Dritte Szene

[36] Josef Reißner. Die Vorigen.


JOSEF eintretend. Was ist denn hier los?

LINDEKUH. Du schriebst mir, daß du mich um sechs Uhr sprechen möchtest. – Ich bin hier.

JOSEF. Ich danke dir. – Ich bitte um Entschuldigung, daß ich mich verspätet habe. – Zu Klara. Wollen Sie uns bitte einen Augenblick allein lassen. Er geleitet Klara hinaus und setzt sich an seinen Schreibtisch, auf den er die Lampe gestellt hat. Indem er Lindekuh einen Sessel zurechtrückt. Darf ich dich bitten, Platz zu nehmen.


Lindekuh setzt sich zu ihm.


JOSEF in einer Schreibtischschublade nach einem Brief suchend. Auf mich hageln die Unannehmlichkeiten augenblicklich so erbarmungslos nieder, daß ich gar nicht weiß, wo mir der Kopf steht. Er hat den Brief gefunden und fliegt ihn durch. Du schreibst mir da, du werdest morgen – das wäre also heute – den Zeitungen beiliegende Notiz einsenden ... Ich muß die Notiz noch einmal durchlesen. Ich habe sie nicht mehr recht im Kopf. Er liest, indem er jeden einzelnen Satz deutlich hervorhebt. »Skandalöser Undank. – Ein empörendes Beispiel von skandalösem Undank bietet der Verlauf einer Strafsache, die vor etwa einem halben Jahr das hiesige Landgericht beschäftigte. Es handelt sich um eine ausländische Musikschülerin, die wegen Vergehens gegen den Paragraphen 812 zu acht Monat Gefängnis verurteilt worden war. Der Gattin ihres Lehrers gelang es dann, durch ein Immediatgesuch an den Landesherrn ihre Begnadigung zu erwirken. Und nun nistete sich die Begnadigte im Hause ihres Lehrers, mit dem sie schon vor ihrer Verurteilung ein Verhältnis unterhielt, mit solcher Hartnäckigkeit ein, daß der unglücklichen Frau, der sie ihre Freiheit verdankt, nichts übrig bleibt, als sich von ihrem Gatten scheiden zu lassen und mit ihren Kindern in die weite Welt hinauszuziehen. Sollte das Gesetz denn gar keine Handhabe bieten, um mit ausländischen[36] Elementen von so skrupelloser Gemütsbeschaffenheit kurzen Prozeß zu machen?!« Ich fand den Brief leider erst heute früh um drei Uhr, als ich hundemüde nach Hause kam. Über Mittag war ich gestern nicht zu Hause gewesen. Ich frage dich nun zuerst: Hast du heute den Zeitungen diese Notiz eingeschickt?

LINDEKUH. Ja! Ich habe sie an sämtliche Zeitungen geschickt.

JOSEF. So?! – Dann sind Else und Fräulein Hühnerwadel und ich verloren! Ich verliere meine Stellung als Professor am Konservatorium und verliere meine sämtlichen Privatschülerinnen!

LINDEKUH. Findest du denn ein Wort in der Notiz unwahr oder übertrieben?

JOSEF. Nein! Aber darüber werden wir später sprechen. – Ich fragte mich, nachdem ich den Brief gelesen, immer und immer wieder vergebens: Welchen Beweggrund kann mein Freund Franz Lindekuh haben, um in dieser – unerhörten Weise gegen mich vorzugehen? Und nun kommt eine zweite Frage, die ich an dich richten muß. Hat dir vielleicht meine Frau durch Äußerungen irgendwelcher Art Veranlassung gegeben, mir diesen Brief zu schreiben?

LINDEKUH. Nein. Das hat sie nicht getan.

JOSEF. Du kannst es mir, wenn es sich so verhält, ruhig sagen. Ich würde es verständlich finden und würde meiner Frau, obschon es eine maßlose Dummheit von ihr gewesen wäre, deswegen kein Haar krümmen.

LINDEKUH. Ich habe deine Frau seit vier Wochen überhaupt nicht mehr gesehen.

JOSEF. Sie kann dir aber geschrieben haben?!

LINDEKUH. Nein, sie hat mir nichts geschrieben! Nicht eine Silbe! Ich kann dir mein Ehrenwort darauf geben.

