Zweites Kapitel

[505] So überzeugend dieses alles Vignalis Macht und Herrmanns Schwäche bewies, so trieb sie doch ihre Überlegenheit bei einem andern Vorfalle ein paar Wochen darauf viel weiter. Nach Schwingers Berichte hatte Herrmanns Vater schon in der Mitte des Februars den christlichen Leinweber verlassen: nach langem Herumschweifen war er im Mai, seinem Vorsatze gemäß, zu Berlin angekommen: allein wie sollte er ohne Adresse in dem weiten Berlin seinen Sohn finden? Er lief bei allen Kaufleuten herum, ihn auszufragen, und lief so lange, bis er zu dem gewesenen Lehrherrn seines Sohnes kam, der ihn anweisen ließ: er erzählte ihm aber zugleich in der Kürze so viel von Herrmanns itzigen Umständen, daß dem Alten der Zorn aufschwoll: er nahm sich fest vor, den ungeratenen Jungen tüchtig auszuhunzen, daß er sich zu dem vornehmen Leben hätte verführen lassen.

Als er in Vignalis Haus anlangte und auf seine Anfrage erfuhr, daß Herrmann hier wohne und sich in diesem Zimmer bei Vignali befinde, wollte er geradezugehn: der Bediente hielt ihn zurück und erbot sich, seinen Sohn herauszurufen. – »Was?« rief der Alte, »der Hans Lump, mein Sohn, soll mich vor der Tür sprechen?« – »Aber es ist Madam Vignalis Zimmer«, erwiderte der Bediente. – »Was geht mich deine Madam Maulaffe an?« schrie der Alte und stieß ihn von sich. »Ich will hinein, und wenn hundert Madams drinne steckten.« – Auch ging er wirklich, ohne nur anzuklopfen, ins Zimmer. Herrmann erkannte sogleich seinen Vater und erschrak bis zum Zittern: der Alte hingegen lief mit aufgehobnem[505] Stocke auf ihn zu. »Du Halunke!« war sein Gruß. »Bist du schon so hochmütig geworden, daß du deinen Vater vor der Tür sprechen willst? Sag mir einmal, Schurke! wie wärest du denn auf die Welt gekommen, wenn ich nicht getan hätte? Und nun soll sich dein Vater bei dir, Hans Lump, erst melden lassen? Daß du's weißt, ich habe deine Mutter bei dem Leinweber sitzenlassen und bleibe bei dir. Nille hat den Durchbruch so gewaltig gekriegt, daß kein ehrlicher Mann bei ihr aushalten kann; und der Leinweber ist auch so ein verflucht frommer Kerl, daß sie mich beide so lange gepeinigt haben, bis ich davonlief. Der Narr meinte, ich wäre so ein roher Heide, daß die Gnade gar nicht bei mir durchschlagen könnte: für den rohen Heiden gab ich ihm eine derbe Ohrfeige und ging meinen Weg.– Ihr habt verdammt schlechten Branntewein in eurer schönen Stadt: ich habe noch keinen gescheiten Tropfen hier getrunken. – Ja, mein lieber Sohn, da hab ich etwas Rechtes ausgestanden. Im Fieber konnt ich mich meiner Haut nicht wehren, da mußt ich beten, daß mir hören und sehen verging. Da ich wieder bei Kräften war, ließ ich mich nicht länger plagen: ich sagte ihnen geradezu, daß sie ein paar Narren wären, die man ins Tollhaus bringen sollte, und daß ich beten wollte, wenn ich Lust hätte: aber in der Krankheit mußt ich alle Stunden ein Gebetbuch durchlesen: das war ein elendes Leben! – Aber sage mir, Heinrich! läßt du mich denn so trocken dasitzen? Ich dächte, du könntest deinem Vater wohl etwas vorsetzen.«

