Dritter Auftritt

[244] Atreus, Priester, Aegisth.


PRIESTER.

Erlaube, Herr, daß ich

Gleich des Orakels Spruch vernehmen darf.

Oh! daß er Heil dem Volk, Heil dir sein möge!

AEGISTH.

Mykenens Glück, Herr, ist in deiner Hand!

Die Götter zeigen dir das Mittel an,

Wodurch man leicht des Todes Rachen stopft,

Der ungesättigt würgt ...[244]

PRIESTER.

Und wie? geschwind!

Indem du sprichst, gehn hunderte verloren!

AEGISTH.

Noch mehr! sie liefern dir das Mittel selbst!

ATREUS.

Wohl! sprich! –

AEGISTH.

»Sobald der Bruder des Thyest ...«

ATREUS.

Verwegner! nannte mich der Götterspruch

Also?

AEGISTH.

Die Worte selbst, die Pythia

Vom Dreifuß mir in heil'gen Murmeln gab:

»Sobald der Bruder des Thyest mit Blut

Den Bruder ausgesöhnt; das Blut durch Blut

Von dem entweihten Altar wäscht; das Reich

Nicht mehr die Brüder trennt ...«

ATREUS.

Es gebe mir

Thyesten erst zurück!

AEGISTH.

»Soll auch der Fluch,

Der auf Mykene ruht, wie Nebel fliehn.«

ATREUS.

Ha! das Orakel liebt die Nebel sehr! ...

Verstehst du, Greis, was es von uns begehrt?

PRIESTER.

Ich weiß es nicht; – Vielleicht, Herr, sollst du tun,

Was die Gerechtigkeit dich längst gelehrt,

Das Reich geteilt ...

ATREUS.

Wer hat dich das gelehrt?

Eh stürzet sich der Arktos in das Meer,

Eh grünt die Saat auf dem Jonschen Meere,

Eh gibt die Mitternacht der Welt das Licht,

Eh tritt die Flut mit Flammen, eh der Tod

Mit Leben, eh der Wind mit Wellen in

Den Bund, eh dies Thyest ...

PRIESTER.

Nein, sprich, eh Atreus

Dies ...

ATREUS.

Könnt' ich es? – Wo find' ich den Thyest? –

Soll ich nach ihm das weite Meer durchziehn? –

Würd' er mir traun?

PRIESTER.

Dein Fehler!

AEGISTH.

Er ist hier![245]

ATREUS UND PRIESTER zugleich.

Thyest?

AEGISTH.

Ja, Herr, er selbst!

ATREUS.

Dies wagt er? – Er?

AEGISTH.

Nein, durch Gewalt und List ward er verführt!

Der Götterspruch schien mir zu aufgeklärt,

Als daß ich ihn zu unserm Untergange

Entweichen ließ.

PRIESTER beiseite.

Ihr Götter! welch Gewitter

Türmt sich aufs neu!

ATREUS.

Wo ist er? sprich! geschwind!

Kann er entfliehn?

AEGISTH.

Er ist noch auf dem Schiffe,

Das uns hierher von Delphis trug, und fleht

Um seinen Tod, damit er dich nicht sehe.

ATREUS.

Wie? wo? und wann? ... doch, Priester, geh, vollziehe,

Was ich gebot!

PRIESTER.

Vergönn', daß ich erst die Geschichte

Ganz höre! Dieser Tag wird für Mykenens Heil

Zu wichtig, fodert uns zu Opfern auf,

Die nicht der Götter Zorn noch mehr entflammen! –


Atreus stampft zornig mit dem Fuße.


AEGISTH.

Er kam versteckt im traurigsten Gewande,

Um beim Orakel Rat zu fragen. Da

Flößt ihm ein Gott, ich weiß nicht, welchen Trieb

Der Freundschaft für mich ein; er liebte mich,

Ich ihn ...

ATREUS.

Du ihn?

AEGISTH.

Doch ich verschwieg ihm treu,

Wie du gebotst, von wannen und warum

Ich käm'. Er tat es ebenfalls: jedoch

Ein Kaledonier verriet es mir,

Der ihn begleitete. Es hatte schon

Die Pythia die Antwort mir gegeben;

Ich sah in ihm der Götter Fingerzeig,

Den hellen Weg aus unserm Labyrinthe.

Er ging, um sich, wie er mir frei gestand,[246]

In dem Gebürg', das seinen Rücken hoch

Um Delphos dreht, vor einem grimm'gen Feinde

Tief zu verbergen. Ich verfolgt' ihn heimlich,

Ergriff ihn bei der Nacht in einer Kluft

Am Berge des Parnaß, und hier entdeckt'

Ich ihm der Götter Rat. –

PRIESTER beiseite.

Unglücklicher!

ATREUS.

Und er?

AEGISTH.

Ich rufte Berg und Hügeln zu,

Auf ihn zu fallen, ihn in Grund zu schlagen!

Klagt Erd' und Himmel an; fleht, winselt, schreit:

Nicht des Orakels Spruch, die Hoffnung nicht,

Nicht jeder Trost, den ich ihm tränend gab,

Besänftigt ihn ...

ATREUS beiseite.

Er weiß, was er verdient!

AEGISTH.

Und ich gesteh', er hätte mich erweicht,

Wenn Argos' Heil, wenn unser Elend nicht,

Die Hoffnung nicht, uns davon frei zu sehn,

(Wann du in ihm der Götter Spruch erfüllst) ...

ATREUS.

Genug, Aegisth!

PRIESTER.

Ich eile schnell, dem Volke

Den Funken Trost in seiner Not zu geben: ...

Ihr Götter, steht uns bei!

ATREUS.

Geht nicht zu weit!

Verbirg es wenigstens, daß hier Thyest

In Argos ist, bis sich der Götter Wille

Uns mehr erklärt ...

PRIESTER.

Ich kenne meine Pflicht.


Geht ab.


Quelle:
Das Drama des Gegeneinander in den sechziger Jahren, Trauerspiele von Christian Felix Weiße. Leipzig 1938, S. 244-247.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Die Sängerin Marie Ladenbauer erblindet nach einer Krankheit. Ihr Freund Karl Breiteneder scheitert mit dem Versuch einer Wiederannäherung nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt seit der Erblindung. »Das neue Lied« und vier weitere Erzählungen aus den Jahren 1905 bis 1911. »Geschichte eines Genies«, »Der Tod des Junggesellen«, »Der tote Gabriel«, und »Das Tagebuch der Redegonda«.

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon