Zweite Szene

[32] Franz Lindekuh, fünfunddreißig Jahre alt, glattrasiert und kurzgeschoren, tritt ein. Klara.


LINDEKUH bemerkt Klara und sagt erstaunt. Sie sind hier, Fräulein Hühnerwadel?

KLARA hat sich erhoben. Ja, ich bin's, Herr Lindekuh. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen.

LINDEKUH. Allerdings. Anderthalb Jahre werden es sein. – Ist denn Josef nicht zu Hause?

KLARA. Nein. Er ist in der Musikschule. Aber er muß jeden Augenblick kommen.

LINDEKUH. Und Else?

KLARA. Else ist vor einer Stunde ausgegangen.

LINDEKUH. Ist sie wirklich ausgegangen?

KLARA. Ja, oder zweifeln Sie daran?

LINDEKUH. Nicht im geringsten. Sie wird ja wohl auch bald nicht wieder nach Hause kommen?

KLARA. Das weiß ich nicht. – Was haben Sie denn?[32]

LINDEKUH. Ich habe gar nichts. – Entschuldigen Sie, Fräulein Hühnerwadel. – Ich komme her, weil mir Josef in einer wichtigen Angelegenheit schreibt, daß er mich um sechs Uhr bei sich zu Hause sprechen möchte.

KLARA. Er wird ja jedenfalls gleich hier sein.

LINDEKUH. Ich kann ja warten. – – – Ich muß Ihnen aber aufrichtig gestehen, Fräulein Hühnerwadel, daß ich nicht erwartet hätte, Sie hier zu finden!

KLARA. Warum? Was ist denn los?

LINDEKUH. Sie scheinen offenbar keine Ahnung zu haben, was um Sie her vorgeht!

KLARA. Nein, das habe ich auch nicht. Aber sagen Sie es mir, bitte! Ist es irgend etwas, was mich betrifft? – – Nun?! – – Sie benehmen sich mir gegenüber so sonderbar! – Reden Sie doch! – Um Gottes willen, was ist geschehen?!

LINDEKUH. Geschehen? – Er wirft sich in einen Sessel. Geschehen ist – meines Wissens – bis jetzt noch nichts.

KLARA geht an die Türe und ruft auf den Vorplatz hinaus. Hildegard, bringen Sie die Lampe! Sie kommt ins Zimmer zurück und bleibt erwartungsvoll am Flügel stehen.

LINDEKUH nach einer Pause. Was würden Sie, Fräulein Hühnerwadel, denn dazu sagen, wenn Else Reißner von ihrem Ausgang heute nicht mehr zurückkehrte und in einigen Tagen irgendwo tot aus dem Wasser gefischt würde?

KLARA. Was ich dazu sagen würde, wenn – wenn Else Reißner ...?


Das Dienstmädchen bringt die brennende Lampe herein, stellt sie auf den Flügel, schraubt den Docht auf und nieder, bis sie richtig brennt, und geht

wieder hinaus.


LINDEKUH nachdem das Dienstmädchen draußen ist. Was würden Sie dazu sagen?

KLARA. Gott sei Dank, ist es hier endlich hell. – Aber was ist denn mit Else? Ich habe nicht das geringste an ihr bemerkt!

LINDEKUH erhebt sich erstaunt. Ist das Ihr Ernst?

KLARA. So wahr ich hier stehe! Sie ging fort, um, soviel ich weiß, ein Paar Schildpattkämme, die sie vorgestern gekauft hat, umzutauschen. Jetzt sagen Sie mir aber endlich, was Sie von ihr wissen! Sie begehen einen Schurkenstreich, wenn Sie jetzt nicht reden![33]

LINDEKUH. Mein gnädiges Fräulein, soweit ich meiner fünf Sinne mächtig bin, ist Ihre Behauptung, daß Sie nichts von den Vorgängen, die sich in diesem Hause abspielen, wissen, eine – Schamlosigkeit ...

KLARA außer sich. Mein Herr ... Die Hände vor dem Gesicht. O Gott ...

LINDEKUH. Das berührt mich nicht. Aber ich kann um so eher sprechen, da Ihr Verhalten voraussichtlich morgen schon in den Zeitungen erörtert werden wird!

