Der blinde Knabe

[419] O ihr Tage meiner Kindheit,

Nun dahin auf immerdar,

Da die Seele noch in Blindheit,

Noch voll Licht das Auge war:

Meine Blicke ließ ich schweifen

Jedem frei ins Angesicht;

Glauben galt mir für Begreifen

Und Gedanken kannt ich nicht.


Ich begann jedoch zu sinnen

Und zu grübeln hin und her,

Und in meiner Seele drinnen

Schwoll ein wildempörtes Meer.

Meine Blicke senkt ich nieder,

Schaute tief in mich hinein

Und erhob sie nimmer wieder

Zu dem goldnen Sonnenschein.


Mußt ich doch die Welt verachten,

Die mir Gottes Garten schien,

Denn die Guten läßt er schmachten,

Und die Bösen preisen ihn.

Freude, Lust und Ruh vergehen –

Oh, wie wohl war einst dem Kind!

Meine Seele hat gesehen,

Meine Augen wurden blind![419]


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1969, S. 419-420.
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