Herrmann bat, ihn auf sein Zimmer zu begleiten, um Madam Vignali nicht zu belästigen, allein der Alte versicherte ihn, daß es hier sehr hübsch wäre. Er hatte während seiner Erzählung bereits einen Stuhl in Besitz genommen und saß mit voller Bequemlichkeit da, den Hut auf dem Kopfe und den Rücken nach Vignali gekehrt, die er in der ersten Berauschung seines väterlichen Grußes ganz übersah. Sie erschnappte aus seiner Anrede gerade die wenigen deutschen Worte, die sie verstund: sie hörte ihn sehr oft ›Vater‹ wiederholen und sogar die Benennung ›mein lieber Sohn‹: Herrmanns Bestürzung, als der Fremde hereintrat, die Freude, die[506] mitten aus seiner Verwirrung hervorleuchtete, und die beständige Unruhe, womit er von Zeit zu Zeit nach ihr hinsah, machten ihr die Vermutung ungemein wahrscheinlich, daß es sein Vater sei. Sie fragte ihn französisch, ob sie recht vermutet habe, und eine gewisse Scham hielt ihn zurück, einen Mann ohne Sitten für seinen Vater vor ihr zu erkennen: er ließ ihre Frage unbeantwortet und suchte den Alten durch alle mögliche Vorstellungen auf sein Zimmer zu bringen: er war unbeweglich. Vignali setzte ihm auf der andern Seite mit gehäuften Fragen zu, daß er ihr endlich ein gestammeltes, unruhiges »Oui« zur Antwort gab. Der Alte fuhr indessen ungehindert in seinen Reden fort, schlug auf den Tisch und machte tausend von seinen geräuschvollen Gebärden: besonders schalt er seinen Sohn aus, daß er sich wider seine Warnung mit dem vornehmen Leben eingelassen habe. »Was ist denn das für ein Mensch?« fragte er endlich und wies auf Vignali. – »Ich bitte um etwas mehr Anständigkeit in den Ausdrücken«, antwortete Herrmann mit ärgerlichem Tone.

Der Vater. Was? du willst deinen Vater lehren, wie er reden soll? Wenn ich mich nicht zu sehr freute, dich wiederzusehn, ich drückte dir das Genicke ein wie einem Krammetsvogel. Ich will reden, wie mir der Schnabel gewachsen ist; und daran soll mich so ein vornehmer Hundejunge wie du nicht hindern: kein Kaiser und kein König soll's, solang er mir nicht die Zunge ausschneiden läßt. Wenn ich nur erst meinen Gaum geletzt habe, dann soll's besser gehn. Aber sage mir nur, was du da stehst wie ein alter Kehrbesen? So rühr dich doch! In den schönen Zimmern geht's verzweifelt hungerleidig zu: denkst du, daß ich satt werde, wenn ich die bunten Wände ansehe? Schaff etwas Gutes zu essen und zu trinken! dann wollen wir etwas Rechtes zusammen schnaken. – Du Bube frissest hier wie ein Papagei im goldnen Käfig, lauter artige feine Leckerbissen, und dein armer Vater hat drei Monate hier gelebt wie ein Hundsfott: es fehlte nicht viel, so mußt ich das Brot vor den Türen suchen. Ich habe meiner Nille alles Geld mitgenommen, was noch da war: sie mag[507] sehn, wie sie sich etwas verdient. Sie ist ja unter Dach und Fach, und ich muß wie ein Storch in der Welt herumfliegen. – Das Leben bei dem Leinweber war ein verfluchtes Leben: ich mußte Garn winden wie ein Waisenjunge, und meine Nille spann und betete laut dazu. Der Leinweber sang und akkompagnierte mit seinem Weberstuhle: ich fluchte und knurrte wie ein Bär: das war eine Teufelsmusik. – Hol mir Feuer! ich will mir mein Pfeifchen indessen anstecken, bis etwas zu trinken kömmt. – Was lauerst du denn? Deinen Vater mußt du bedienen, wenn du gleich eine ganze Goldfabrik auf dem Kleide hättest. –

Vignali, als sie ihn ein kleines beräuchertes Pfeifchen aus der Tasche ziehen sah, erzürnte sich und sprach unwillig zu Herrmann: »Sie werden doch ein solches Schwein nicht für Ihren Vater erkennen? Ich will ihn fortjagen lassen.« – Sie klingelte dem Bedienten. Herrmann, voll kochender Unruhe, lief ihr nach und beschwor sie, keine Gewalt zu gebrauchen. – »Wenn Sie sich unterstehen«, sprach sie drohend, »gegen irgend jemanden zu bekennen, daß er Ihr Vater ist, so zittern Sie! Glauben Sie, daß Vignali sich mit der Gesellschaft eines Menschen entehren wird, der ein solcher Urang-utang angehört?« –

Der Bediente erschien, und Vignali gab ihm Befehl, diesen Wilden aus dem Hause zu schaffen, in Güte oder Gewalt. Herrmann bat den Bedienten inständigst, ihm nicht unsanft zu begegnen, weil er betrunken sei.

