Die Reform.

Organ der demokratischen Partei in Berlin

(A. Ruge, Redakteur)

[125] Seit gestern abend studiere ich an einem Artikel der »Reform«, des »Organs der demokratischen Partei« in Berlin. Dieser Artikel ist überschrieben: »Die Königliche Botschaft und ihre Folgen.«

Hätte ich seit gestern Steine geklopft, hätte ich den Dreschflegel geführt, hätte ich mich mit einem englischen Porterbrauer geboxt, ich glaube, ich wäre nicht so todmüde als nach dem Studium dieses Artikels.

Wer mag ihn geschrieben haben? Ein Türke? Nein, er hätte es nicht gewagt, er hätte hundert Stockprügel bekommen. Ein Chinese? Nein, man hätte ihn an den nächsten Porzellanturm gehängt. Ein Russe? Nein, man hätte ihn nach Sibirien geschickt. Ein deutscher Gelehrter? Das wäre möglich!

Ein deutscher Gelehrter wagt alles. Er fürchtet weder den Stock noch den Strick, noch eine Reise nach Sibirien. Er scheut nicht einmal die Blamage vor seiner eigenen Partei. Bei einem deutschen Gelehrten ist alles möglich. Sei mir willkommen, o deutscher Gelehrter!

»Es ist von Interesse, die Ereignisse darauf anzusehn, welche Folgen sie in sich tragen.« Mit dieser aus Holz geschnitzten Phrase beginnt der Artikel der »Reform«. Gewöhnliche Menschen würden sagen: Es ist von Interesse,[125] den Geisterseher zu spielen, den Wahrsager oder den Kartenschläger. »Es gehört dazu nichts weiter, als daß man die Ereignisse selbst durchschaut.« Allerdings! Leider sind die Ereignisse aber nicht so leicht zu durchschauen als die deutschen Gelehrten. Die »Reform« gibt dies auch zu, indem sie fortfährt: »In unserm Falle freilich ist dies nicht leicht, wenigstens heute noch nicht.« Gibt es etwas Naiveres als dies »heute noch nicht«? Die »Reform« stellt sich hierdurch auf den Standpunkt einer Hebamme, die das Ereignis der Schwangerschaft zwar in gewisser Weise durchschaut, die aber heute noch nicht sagen kann, ob morgen ein Knabe oder ein Mädchen zum Vorschein kommen wird. Der Kartenschläger ist eine Hebamme geworden. »Heute noch nicht!« sagt die »Reform«, denn: »Es ist zweifelhaft, ob Brandenburgs Ernennung provisorisch oder definitiv, Ernst oder Scherz ist.« Da haben wir's. Das Durchschauen des Ereignisses Brandenburg verursacht unserer Freundin so ungemeines Kopfzerbrechen. Aber nur weiter, Teuerste! Es wird schon gelingen. »Wollen wir also mit völliger Sicherheit das Verhängnis wissen, welches in der Königlichen Botschaft liegt, so müssen wir dieses Entweder-Oder sich erst entscheiden lassen.« Hier macht die »Reform« eine Pause.

Nach allen Fratzen und Schnörkeln ist unsere Freundin, die Hebamme, mit dem überraschenden Resultate niedergekommen, daß man erst den Spaß oder den Ernst der Schwangerschaft abwarten muß, ehe man darüber urteilen kann, ob das Ereignis wirklich mit einem Kinde oder nur mit einer Windblase zu Stuhle kommen wird. Treffliche Kartenschläger! Weise Hebamme! Erst sieht die »Reform« das Ereignis an, um uns weiszumachen,[126] daß sie es durchschauen würde. Dann bemerkt sie aber plötzlich, daß dies doch nicht so leicht ist, und schließlich verzichtet sie ganz darauf und zieht es vor, hübsch abzuwarten. Ich weiß etwas, sagt Peter Simpel. Ich weiß beinah etwas, nein, ich weiß doch nichts.

Der mehr oder minder gelehrte Peter Simpel der »Reform« geht jetzt näher auf den Ernst und den Scherz des Ereignisses ein. Wir müssen gestehen, daß der Scherz uns dabei ausgeht; wir werden sehr ernst. Simpels Stilübungen wirken auf uns wie ein Topf Fliedertee. Wir trocknen den Schweiß von der Stirn. Im Schweiße unseres Angesichts studieren wir Simpels Folgerungen und Schlüsse. Es ist uns, als ob wir in finsterer Nacht durch ein frisch geackertes Feld stolperten, jeden Augenblick meinen wir zu fallen und den Hals zu brechen. Der Artikel der »Reform« ist ein wahrer Dornenpfad für jeden tugendhaften Leser.

»Ist die Ernennung eines parlamentarisch völlig unbekannten Soldaten definitiv und wirklicher Ernst, nun, so ist die Nationalversammlung auf die vollkommenste Machtlosigkeit zurückgeführt.«

Kann sich ein Tertianer besser ausdrücken? »Definitiv und wirklicher Ernst«, »nun, so ist«, »vollkommenste Machtlosigkeit«. Simpel hat drei Redeperlen gefischt, die ihresgleichen suchen.

Wir geben uns Mühe, den hohen Sinn der hohen Worte zu verstehen. Der »kühne Griff« des Königs ist die Ohnmacht der Nationalversammlung, scheint die »Reform« zu sagen; wir bekommen Mut, weiterzulesen: »Ihre, nämlich die einstimmige Verwahrung der Nationalversammlung gegen ein ernstlich gemeintes Ministerium Brandenburg hätte dieses nicht verhindert zu regieren,[127] und der Absolutismus wäre am 3. November 1848 auf die friedlichste Weise von der Welt wieder zurückgekehrt.« Kaum dem ersten Dilemma entronnen, geraten wir in neue Verlegenheit. Meint die »Reform«, daß die Nationalversammlung nur dann etwas vermöchte, wenn ihr der König scherzend gegenüberträte? Die Nationalversammlung mag sich bei Herrn Simpel für diese Artigkeit bedanken.

