59. Gemähld der Gloriana

[474] Kam Gloriana gleich auf einem Thron zur Welt,

Und findet man gleich in den Strahlen,

Die ihr holdseelig Antlitz mahlen,

Was alle Welt verehrt, und aller Welt gefällt;

So weicht doch ihrem Glaub' ihr Königlicher Stand,

Und vor der Tugend wird die Schönheit kaum erkant.

Gereitzt durch Hoheit und durch Liebe,

Weil ihr ein junger Held die erste Krohn anträgt;

So meistert sie so ihre Triebe,

Dass wegen des Bedings sie seuftzend beyd' abschlägt.

Was vormals Römisch war, das war auch insgemein

Dem Königlichen Nahm' unhold;1

Hergegen Gloriana wolt'

Zwar eine Königin, nicht aber Römisch sein.

Die selber, welche sie im Glauben irrig nennen,

Die müssen doch in ihr der Tugend Wehrt erkennen:

Weil alle Welt mit mir gesteht,

Dass niemand über diesen geht,[474]

Den man so jung erwehlt die erste Krohn zu tragen;

Als die, die sie hat abgeschlagen.


Fußnoten

1 Dem Königlichen Nahm' Unhold. Der Königliche Nahm war bey den alten Römern so verhasst; dass Titus Vespasianus selbst, seine geliebte Berenice nur deswegen verlassen musste, weil sie eine Königin war.


Quelle:
Christian Wernicke: Epigramme, Berlin 1909, S. 474-475.
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