4. III. 29

[121] Wenn ich Florian etwa zufällig am Vormittag getroffen, ihm die Hand geschüttelt und von der Bedeutung dieses Tages, der Bedeutung des vierten März des Jahres 1929 für ihn gesprochen hätte, ja, aber das war eben im Grund das Unmögliche bei der Geschichte. Denn Florian wußte nichts von dieser Bedeutung, er hatte keine Ahnung davon, ich übrigens ebensowenig, gewiß nicht, wie sollte ich auch. Aber es fiel mir so ein: »Florian,« hätte ich etwa sagen können, »es ist für diese frühe Jahreszeit ein selten schöner und warmer Tag. – Ein seltener Tag, Florian.« – »Selten?« hätte Florian dann gefragt, etwas erstaunt. »Ich kann es durchaus nicht finden. Es ist einer dieser vielen Tage, im Gegenteil, wissen Sie,« aber er lächelt dabei und darum weiß ich, daß es einer der vielen schöneren Tage ist, den er meint. »Sehen Sie,« fährt er fort, »da steht man auf,« und er reckt ein wenig die Arme. Er lächelt wieder mit seinem etwas jungenhaften Lächeln, das ihm gut steht; zwei kleine Mädchen, die vorübergehen, schenken ihm einen zärtlichen Blick. »Man steht auf, man wäscht sich, zieht sich anes gehört viel Geduld dazu, wenn man weiß, daß man es immer wieder von Neuem tun wird, morgen, übermorgen, immerzu... Man frühstückt, liest die Zeitung, – wer übrigens, glauben Sie, hat Daisy umgebracht?« Und er entwickelt mir eine spitzfindige Vermutung in Zusammenhang mit einem Kriminalroman, der eben im Feuilleton der Zeitung läuft,[121] und den die ganze Stadt mit Hingabe verfolgt. »Ich weiß es nicht, Florian,« sage ich, etwas zu gleichgültig vielleicht, denn er schweigt einen Augenblick enttäuscht. Ich möchte ihm gerne etwas anderes sagen, etwas, das mit dem Datum dieses Tages zusammenhängt. Aber ich fange es denkbar ungeschickt an. Er sieht mir einen Augenblick nachdenklich ins Gesicht. Er denkt, ich sei ein wenig sonderbar, gleichviel; man soll nicht allzu kritisch sein, Mitmenschen gegenüber.

Er schiebt versöhnlich seinen Arm in meinen, er nimmt mich mit, ein Stück seines Weges, denn er ist unterwegs. Er hat noch Zeit, gewiß. Sein Posten auf der Bank ist ihm sicher, Florian füllt ihn aus, er ist wie geschaffen für ihn. Er kann sich auf Grund seiner Tüchtigkeit schon manche kleine Freiheit leisten; es kommt auf eine Stunde nicht an, wenn am Samstag der Zug in die Berge ein wenig vor Büroschluß abgeht.

Er hat mit seinen dreißig Jahren schon allerlei erlebt, Dinge, die man seinem jungenhaften Lächeln nicht zutraut und von denen er umso lieber spricht. Das mangelnde Interesse für Daisy hat er mir schon verziehen. »Meine Frau, sehen Sie,« erklärt er nun, »ich bin furchtbar hereingefallen damals. Sie war vor der Verlobung schon leidend; sie machte sich noch kränker, weil sie gesund erscheinen wollte.« Nun stehen sie in Scheidung, er wird ihr eine kleine Rente zahlen müssen; es wird sich nicht umgehen lassen, so ärgerlich es ist. Denn er will wieder heiraten, natürlich; ich muß sie übrigens damals gesehen haben, blond, in einem blauen Strickkostüm, jawohl. Sie passen glänzend zusammen, gute Familie, frisch und unternehmend[122]er seufzt, da er sich an die andere erinnert. Aber dann lächelt er schon wieder. Es wird noch eine Weile dauern. Eben der Rente wegen, die das knappe Gehalt noch um ein Drittel kürzt. In drei Jahren hat er die nächste Gehaltsklasse erreicht. Dann wird es möglich sein. Bis dahin eben – und er hebt wieder lächelnd seine Schultern.

»Florian,« sage ich. Ich habe ein Bedürfnis seinen Namen zu nennen, ich finde, während ich ihn ausspreche, daß es ein hübscher Name ist. Er wird sich gut ausnehmen, mit dem Datum zusammen, dem vierten März des Jahres 1929 darunter.... »Florian,« sage ich eindringlich, »wissen Sie, welcher Tag heute ist?«

Nun findet er mich allmählich albern. Er zieht seine Uhr aus der Tasche, eine hübsche goldene Uhr mit einem Sprungdeckel, den er genießerisch aufklappen läßt. »Nun wird es langsam Zeit.« Mit dieser Bemerkung verabschiedet er mich. Er geht seines Weges weiter, um eine Ecke, drei, vier Ecken, ich weiß es nicht, und dann, irgendwo, faßt ihn das Auto und er ist tot.

Er ist tot. Ganz einfach, ganz unwiderruflich tot, Ich habe es in der Zeitung gelesen: »Der Unglückliche war augenblicklich tot.« Und dabei fiel mir dieses Gespräch ein, das ich mit Florian hätte führen können, wenn ich ihm begegnet wäre. Aber vielleicht ist es Florian gar nicht gewesen. Oder, da ich ihn nur sehr oberflächlich kannte, sind seine Umstände, von denen er mir erzählte, andere gewesen? Er war vielleicht verheiratet, glücklich, hatte Kinder? Sparte er auf ein Wochenendhaus und stellte schon eine kleine optimistische Berechnung an? Oder[123] war er schon älter über die Wünsche hinaus, ein wenig griesgrämig und mit Sorgen um sein Alter belastet? Er konnte Ingenieur gewesen sein, Lehrer auch, ein Student vielleicht, den der Gedanke an das Examen erfüllte. Irgend etwas war er gewesen, wenngleich nicht das, was die Zeitung von ihm behauptete: ein Unglücklicher. Wann, in aller Welt, hätte er Zeit dazu gehabt, da er doch augenblicklich tot war?!

Das ist es, Freunde, was mich noch immer Florian nicht vergessen läßt, obwohl wir uns nur oberflächlich kannten: ich spüre dem Begriff des »augenblicklich« nach und fürchte fast, daß auch der Bruchteil eines Augenblickes Länge haben kann. Vielleicht hat er genügt, daß Florian über die Bedeutung dieses Tages sich doch noch hat klar werden können. »Zu spät,« dachte es dann in ihm, »zu spät.« Und vielleicht hat dieser Bruchteil eines Augenblickes ihm noch genügt, sich zu erinnern, daß er mit jemand gesprochen hat, vorhin gesprochen hat, vor einem Augenblick gesprochen hat – er wird mit keinem guten Gedanken an diesen Menschen denken, wenn schon er nicht mehr finden kann, warum.

Ich bin es nicht gewesen, Florian, der dir auf deinem Weg begegnete. Und wenn ich dich getroffen hätte, konnte ich eine Ahnung von deinem Schicksal haben, dem Schicksal, dem du so ahnungslos entgegengingst, daß du um Daisys willen dich noch in eine spitzfindige Betrachtung eingelassen hast? Ach, es lag kein Betrug in meinen Augen, Florian, als sie dein sorgloses Gesicht ansahen. Ich bin kein Hellseher, Florian.

Und wenn, und wenn, – was hätte ich dir sagen sollen?...[124]

Quelle:
Maria Luise Weissmann: Gesammelte Dichtungen, Pasing 1932, S. 121-125.
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