Vierte Szene

[43] Josef, Klara.


JOSEF aufatmend. Da geht der Esel hin!

KLARA. Ich merkte sofort, daß es nicht bös von ihm gemeint war.

JOSEF ihm nachsehend. Solch ein Hanswurst! – Bildet sich ein, ich werde vor seinem Revolverjournalismus zu Kreuze kriechen! Sobald der Mensch mit seiner deutschen Literatur nur halb soviel verdient, wie ich mit meiner Gesangspädagogik, dann läßt er den berüchtigtsten Raubmörder, der ihm in die Hände läuft, ungeschoren. In meinen häuslichen Einrichtungen glaubt er endlich den geeigneten Stoff für sein geplantes Sittengemälde gefunden zu haben. Deshalb bietet er sich dir als opferfreudiges Faktotum an! Ich bedanke mich! Ich verspüre nicht die mindeste Lust, mich auf allen Schauspielbühnen als modernen Cagliostro dargestellt zu sehen. Wenn sich mir der Esel noch einmal über die Schwelle wagt, dann schlage ich ihm, bevor er irgend etwas in meinem Hause zu sehen bekommt, den Hirnkasten ein!

KLARA. Mir schien, daß er die Absicht hatte, irgend etwas über uns in den Zeitungen zu veröffentlichen.

JOSEF. Ich habe ihm seine Finger so blutig gequetscht, daß sie ein halbes Jahr lang nicht daran denken, die Feder zu ergreifen! Klara ins Gesicht sehend. Aber nun sag mir endlich einmal, mein liebes Kind, was ist denn nun eigentlich mit dir?! – Seit Tagen und Wochen bist du unausgesetzt in einer Stimmung, als hättest du einen Tümpel voll Kröten verschluckt! Das wird für deine Umgebung auf die Dauer einfach zur Quälerei! Wir bemühen uns hier alle auf das redlichste, um dir dein Unglück so erträglich wie nur irgend möglich zu machen! Jeder Mensch im Hause tut, was er dir an den Augen absehen kann! Und für alles Zartgefühl bekommt man von Morgen bis Abend immer nur das gleiche saure Gesicht zu sehen. Ich wiederhole mir jede Minute, wie unendlich viel du durch mich gelitten hast und wie große Opfer ich dir zu danken habe. Aber ich habe wie jeder Künstler meine Nerven. tagaus tagein ununterbrochen[43] die verkörperte Unzufriedenheit, die sich durch keine Liebenswürdigkeit erschüttern läßt, vor Augen zu haben, das bringt einen schließlich zur hellen Verzweiflung!

KLARA. Mit mir ist nichts.

JOSEF. Das hast du mir schon ein halbes Dutzend mal geantwortet! Wenn nichts mit dir ist, dann benimm dich bitte wie andere Menschen! Ist dir das aber nicht möglich, dann sag mir, was dich daran hindert! Meine Geduld hat schließlich auch ihre Grenzen! Welchen Vorteil erhoffst du dir denn davon, daß du dein Leben damit hinbringst, über längst vergessene Unglücksfälle zu trauern, an denen mit dem besten Willen kein Mensch mehr was ändern kann! Raff doch lieber deine eingeschüchterten Lebensgeister durch einen kräftigen Ruck zusammen und frag dich endlich einmal, wie du dir mit den Hilfsmitteln, die dir augenblicklich zur Verfügung stehen, ein neues, freieres Leben gestalten kannst! Ich rate dir das weiß Gott im Himmel nicht mit der geheimen Absicht, mich deiner zu entledigen! Aber du leidest offenbar an einer Art von Willenslähmung! Du bist infolge deiner aufregenden Erlebnisse Neurasthenikerin geworden! Sobald dein Wille wieder ein festes Ziel erfaßt hat, wirst du mit uns anderen, denen es im Grunde genommen nicht um ein Haar besser geht als dir, deines Daseins endlich auch wieder froh werden können!

KLARA. Mit mir ist nichts.

