[240] Atreus, Priester.
ATREUS.
Sprich, was willst du hier so früh? –
Was heißt der finstre Blick? der stumme Schmerz,
Der von den Wangen dir in Tränen fällt? –
Du bist mir stets ein Unglücksbote ...
PRIESTER.
Herr,
Verzeih dem Gram, dem Mitleid, welches mir
Die Sprache tötet ...
ATREUS.
Nun?
PRIESTER.
Das Elend wächst[240]
Mit jedem Augenblick. Mit jeder Stunde
Hängt sich ein neu Gewicht an jene Last,
Die uns in Abgrund zieht. Bald ist Mykene
Nicht einer Stadt, nein, einem Schlachtfeld gleich,
Wo zu den Gräbern uns der Raum gebricht!
Gespenstern gleich durchtaumeln deine Bürger
Die Stadt nach Hülf' und fallen auf der Flucht.
Das Kind saugt an der Mutter Brust den Tod
Mit seiner Nahrung ein, indem sie selbst
Zum letztenmal es liebreich an sich drückt.
Noch itzt, ihr Götter! als ich zu dir ging,
Fiel neben mir ein edler, weiser Mann:
Ein Freund sucht' ihn zu retten, hob ihn auf,
Küßt' ihn, und zog den Tod in Küssen ein,
Und fiel auf ihn; sein jüngster Sohn, der ihn
Verfolgt', umfaßte da sein Knie und weinte
Sein Leben aus! ...
ATREUS.
Hab' ich durch meinen Hauch
Sie angesteckt? Was nützt mir die Erzählung?
Kann ich dem Äolus gebieten, daß
Er denen Winden wehrt, die Pest und Tod
Auf uns verwehn?
PRIESTER.
Herr, du bist König, Vater
Von deinem Volk! Ein mitleidsvoller Blick
Stärkt, wie der Sonnenstrahl, ein mattes Herz.
Ein Labetrunk erquickt den Wanderer,
Ob er ihm gleich nicht seinen Weg verkürzt. –
Tu wenigstens noch deine Scheuren auf:
Denn was die Pest verschont, erwürgt der Hunger.
Such, und du suchst umsonst in deinen Tälern,
Die feisten Rinder auf. Das Lamm verhungert
Auf dem versengten Gras!
ATREUS.
So hat das Volk
Den Tod weit weniger zu scheun: es können
Sich Leichen nun von Leichen mästen! ...
PRIESTER.
Ah,[241]
Grausamer! soll die Sonne noch einmal
Ihr Angesicht verbergen: sich die Nacht
In Nacht verhüllen?
ATREUS.
Soll Thyestes mir
Aeropen noch einmal entreißen, mir
Mit dem geheimen Vlies des alten Pelops
Den Zepter rauben?
PRIESTER.
Das du dem Chrisipp,
Nachdem du ihn erwürgt, geraubet hast?
ATREUS.
Verwegner, schweig! ... oh! hätt' Apollo nicht
Sein Heiligtum dir anvertraut ...
PRIESTER.
So wüßt'
Ich, was du tätst! es ist kein Rächer mehr,
Kein Gott mehr, den du scheust: dein Herz frohlockt,
Sieht es die Menschlichkeit in Elend schmachten.
Freund, Bruder, Untertan, und Mensch ... was Mensch?
Die Namen alle sind von dir entweiht.
ATREUS.
Ich bin Monarch – ha! Priester ...
Erbittert.
PRIESTER.
Strafe mich!
Sei ein Monarch und lad auf deine Bürger
Der Götter Zorn: doch zittre, daß dich nicht
Selbst der Ruin bedeckt, der über uns
Schon wankend Schatten wirft, den uns die Götter
In Wundern drohn! Die Pfeile des Apollo
Sind nichts, wenn sie vor dir vorübergehn,
Sind nichts für dich! – doch die Natur erkrankt:
Bald hebt der letzte Stoß dein schmachtend Reich
Aus seinen Angeln und Mykene fällt
Zertrümmert in den Schlund des Tänarus,
Und Atreus fällt mit ihm ...
ATREUS.
Und zittert nicht –
Du sprachst von Wundern, Priester? rede fort!
PRIESTER.