KLARA auffahrend. Ich habe keine Richter und keine Zeitungen mehr zu fürchten! Das habe ich Gott sei Dank hinter mir! Wollen Sie mir jetzt endlich Rede und Antwort stehen!

LINDEKUH. Mit Vergnügen! –

KLARA. Sie scheinen sich aber doch noch zu besinnen?!

LINDEKUH. Weil es mir in diesem Augenblick nicht behagen kann, mich von Ihnen zum Narren halten zu lassen! Wenn in der Zeit, die wie hier mit unnützen Worten vergeuden, ein Menschenleben zum Opfer fällt, dann tragen Sie die Schuld!

KLARA. Ich?

LINDEKUH. Warum zum Teufel warten Sie denn, bis die Polizei Sie als Landstreicherin über die Grenze spediert, bevor Sie diesem Hause endlich den Rücken kehren?!

KLARA ruhig. Sie sind doch wohl nicht so ohne weiteres in der Lage, mein Herr, die Verhältnisse in diesem Hause richtig zu beurteilen.

LINDEKUH. Ich kann Ihnen bei allem, was ich bin und habe, schwören, daß mich die Verhältnisse in diesem Hause nicht im geringsten interessieren! Ich habe Wichtigeres zu tun. Aber seit acht Tagen sehe ich ein gemartertes Menschenkind in der grauenhaftesten Verzweiflung mit dem Selbstmord ringen. Heute vor acht Tagen kam Else Reißner zum erstenmal zu mir. Ich lag noch zu Bett. Sie eröffnete mir unter Weinkrämpfen, daß sie jeden Moment fürchte, wahnsinnig zu werden, weil sie das Verhältnis zwischen Ihnen und ihrem Mann unmöglich länger ertragen könne. Sie beschwor mich, Sie, mein Fräulein, durch irgend eine Gewaltmaßregel, sie sei wie sie sei, zur Abreise zu zwingen. Sie erzählte mir, sie sei[34] auf dem Polizeipräsidium gewesen und habe den Polizeipräsidenten gefragt, ob man Sie, da das Glück einer Familie auf dem Spiel stände, als Ausländerin denn nicht einfach ausweisen könne. Der Polizeipräsident habe ihr aber geantwortet, solange Sie als Musikschülerin von Ihrem eigenen Gelde lebten und noch nicht unter Polizeiaufsicht ständen, sei das leider nicht möglich. Ich erwiderte ihr natürlich. »Warum zum Henker hast du die Dame denn nicht ruhig im Gefängnis sitzen lassen?! Dort war sie doch einfach tadellos aufgehoben!« Ich habe sie übrigens auch ausdrücklich gefragt, ob Josef vielleicht Geld von Ihnen geborgt hat. Wenn das der Fall sei, sagte ich ihr, dann könne sie schlechterdings nichts besseres tun als die Zähne zusammenbeißen und mäuschenstill abwarten, bis ihr Mann seine Schulden an Sie zurückbezahlt habe. Soviel Rücksicht sei eine Frau, deren Haushalt aus dem Darlehen voraussichtlich Gewinn gezogen, ihrem Mann unter allen Umständen schuldig! – »Nein, davon kann gar keine Rede sein! Mein Mann ist der Person nicht einen Pfennig schuldig!« – Vorgestern abend kam sie in einem so fassungslosen, vergeisterten Zustand zu mir, daß ich im Begriff stand, die Sanitätskolonne zu alarmieren, um sie ins Krankenhaus bringen zu lassen. Ich wollte mir ganz einfach die Verantwortung für einen Selbstmord vom Halse schaffen! Sie, mein Fräulein, hatten an dem Tage mit Josef Meißner im Orientalischen Restaurant diniert! Else Reißner wälzte sich wie eine Wahnsinnige vor mir auf dem Teppich und schrie mir ein Mal über das andere zu. »Mach meinem Elend ein Ende, koste es, was es kosten mag! Ich bitte dich nur, meinem Elend ein Ende zu machen.« Ich sagte ihr: »Wenn du im voraus wußtest, daß die zwei im Orientalischen Restaurant dinieren werden, warum gingst du denn nicht mit einer Reitpeitsche hin und schlugst sie der schamlosen Person von rechts und links um die Ohren ...!«[35]


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1969, S. 32-36.
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