf fällt sie vornüber und bricht, auf der Diele zusammengekauert, in herzerschütterndes Wimmern aus.


DER GEFÄNGNISDIREKTOR sehr ruhig zu Josef. Ich habe dem Fräulein vom ersten Tage an Krankenkost verabreichen lassen. Für Leute aus guten Verhältnissen ist der Aufenthalt bei uns eine ganz unverdiente Grausamkeit, während ein Landstreicher jedenfalls nirgends in der Welt gesundere Kost und Pflege findet als hier im Gefängnis.[29]

ELSE ist neben Klara niedergekniet und richtet sie empor. Ich bitte dich, Klara, steh doch ruhig auf! Du bist frei, Klara! Du bist frei!


Klara hat sich wortlos erhoben.


DER GEFÄNGNISDIREKTOR. Diese Kleider hier legen Sie unten bei unserer Zeugmeisterin ab, die Ihre Sachen in Verwahrung hat. Sie werden sich der Güte unseres allergnädigsten Großherzogs erst voll und ganz bewußt werden, wenn Sie sich wieder hübsch und menschlich gekleidet sehen. Vor allem aber, mein Fräulein, muß ich Sie zu den aufopfernden treuen Freunden beglückwünschen, die Sie in Herrn Professor und seiner Frau Gemahlin haben! Daß jemand in seinem tiefsten Elend noch auf solche Freunde rechnen darf, das kommt nur äußerst selten bei uns vor. Josef die Hand reichend. Herr Professor, ich habe Sie als Sänger schon mehrfach an Ihren musikalischen Abenden bewundert. Ich freue mich sehr, Sie bei diesem Anlaß als Lehrer und als Menschen persönlich kennen zu lernen. Zu Klara. Halten Sie sich nur immer an Ihre Freunde, mein Fräulein, dann werden Sie in Zukunft vor solchen Kalamitäten gesichert sein.

JOSEF dem Gefängnisdirektor die Hand reichend. Gestatten Sie, Herr Oberst, daß wir uns empfehlen. Leise zu den Damen. Vorwärts marsch! Hinaus aus diesen Mauern!


Else und Josef führen Klara hinaus.


DER WACHTMEISTER. Zu Befehl, Herr Oberst! Sollen der Gefangenen die Zeitungen nachgeschickt werden?

DER GEFÄNGNISDIREKTOR. Lassen Sie mich doch erst mal sehen, was das ist. Er entfaltet eine der Zeitungen und liest den Titel. Das ist die »Allgemeine Deutsche Musikzeitung«. – Die Zeitungen sollen in unserer Buchbinderei gebunden und der Gefängnisbibliothek einverleibt werden. Unsere Leute hier sind durch die Bank weg außerordentlich stark musikalisch veranlagt.[30]

Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1969, S. 29-31.
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