JOSEF. Aber dann sag mir doch zum Henker einmal, welchen Beweggrund du dazu hast, um uns alle zusammen mit einem Schlage zugrunde zu richten?!

LINDEKUH. Ich – ich konnte die Verhältnisse, in denen du lebst, nicht länger ruhig mit ansehen.

JOSEF. Das war in der Tat auch die einzige Erklärung, die mir für deine Handlungsweise übrig blieb. Du hast einen Sparren! Du giltst infolge deiner Schriften seit Jahren[37] als der unmoralischste Mensch, der unter Gottes Sonne umherläuft, in Wirklichkeit läufst du aber tagaus, tagein mit einem ungestillten, unersättlichen moralischen Heißhunger umher! Du bist moralisch ein Monomane! Du bist ein Don Quichote, der nicht ahnt, um was es sich in dieser Welt handelt, sondern der vom Leben nur die Erfüllung seiner hirnverbrannten Zwangsvorstellungen erwartet und der gemeingefährlich wie ein toller Hund wird, sobald die erhoffte Erfüllung ausbleibt! Du bist einem als Freund durch deinen Wahnsinn gefährlicher, als es einem der erbittertste Feind, der bei gesunder Vernunft ist, durch die abgefeimteste Bosheit werden könnte!

LINDEKUH. Wenn du mir weiter nichts mitzuteilen hast, dann werde ich gehen.

JOSEF. Und – die Notiz steht morgen in den Zeitungen?

LINDEKUH. Gewiß. Die Notiz steht morgen in den Zeitungen.

JOSEF. Nun sag mir einmal, welchen Erfolg du dir denn von dieser Notiz versprichst!

LINDEKUH. Fräulein Hühnerwadel wird ein unverhofftes Wiedersehen mit dem schweizerischen Bundesrat feiern und wird am eidgenössischen Preis- und Wettringfest in Appenzell die Partie der Julia in Spontinis »Vestalin« singen!

JOSEF. Allem Anschein nach fürchtest du also doch, daß meine Frau innerlich unter der Tatsache leidet, daß Fräulein Hühnerwadel trotz ihrer Verurteilung nach wie vor unbehindert in unserem Hause ein und aus geht?

LINDEKUH. Offen gestanden, ja!

JOSEF. Wie kommst du denn aber zu der hirnverrückten Annahme? Meine Frau lebt mit mir in dem glänzendsten Einvernehmen, das sich zwei verheiratete Menschen nur wünschen können!

LINDEKUH. Wie du weißt, kenne ich deine Frau seit nun bald sechs Jahren und hatte in dieser Zeit reichlich Gelegenheit, sie sowohl in glücklichen wie in unglücklichen Gemütsstimmungen zu beobachten. Ich habe deine Frau in Zeiten gesehen, wo sie sich in unserem Kreise als unumschränkte Herrin fühlte; ich habe sie in anderen Zeiten gesehen, wo sie der umsichtigsten Lebensklugheit[38] bedurfte, um ihre Stellung als deine legitime Frau zu behaupten. Aber dieser zur äußersten Zuflucht, zur Lieblingsbeschäftigung gewordene Selbstmordgedanke, den ich jetzt bei jeder Gelegenheit, wo wir uns begegneten, unheilvoller in ihren Zügen lese ... was soll ich dir sagen?! Ich finde seit Tagen, seit Wochen keine Ruhe mehr! Ich kann des Nachts nicht mehr schlafen!

JOSEF. Ich kann dir mit dem besten Gewissen von der Welt die Versicherung geben, daß deine Befürchtungen vollständig unbegründet sind!

LINDEKUH. Das wäre mir eine große, aber überraschende Beruhigung.

JOSEF. Diese Beruhigung kannst du dir aus dem Munde meiner Frau, sobald sie nach Hause kommt, bestätigen lassen. Mach dich nur bitte darauf gefaßt, daß meine Frau vor Empörung über deine Handlungsweise völlig außer sich ist. Selbstverständlich zeigte ich ihr, sobald ich mich vom ersten Schrecken erholt hatte, deinen Brief sowohl wie die Notiz, die du für die Zeitungen geschrieben hast, und fragte sie, was sie mir in der Angelegenheit zu tun rate. Ich frage meine Frau nämlich immer um Rat, wenn ich vor einem wichtigen Entschluß stehe. Meine Frau war zuerst wie aus den Wolken gefallen und brach dann in eine Flut von Schimpfreden über dich aus, die ich dir hier nicht wiederholen will. Sie sagt, wie kommt dieser Lindekuh zu der unerhörten Unverschämtheit, sich in unsere Privatangelegenheiten zu mischen! Kümmern denn wir uns um seine Privatangelegenheiten?! Ich begreife nicht, woher dieser Mensch die Stirne nimmt, uns vorschreiben zu wollen, wie wir uns in unserem eigenen Hause einzurichten haben!