Der Vater. Was? dein Vater wäre betrunken?

Herrmann. Ich kenne keinen Vater, der sich ungesittet aufführt.

Der Vater. Du vergold'ter Halunke willst deinen Vater verleugnen? – Die Hand wird dir aus dem Grabe wachsen.

Herrmann. Ein ungesitteter Mann kann mein Vater nicht sein. –

Vignali. Führt ihn fort, den Trunkenbold! –

Der Bediente faßte ihn an und zerrte ihn nicht mit der sanftesten Manier nach der Tür hin: der Alte fluchte und schimpfte unaufhörlich auf seinen gottlosen Sohn und die Hure, die[508] ihn verleitete, ihn zu verleugnen, riß sich von dem Bedienten los und trat mitten ins Zimmer. »Sage mir«, rief er geifernd, »bin ich nicht dein Vater?« – »Nein!« antwortete Herrmann hastig mit erstickender Beklemmung. – »O so schlage dich aller Welt Donnerwetter in die Erde zusammen, du Höllenbrut!« – das war sein Abschied; denn der Bediente schleuderte ihn unversehens zur Tür hinaus, und Vignali schob den Riegel vor.

Herrmann lief wie ein Halbrasender im Zimmer herum, schlug sich an die Stirn und rief aus: »O ich bin ein Ungeheuer, und Sie, Vignali, machen mich dazu.«

Vignali. Ein Tor sind Sie! – Bedauern Sie es noch, daß Sie von der schönen Anverwandtschaft befreit sind?

Herrmann. Aber er ist mein Vater!

Vignali. Und sollt es nicht sein! Auch die Melone wächst aus Miste. Es ist unverschämt, daß Sie ihn in meiner Gegenwart für Ihren Vater erkannten. Überlegten Sie nicht, was ich empfinden mußte, den Menschen, den ich mit meiner Freundschaft beehre, als den Sohn eines solchen Ungeheuers zu erblicken? Wenn Sie das nicht überlegten, so will ich Ihnen sagen, was ich empfand – ich schämte mich Ihrer. – Diese Anverwandtschaft bleibt ein Geheimnis unter uns beiden: wo Sie noch sonst jemanden Anteil daran haben lassen, dann veracht ich Sie.

Herrmann. Und wenn Sie mich auf der Stelle mit der empfindlichsten Verachtung straften, so kann ich kein Barbar sein und meinen Vater im Elende schmachten lassen.

Vignali. Wer verlangt denn das? – Er soll essen und trinken, soviel ihm beliebt: nur Ihr Vater darf er nicht sein. Ich will ihm einen Louisdor geben: dann mag er den Weg wieder nach Hause suchen. –

Sie rief dem Bedienten, der mit der Nachricht zurückkam, daß der Mann verrückt sein müßte; er sei gar nicht aus dem Hause zu bringen. Er überlieferte ihm auf Vignalis Befehl den Louisdor, allein der Alte warf ihn fluchend auf die Erde und ging mit den schrecklichsten Verwünschungen fort.

»O des empfindlichen Knabens!« fing Vignali spöttelnd an,[509] als der Bediente dieses erzählt hatte. »Sie sollten sich schämen: wahrhaftig, die Tränen stehn Ihnen in den Augen.«

Herrmann. Und mein Herz zerfließt darinne.

Vignali. Sie haben ein lächerliches Herz: es weiß immer nicht, was es will. – Wer ist Ihnen mehr? Vignali oder dieser Irokese? – wenn Sie diesen vorziehn, begleiten Sie ihn!

Herrmann. Das will ich! Tausendmal besser, ein Bettler sein, als die ersten heiligsten Pflichten der Natur verleugnen!

Vignali. Aber mein lieber Gewissenhafter! Du nimmst doch auch die arme Vignali mit, wenn du gehst? – Denn ich bilde mir ein, du liebst die Frau zu sehr, als daß du sie so allein lassen solltest. Ich kann mich irren: aber ich bilde mir fest ein, daß du nicht ohne mich sein kannst.

Herrmann. Ich möchte, daß Sie nicht wahr redeten!