JOSEF. Nichts? – Nichts! – Nichts bis auf deine verbissene halsstarrige Melancholie, die dich für die bestgemeinten Ratschläge, die man dir erteilt, taub und blind macht! – Es ist rein um aus den Fugen zu gehen! – Von jetzt ab ganz kalt. Meiner selbstlosen unbestechlichen Vernunft nach, für deren Ergebnis ich meinerseits jede Verantwortung ablehne, führt dein Verhalten zu folgendem logischen Schluß. Von jedem modernen Mediziner wird gegen das Leiden, unter dem du dahinsiechst, als erstes und sicherstes Mittel – Luftveränderung verordnet. Mit dem Gelde, das ich dir monatlich von meiner Schuld zurückzahle, kannst du bei deiner Mutter in der Schweiz in jeder Hinsicht behaglicher leben als hier bei uns! Sobald du dich dann von deiner Schwermut nur[44] halbwegs erholt hast – und du wirst dich unter völlig veränderten Verhältnissen rascher erholen, als es dir jetzt glaubhaft erscheint ...

KLARA. Ich kann augenblicklich nicht zu meiner Mutter.

JOSEF. Sag mir bitte, warum nicht!

KLARA aufflammend. Dir, mein Freund, das zu sagen, kann mir noch einmal in diesem Leben einfallen! Alle himmlischen Mächte mögen mich vor dieser Greueltat bewahren! Ohne mich eines Unrechtes zu versehen, bin ich zur gemeinen, verabscheuungswürdigen Verbrecherin geworden! Die niedrigste Entwürdigung, die einem weiblichen Wesen vorbehalten ist, habe ich bis zur Grundhefe ausgekostet, weil ich einmal feige genug war, dir zu offenbaren, wie es mit mir stand! – Nein, mein lieber Freund! Das Kind, das ich jetzt von dir unter dem Herzen trage, ist vor deinen wohlgemeinten Ratschlägen in Sicherheit! Dies Kind gehört mir! Was ich noch an Schrecknissen auszustehen haben werde, bis es das Licht der Welt erblickt, das will ich, wenn Gott mir hilft, mit der letzten Kraft, die mir aus meinen Erlebnissen übrig geblieben ist, freudig auf mich nehmen! Und nachher – nachher habe ich dann Gott sei Dank wenigstens ein lebendes Geschöpf auf dieser Welt, bei dem ich alles Unrecht, das ich erlitten – bei dem ich meine wundervolle Stimme, meine Kunst – bei dem ich alle irdische Herrlichkeit, die ich einst aus meiner künstlerischen Begabung erhoffte – bei dem ich alles, alles vergessen kann!

JOSEF ist fassungslos in einen Sessel gesunken. – Klara – Klara – ich kann es nicht glauben! – Sollte das wahr sein ...?

KLARA in höchstem Stolz. Beklage ich mich denn?! – Will ich irgend etwas von dir?!

JOSEF. Was – in aller Welt – soll denn werden ...?

KLARA. Jetzt schick mich nach Hause zu meiner sechzigjährigen Mutter, wenn du den Mut dazu hast!


Josef glotzt sie mit blöden Augen an. Es klingelt. Gleich darauf tritt Else Reißner ein.


ELSE aufgeregt, in jammerndem Ton. Ach, da seid ihr ja! – Ich kann euch sagen, es ist mit diesen Leuten rein nicht[45] mehr auszuhalten! Vorgestern kaufe ich mir in der Königstraße für achtzehn Mark zwei echte Schildpattkämme und sehe, sobald ich sie zu Hause ins Haar stecken will, daß der eine zerbrochen ist. Und nun behaupten diese Menschen, ich hätte mich in der Elektrischen auf meine Tasche gesetzt, und wollen den Kamm nicht umtauschen. Sie sinkt weinend in einen Sessel. Wenn diesen Spitzbuben ihr Handwerk nicht bald gelegt wird, dann verliere ich noch den Verstand![46]

Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1969, S. 43-47.
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