LINDEKUH. In solcher Entrüstung sprach deine Frau über mich?

JOSEF. Laß ihre Ausdrücke bitte mich nicht entgelten! Alles, was ich dir hier sage, kannst du, sobald meine Frau nach Hause kommt, von ihr selber hören.

LINDEKUH. Aus ihrem weiblichen Stolz ist mir diese Empfindungsweise erklärlich. Mein gewaltsames Vorgehen war natürlich darauf berechnet, daß deine Frau nie etwas davon erfahren würde.[39]

JOSEF. Wie konntest du das denn aber bei der uneingeschränkten Offenherzigkeit, in der, wie du weißt, meine Frau und ich miteinander leben, jemals voraussetzen?!

LINDEKUH. Ich konnte das voraussetzen, weil ich glaubte, deine Frau werde Gott für ihre Erlösung danken wie jemand, der nach zweijähriger Kerkerhaft plötzlich in einem idyllischen Blumengarten erwacht!

JOSEF. Und statt dessen wünscht meine Frau dich mit allem, was du für sie tun zu müssen glaubtest, zu allen Teufeln! – Du siehst, daß du der unglückseligste Hansnarr bist, der je das Opfer seiner lebensgefährlichen psychologischen Phantastereien war! Soll ich dir sagen, woher das kommt?! Du lebst zu wenig unter Menschen! Du trinkst zu viel! Du solltest dich endlich einmal verheiraten, um nicht mehr wie eine reißende Bestie durch unsere friedlichen Straßen zu trotten!

LINDEKUH. Weißt du unter deinen Schülerinnen vielleicht ein liebenswürdiges, hübsches Mädchen, das eine solche Bestie heiraten würde?

JOSEF. Vorderhand habe ich leider noch dringendere Angelegenheiten zu erledigen. Bevor ich für dich auf die Brautschau ausziehe, möchte ich wenigstens erst selber vor deiner Raserei in Sicherheit sein. Deshalb bitte ich dich, mir jetzt aufmerksam zuzuhören, sonst laufe ich von neuem Gefahr, infolge irgend eines Mißverständnisses, das kein normaler Mensch voraussehen konnte, zum Opfer deiner blinden Wutanfälle zu werden. Fräulein Hühnerwadel hat mir in einem Augenblick, wo ich nicht aus noch ein wußte, ihr ganzes väterliches Erbteil in Höhe von fünfzigtausend Francs als Darlehen überlassen, nota bene, ohne daß ich nötig hatte, sie mit einem Wort darum zu bitten. Dein unheilvoller Eifer zwingt mich schlechterdings, dir alle, auch die unerfreulichsten Beziehungen, die zwischen Fräulein Hühnerwadel und mir bestehen, rückhaltlos aufzudecken! Das Mädchen hat sich durch dieses Darlehen bis auf den letzten Heller sämtlicher Einkünfte entblößt, die ihr jemals zu ihrer künstlerischen Ausbildung zur Verfügung gestanden haben! Und ich bin leider seit Monaten nicht in der Lage, ihr von meiner Schuld einen Pfennig mehr[40] als das, was sie für ihr tägliches Brot unbedingt nötig hat, zurückbezahlen zu können.

LINDEKUH sich erhebend. Das ändert die Sachlage allerdings gewaltig.

JOSEF. Und nun willst du das Mädchen mit Polizeischergen in die weite Welt hinaushetzen!

LINDEKUH. Gott behüte mich davor!

JOSEF. Wenn du nun einen Funken Ehrgefühl im Leib hast, dann wirst du in die Notiz, die du an die Zeitungen verschickt hast, wenigstens eine ergänzende Bemerkung einflechten müssen. Diese Einflechtung wird freilich nicht hindern, daß Fräulein Hühnerwadel und Else und ich und meine Kinder morgen abend auf dem nackten Straßenpflaster liegen!