Vignali. Aber ich dächte auch, die Frau hätt es um dich verdient: sie liebt dich so zärtlich und pflegt dich wie einen Prinzen: das verdient allerdings Erkenntlichkeit; und du bist gewissenhaft – o so gewissenhaft, daß man dich einmal kanonisieren wird! So ein dankbarer Mensch gäbe wohl einer solchen Frau zu Gefallen zwei Väter hin und Mutter und Großmutter noch obendrein; und die Frau, die dies kleine Opfer fodert, ist gewiß eine gute Frau – die beste Frau, die ich kenne! Meinst du das nicht auch?

Herrmann. Ich wollte, daß ich Ihre Vortrefflichkeit weniger empfände. – Vignali, beherrschen Sie mich nicht so tyrannisch! Der Himmel weiß es, wie Sie mit einem Worte, einem Blicke meine Seele regieren: sind Sie allmächtig, daß Sie so meine besten Gesinnungen und Entschließungen zu Boden stürzen? Immer fühl ich, daß ich anders handeln sollte: aber nein! ich muß handeln, wie Sie wollen. Selbst meine feurigsten Begierden und Wünsche stehen still, wenn Sie gebieten. Ich fürchte jede Minute, daß Sie mich zum häßlichsten Verbrecher machen werden.

Vignali. Also sind wir ja einig? – Sie tun, was Sie wollen, und Sie wollen, was ich will: es läßt sich keine bessere Harmonie denken. Bilde ich närrisches Weib mir nicht ein, wir hätten uns einmal wieder gezankt und ich wäre Ihnen Genugtuung[510] schuldig? – Wie ist mir denn? Ich bin Ihnen wirklich noch eine schuldig: wissen Sie nicht, von unserm letzten großen Zanke her, da ich Sie so gröblich beleidigte? – Du saumseliger Mahner! wirst du mir bald die Schuld abfodern? –

Sie führte ihn ins Kabinett und leitete ihn unter mancherlei Wendungen so weit, daß er nur noch um einen Gedanken von dem Entschluß entfernt war, seine Schuldfoderung zu befriedigen. Die unendlichen Reizungen, womit ihn Vignali bestürmte, schläferten wie ein Ammenlied sein Bewußtsein und Nachdenken ein: mit umwölkten Sinnen, in glühendem Traume, mit hinreißender Begierde stand er dicht am Abgrunde seines Falles: plötzlich rollte mit lautem Geräusch das schlecht befestigte Rouleau am Fenster herab: das Schrecken verscheuchte seinen Traum, seine Sinne öffneten sich, er sah um sich her, erblickte Vignali in enthülltem Reize der Liebe, zitterte und taumelte, als wenn ihn ein Dämon hinwegpeitschte, zum Kabinett hinaus. Auch Vignali war durch das Getöse des Rouleaus so erschreckt worden, daß sie ihn gehen ließ, ohne ihm nachzusetzen.

Dies war der höchste Sieg, den sie über ihn erlangte: vielfältig gelang es ihr, ihn dem entscheidenden Schritte so nahezuführen, und jedesmal rettete ihn, genau untersucht, der Zufall – ein herabrollendes Rouleau, ein Lichtstrahl, der plötzlich auf sein Auge fiel und ihn aus seiner Trunkenheit schreckte, ein ungefähr aufsteigendes Bild der Phantasie, eine Idee, die durch den Kopf fuhr, der Himmel weiß woher, eine schnell dazwischenkommende Empfindung – ein solches Etwas, gleichsam wie vom Winde dahergeweht, weckte sein Gefühl für Würde und Ehre auf, riß plötzlich die Stärke seines Geistes aus dem Schlummer empor: die Schüchternheit der ersten Begierde und die Scham eines edeln Herzens, das nicht der empfundne Genuß, sondern bloß die Reize einer verführerischen Frucht locken, vollendeten seinen Sieg: er schmachtete nach dem einladenden Apfel und mußte ihn fliehen, ärgerte sich, ihn nicht gepflückt zu haben, und dankte dem guten Schicksale, das seinen zulangenden Arm zurückzog. Jedesmal wurde er vorsichtiger, wünschte, es nicht zu[511] sein, und war es nicht, wenn ihn neue Reizungen einluden: jedesmal zitterte er vor der Gefahr, wünschte sie sich wieder und eilte ihr entgegen, wenn sie sich zeigte. Nicht wollen und doch wollen, verwerfen und doch begehren, vermeiden und doch suchen, war der Lebenslauf seines Herzens.

Quelle:
Johann Karl Wezel: Hermann und Ulrike. Leipzig 1980, S. 505-512.
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