Aber die »Reform« sieht bereits ein, daß sie einen Bock geschossen hat. Der Grobheit folgt die Entschuldigung auf dem Fuße nach.

»Es wird wohl niemand so blind sein«, ruft sie mit Pathos aus, »um diese Idylle der Knechtschaft, dieses Verzichten des Volkes auf sein ganzes Recht ohne Gewalt für möglich zu halten.«

Das Mögliche wäre also doch wieder unmöglich? Der definitive und wirkliche Ernst wäre also doch wieder nur definitiver und wirklicher Spaß? Wir staunen über die Redekunststücke der »Reform«. Peter Simpel, der noch eben der festen Meinung war, seine eigne Nase abbeißen zu können, er sieht schließlich doch wieder ein, daß es schief darum steht, er gibt den Gedanken auf, er versöhnt sich wieder mit seiner Nase, und wir versöhnen uns wieder mit Peter Simpel; Peter ist ein charmanter Mann. Doch lesen wir weiter.

»Ein ernstliches und definitives Ministerium Brandenburg wäre nichts Geringeres als der Bruch der Krone mit der Nationalversammlung.« Nichts ist verständlicher, nichts ist deutlicher. Aber die »Reform« erschrickt darüber, daß sie so deutlich gewesen ist, und ehe wir's uns versehen, fährt sie fort: »Ist also (mon dieu!) der Bruch vorhanden? (Heiliger Simpel!) Ist der Krieg erklärt?[128]

(Heiliger Peter Simpel!) Nein! er ist dennoch (trotz des also) nicht erklärt. »Wir halten inne, die Geduld reißt uns, nein, das ist zu stark, das geht über die Bäume! Zuerst sagte Simpel: Ich weiß etwas, ich weiß beinah etwas, nein, ich weiß doch nichts! Dann fuhr er fort: Der definitive und wirkliche Ernst ist möglich, er ist beinah möglich, nein, er ist doch nicht möglich! Und jetzt vollendet er und meint: Der Bruch ist da, er ist beinah da, nein, er ist doch nicht da!

Aber die »Reform« ist noch lange nicht fertig. Die »Reform« ist unerschöpflich. »Nein, der Krieg ist dennoch nicht erklärt«, sagt die »Reform«, »oder alle Zeichen müßten trügen. Schon darum glauben wir es nicht, weil es niemand glaubt!« Alle »Weisheit des Kartenschlägers, der Hebamme und Peter Simpels schwinden vor der Jedermanns-Meinung. Der große Mann, der die Ereignisse durchschaut, er ist von der letzten Stufe seines Thrones hinabgepurzelt und in den Kot der allgemeinen Meinung gefallen, wo er mit den Gläubigen glaubt und mit den Zweifelnden zweifelt, mit einem Worte, Peter ist endlich an seinem Platze – leider an einem sehr untergeordneten.

Die »Reform« schließt jetzt die 34 Zeilen lange Passage, in der wir nicht mehr als 17 Stilfehler, Simpeleien und Widersprüche entdeckten, mit der glorreichen Phrase; »So (!) wäre also (!!) das Ministerium Brandenburg nur eine Ephemere; es wäre nicht ernstlich damit gemeint. In diesem Falle muß ein Ministerium aus der Versammlung hervorgehen, und wir hören, daß an ein Ministerium Kirchmann-Rodbertus gedacht wird.«

Nach der »Reform« verhält sich also der König der Nationalversammlung gegenüber rein scherzhaft. Der[129] König hat vollkommenes Recht hiezu. Größeres Recht haben wir aber noch, uns der »Reform« gegenüber scherzhaft zu verhalten, und wir gestehen daher der »Reform«, daß es wirklich sehr scherzhaft mit seinen Lesern umgehen heißt, wenn man sie erst mit den mystischsten »Durchschauungen« ködert, um sie hinterher mit den konfusesten Trivialitäten im Stich zu lassen.

Die »Reform« ergeht sich nun noch in nicht weniger unglücklichen Wendungen als bisher über die möglichen Chancen eines möglichen Ministeriums Kirchmann-Rodbertus. Wir verschonen unsre Leser und uns selbst mit diesen Tiraden, wir können aber nicht der Versuchung widerstehen, wenigstens noch das anzuführen, was die »Reform« mit Hintenansetzung des genannten Ministeriums als ihr Heilmittel anzuempfehlen wagt. »Dessau müßte man sich zum Muster nehmen!« ruft die »Reform« aus. »In dieser (!) Form (! – in dieser Form Dessau) ist eine Versöhnung des Alten und des Neuen, die man eine ehrliche nennen kann. (Ehrlicher Simpel!) Nehmt sie an, wählt ein Ministerium der äußersten (Peter Simpel als äußerster Ministerpräsident!), das heißt der konsequenten Demokratie: und ihr habt eine glorreiche Genesung von dem innern Fieber und von der äußern Ohnmacht. Ihr gründet das neue Deutschland, und honny soit, qui mal y pense! Doch wir verirren uns. – –«

Allerdings! Peter Simpel den Hosenband-Orden für diese Verirrung!

Lang lebe die »Reform«, das »Organ der demokratischen Partei« in Berlin, und lang lebe Peter Simpel, ihr Ereignis durchschauender Denker! Welch eine Partei[130] und welch ein Denker! Es gibt nur eine »Reform«, und Peter Simpel ist ihr Prophet.


Er ist heruntergesimpelt

Und weiß doch selber nicht wie.


Quelle:
Georg Weerth: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Band 4, Berlin 1956/57, S. 125-131.
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