LINDEKUH. Wenn sich die Dinge so verhalten, dann verdiene ich totgeprügelt zu werden.

JOSEF sich gleichfalls erhebend. Offenbar glaubtest du meine Frau gegen die Umtriebe einer Dirne, einer Hochstaplerin in Schutz nehmen zu sollen! Laß dir sagen, daß dieses Mädchen das edelste, anständigste Menschenkind ist, das ich jemals kennen gelernt habe! Und was hat sie nun davon, daß sie mir ihren letzten Pfennig zum Opfer brachte?! Tagelang sitzt sie in ihrem möblierten Zimmer in der verlängerten Käferstraße an einem Fenster, das auf den Hof hinausgeht, und wünscht nichts sehnlicher, als der Stadt den Rücken kehren zu können. Von allem künstlerischen und gesellschaftlichen Leben ist sie, da sie mich um keinen Preis kompromittieren will, erbarmungslos ausgeschlossen. Unser Haus ist das einzige in der ganzen Stadt, das ihr offen steht. Dabei hat sie hier wenigstens Gelegenheit, hin und wieder ein wenig zu musizieren. In dem Hinterzimmer, das sie in der Käferstraße bewohnt, ist für ein Pianino leider kein Platz, und wenn sie ihre künstlerischen Zukunftspläne auch längst zu Grabe getragen hat, so ist ihre künstlerische Zukunft ihr eben doch immer noch die teuerste Erinnerung aus ihrer künstlerischen Vergangenheit ...

LINDEKUH. Kann ich vielleicht, bevor ich gehe, noch ein Wort mit der Dame sprechen?

JOSEF. Was führst du denn jetzt wieder im Schilde?[41]

LINDEKUH. Dir, lieber Freund, brauchte ich das wahrlich nicht auf die Nase zu binden!

JOSEF. Ich frage mich natürlich, welch ahnungloses Opfer du denn jetzt wieder meuchlings aus dem Hinterhalt überfallen wirst?!

LINDEKUH. Ich nehme die nächste Automobildroschke, die ich finde, und fahre, so rasch sie mich trägt, von einer Redaktion zur andern, um wenn irgend möglich den Abdruck der Notiz bis morgen noch zu verhindern. – Vorher muß ich aber noch deiner Schülerin sprechen.

JOSEF. Ich werde sie hereinrufen. Aber Ihm die Faust über den Kopf haltend. nimm dich vor mir in acht! Ich warne dich! – Wenn du den geringsten Versuch machst, das Mädchen zu beleidigen, dann – schlage ich dir die Zähne ein und werfe dich kopfüber die Treppe hinunter!

LINDEKUH ihm kalt in die Augen sehend. Traurigerweise muß ich mir diese Behandlung von dir gefallen lassen. Ich habe sie mir durch meine Beschränktheit redlich verdient! – Wo ist die Unglückselige?

JOSEF öffnet die Tür und ruft hinaus. Fräulein Hühnerwadel! – Wollen Sie eben hereinkommen.

KLARA tritt mit ruhigem Stolz ein, zu Lindekuh. Was wünschen Sie noch von mir?

LINDEKUH. Mein gnädiges Fräulein – ich habe Ihnen, als ich vor einer halben Stunde, ohne die Verhältnisse zu kennen, hier eintrat, so weh getan, daß ich mich jeder Demütigung unterziehen würde, die meine unmenschliche Roheit ungeschehen machen könnte. Gott sei Dank können solche Verfehlungen aber trotz ihrer erschütternden Traurigkeit noch zu glücklichen Ergebnissen führen. Ich bitte Sie inständig, mein Fräulein, lassen Sie mich diese einzige Hoffnung als geringen Trost aus unserer unseligen Begegnung mitnehmen! In mir haben Sie in dieser Welt auf lange Zeit Ihren größten Schuldner! Sollten Sie je einmal eines Menschen bedürfen, von dem Sie aus irgend einem Grunde ein großes Opfer zu fordern genötigt sind, dann bitte ich Sie, sich meiner zu erinnern. – Zu Josef. Weiter wollte ich nichts sagen. – Jetzt in die Redaktionen! Ab.[42]


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1969, S. 36-43.
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