Der Mond erschien, sein silbern Angesicht
Dreimal getaucht in Blut: der alte Hain,
Der zu dem Tempel führt, wo ew'ge Stille
In tiefer Nacht von Taxus und Zypressen[242]
Ehrwürdig herrscht, und wo die Tantaliden
Durch Opfer zu dem Thron sich heiligen,
Ward hell, ganz hell durch einen Blitz und bebte:
Die Spolien des Myrtilus, die Räder
Von falschen Achsen, der zerbrochne Wagen
Und jede Missetat der Tantaler,
Die Phryg'sche Tiara, vom Pelops selbst
Hier aufgehängt, und die gestickte Chlamys
Der Barbarn und der Raub von jedem Feinde,
Die der Triumph an jene Säulen hing,
Fiel durch den Stoß herab ...
ATREUS.
Und dann?
PRIESTER.
Dann stieg
Aus jenem schwarzen Sumpf bei dem Geheule
Der Seelen, die die Pest dem Acheron
Geschickt und die den Wald durchschwebeten,
Plisthen und Tantalus, Thyestens Söhne,
Mit offnem Leib', ihr rauchend Eingeweide
In ihrer Hand, hervor ...
ATREUS.
Bald lehrst du mich
Sie fürchten! – ruften sie nicht den Thyest?
PRIESTER.
Dich, Atreus! Atreus! Atreus! dreimal: dich!
Es brausete der Wald: der Tempel bebte
Und sie verschwanden. Wir, wir, deine Priester,
Gestreckt zu dem Altar, durchbeteten
Die ganze Nacht ...
ATREUS.
Sehr wohl getan! allein
Was ist's, das mich erschüttert? Schrecklich! schrecklich!
Die Geister fodern von mir ihren Vater.
Der Tartarus ist nicht in meiner Macht,
Sonst schlöss' ich sie an einem Kaukasus
Mit ew'gen Fesseln an.
PRIESTER.
Indessen wähnt
Dein traurig Volk, daß du ihm helfen kannst.
Sie stehn an deinem Schloß: ihr stummer Gram,
Ihr Auge, das voll Ernst zur Erde schaut,[243]
Und die erhobne Hand spricht ihren Schmerz,
Da zum Geschrei um Hülfe Kraft gebricht.
Gebrochen nennen sie nur dich, und ächzen.
ATREUS.
So lehre mich, wodurch ich helfen kann:
Mein Arm ist gleich gestreckt. Schon ist Aegisth
Nach Delphos abgesandt, den Gott um Rat
Zu fragen, der ihn in Orakeln gibt.
Er mag uns lehren, was er von uns will:
Vielleicht, ich hoff' es selbst, kömmt er noch heute
Zurück, denn schon könnt' er zurücke sein. –
Brauchst du noch Opfer? gut, so opfre, prüfe,
Forsch allem nach, was Götter uns versöhnt!
Willst du noch mehr? sieh! ich verweigre nichts.
PRIESTER.
So wohne selbst heut unserm Opfer bei,
Damit das Volk sieht, daß du Götter glaubst,
Für seine Not sie zu erweichen suchst,
Und da du sie durch Opfer erst erzürnt,
Durch Opfer sie auch nun besänft'gen willst.
Du weißt ja gnug den heiligen Gebrauch,
Beiseite.
Der unter deiner Hand zum Fluch uns ward.
ATREUS.
Ja ja, ich weiß schon, was du murrst! – Es sei!
Geh, schmücke den Altar! laß Weihrauch glühn,
Und zier ein Opfertier mit aller Pracht
Der Zeremonie! – Ich opfre selbst ...
Wer kömmt? – Aegisth?
Buchempfehlung
Als »Komischer Anhang« 1801 seinem Roman »Titan« beigegeben, beschreibt Jean Paul die vierzehn Fahrten seines Luftschiffers Giannozzos, die er mit folgenden Worten einleitet: »Trefft ihr einen Schwarzkopf in grünem Mantel einmal auf der Erde, und zwar so, daß er den Hals gebrochen: so tragt ihn in eure Kirchenbücher unter dem Namen Giannozzo ein; und gebt dieses Luft-Schiffs-Journal von ihm unter dem Titel ›Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten‹ heraus.«
72 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro