Erstes Kapitel

[490] Wie weit Vignali mit ihrer Operation in kurzer Zeit fortrückte und welch eine starke Dosis von Liebe sie ihm beigebracht haben mußte, beweist nichts so deutlich als ihre Gewalt über seine tiefsten, festgewurzelten Neigungen und Gesinnungen. Keine Freundschaft war ihm so heilig als die seinige gegen Schwingern: sie gründete sich auf Dankbarkeit, und Dankbarkeit war seine erste Tugend. Er hatte wohl den guten Mann unter den unaufhörlichen Zerstreuungen, Vergnügungen und dem erschlaffenden Müßiggange seines itzigen Lebens vergessen: er dachte und empfand gegenwärtig ganz anders als sein Freund, bedurfte seiner nicht; was konnte ihn also an ihn erinnern? Unvermutet empfing er einen Brief von ihm, der im März geschrieben, im März von dem Kaufmanne, bei welchem er in der Lehre gestanden hatte, nach Berlin gebracht und itzt, zu Anfange des Junius, erst abgegeben wurde: er hätte seine Wohnung nicht eher auskundschaften können, ließ er sagen. Das sanfteste Gefühl der Freude überströmte den Jüngling, als er eine so lange nicht gesehne Hand erblickte, und mit inniger Wehmut fühlte er den Abstand seines gegenwärtigen und vorigen Lebens: es war, als wenn ihm ein Freund aus fernen Landen nach langer Trennung wiederkäme und ihn itzt umarmte: alle Vergnügen und Leiden seiner ersten Jugend, alle Verbindlichkeiten seines Freundes überlief er mit schneller Erinnerung und vergaß vor Rührung über die sonderbare Leitung seines Schicksals, den Brief zu öffnen. Indem er so ganz wieder der vorige gutdenkende, starkempfindende, dankbare Herrmann war und sich in Empfindungen und Vorstellungen versetzt fühlte, die ihm sein bisheriges Leben fremd gemacht hatte, kam Vignali auf sein Zimmer. – »Sie haben, glaub ich, einen Brief bekommen?« fing sie an.

»Ja«, antwortete Herrmann mit entzückter Freude, »von meinem einzigen besten Freunde, dem ich alles zu danken[490] habe, was ich bin, die Bildung meines Verstandes und Herzens, mein Fortkommen. Vignali, das ist für mich der erste Mensch unter der Sonne, mehr als Vater und Mutter, und ich bin so entzückt über sein freundschaftliches Andenken, daß ich weinen möchte. Ich bin in der äußersten Rührung und –«

Vignali. Doucement, Monsieur, doucement! – Ich will Ihnen den Brief vorlesen: da Sie bis zu Tränen gerührt sind, werden Sie vermutlich nicht gut sehen können. Soll ich?

Herrmann. Ja, Vignali, lesen Sie! lesen Sie! –

Sie setzten sich: Vignali wurde zu ihrem Leidwesen inne, daß der Brief deutsch war, und Herrmann mußte ihn also Periode für Periode ins Französische übersetzen. Er las: »Unbesonnener Freund!«

»Der Mann ist wohl Schulmeister«, fragte Vignali: Herrmann stutzte über den Anfang und fuhr fort:

»Muß ich abermals die Feder ergreifen, um Dich zu züchtigen?«

Vignali. Potztausend! der Mann wird böse: er greift nach der Rute.

»Hast Du allen Verstand, alle Überlegung in Deiner Vaterstadt zurückgelassen, daß Du so höchst unsinnig handelst?«

Vignali. Der Pedant ist verrückt; ihm mag wohl der Verstand fehlen, daß er so schreiben kann.

»Welche eiserne Stirn gehörte dazu, um dem Grafen statt seiner Schwestertochter eine verbuhlte, liederliche Dirne zuzuschicken?«

Vignali. Sie haben das getan? O Sie sind bewundernswert! Hurtig, erzählen Sie mir die Geschichte! –

Herrmann erzählte ihr mit einiger Verlegenheit den Vorfall und entschuldigte sich mit seiner Liebe zu Ulriken, daß er den Kaufmann durch eine falsche Aussage verleitet habe, dem Grafen statt ihrer ein Bordellmädchen zu überbringen.

»Darüber entschuldigen Sie sich?« rief Vignali und brach in ein erschütterndes Gelächter aus. »Das ist ein Streich, der eine Ehrensäule verdient: Sie sind wert; daß man Sie anbetet.[491] Die Bosheit ist nicht mit Gelde zu bezahlen. – Und was sagt Ihr Schulmeister dazu?«

»Den Zorn des Grafen, der unter seinen eignen drückenden Angelegenheiten vielleicht verdampft wäre, hast Du von neuem zur Flamme gebracht: er hat geschworen, daß er nicht ruhen will, bis Du für diese Bosheit bestraft bist; und gewiß! sie verdient Strafe.«

Vignali. Der Mann ist ein Narr: sie verdient Altäre, sollte er sagen.

»Hat Dich ein kleines Glück, welches Du nach dem Berichte deines gewesenen Lehrherrn gefunden hast, schon so übermütig gemacht, daß Du keines Menschen mehr achtest, selbst derjenigen nicht, die Dir schaden können? O lieber Freund, ein Schreiber,9 selbst in einem angesehnen Hause, hat keinen so hohen Posten, daß Dich ein Mann wie der Graf Ohlau nicht mit seiner Rache erreichen könnte; und wenn Du auf der höchsten Staffel der Ehre und des Wohlseins säßest, so sollte Dich's in der Seele schmerzen, daß Du ihn mit so kränkendem Mutwillen beleidigtest, ihn, der Dir Gutes tat.«

Vignali. Das ist sehr erbaulich: der Mann predigt wie ein Pfarr auf der Kanzel.

»Ich weiß nicht, welche Einbildung mich noch immer beredet, alle Deine bisherigen Vergehungen für Übereilungen zu halten: mache, lieber Freund, daß meine Einbildungen mich nicht täuschen. Du wohnst itzo an einem Orte, der freilich wohl nicht so schlimm ist, wie ihn viele übertriebene Sitteneiferer verschreien, aber zuversichtlich schlimmer als Dein Vaterstädtchen; unter einer so viel größern Menge Menschen müssen mehr Gute, aber auch mehr Böse als bei uns sein. Ich sagte mir also, da ich Deine Vergehung an dem Grafen erfuhr: vielleicht hat ihn der Ton des Leichtsinns und Mutwillens, der in solchen Städten herrscht, angesteckt: Bosheit war es gewiß nicht: nein, nichts als jugendlicher Übermut, vielleicht gar die Eingebung und Anstiftung eines leichtfertigen[492] Jünglings, der sich für seinen Freund ausgibt: itzt lege die Hand auf Dein Herz und frage Dich, ob ich recht gewähnt habe!«

Vignali. Ah! das ist ja so herzbrechend, daß man gähnt. Ein Muster von Bußtagsrede!

»Daß ich richtig geurteilt habe, daran zweifle ich gar nicht mehr; und damit nicht die Verderbnis der großen Stadt Dich ebenso leicht ergreife, als Dich bereits ihr Leichtsinn angesteckt hat, will ich Dir einen Vorschlag der Freundschaft tun. Der Oberpfarr in G., auf dessen Platz ich schon vor dem Jahre vertröstet wurde, ist gestorben, und ich werde im Mai seine Stelle antreten« – Vignali. Hab ich's nicht gesagt? Der Mann ist ein Pfarrer: dergleichen Vögel erkennt man bei dem ersten Tone, den sie singen.

»Komm zu mir! wohne bei mir! sei mein Freund, wie ich der Deinige sein will! Wir wollen uns die Zeit durch Lesen und Gespräche, ökonomische Geschäfte und ländliche Vergnügungen vertreiben. Du bist freilich noch jung und könntest nach Deiner Kraft und Tätigkeit der Welt besser dienen, als daß Du mein Gesellschafter wirst; und wenn Du schon zuverlässige, nicht bloß eingebildete Aussichten dazu hast, will ich kein Wort mehr verlieren: hast Du diese nicht und Du willst bessere bei mir erwarten, wohl! so eile und sei meiner Liebe willkommen! Ich habe aus einer Ursache, die ich Dir hernach vertrauen will, das Gelübde getan, nie zu heiraten: ich habe mir von meiner bisherigen Einnahme jährlich hundert Taler zurückgelegt und also ein Kapital von tausend Talern zusammengebracht: diese sind Dein, wenn ich sterbe. Mein künftiger Platz wird auf sechshundert jährliches Einkommen gerechnet: was ich von ihnen erspare, sammle ich für Dich, damit Du mit der Zeit, wenn uns der Tod trennen sollte, einen Handel oder ein andres Gewerbe anfangen kannst.«

Vignali. Das ist sehr edel: nach einem so schlechten Eingange hätte ich nicht so etwas Gutes erwartet.

»Mein Herz wünscht sehnlich, daß Du meinen Vorschlag[493] annehmen mögest. Da G. eine gute Meile von dem Schlosse des Grafen ist, so wird er Dich weder sehn noch erfahren, daß Du bei mir bist: erfährt er's ja, so will ich alles tun, um ihn für Dich auszusöhnen; und es wird mir hoffentlich gelingen, da die Baronesse nicht mehr auf dem Schlosse ist, noch jemals wieder da wohnen wird; denn ihr Schicksal ist beschlossen. Ich setze zum voraus, daß Du Deine törichte Neigung gegen sie bezwungen hast: ist es noch nicht ganz geschehen, so fliehe zu mir! Erfülle Dein Herz ganz mit den Empfindungen der Freundschaft, daß die Liebe keinen Platz darinne findet. Wir wollen uns lieben und leben wie Brüder: und meine stille Einsamkeit soll Dir mehr Freude gewähren als das Geräusch der größten Stadt. Welche Glückseligkeit wird den Rest meines Lebens bekrönen, wenn ich ihn mit Dir zubringe! mit Dir, der in meinem Herze wohnt, wie er von nun an in meinem Hause wohnen soll!«

»Nun, mein kleiner Abgott?« unterbrach ihn Vignali und sah ihn mit einem durchdringenden Blicke voll Zärtlichkeit und Liebe an, »wirst du den Vorschlag annehmen?«

Herrmann. Fast möcht ich, Vignali! mein ganzes Herz hängt dahin: aber –

Vignali. Aber ich habe zuviel Mitleiden für die arme Vignali und zuviel Dankbarkeit für ihre Liebe, um eine Trennung vorzunehmen, die sie ins Grab bringen würde: – dachten Sie nicht so?

Herrmann. Nicht mit so vielem Stolze, aber mit ebenso vieler Liebe! Mein Freund ist mir lieb: aber Sie, Vignali – – Ich will zu meinem Freunde.

Vignali. Das nenn ich plötzliche Entschließung; denn das Gegenteil schwebte Ihnen schon auf der Zunge. Wir wollen sehn, ob Sie bei dem Entschlusse beharren. – Lassen Sie doch indessen Ihren bezaubernden Brief weiter hören!

»Du wirst um soviel freudiger in mein Verlangen willigen, wenn ich Dir die Nachricht gebe, daß Dein größter Feind auf immer von uns entfernt ist. Ich meldete Dir in meinem letzten Briefe, daß Jakobs Vater durch seinen eignen Sohn in gerichtliche Untersuchung wegen seiner Spitzbübereien geraten[494] sei und daß der Sohn sich bemühe, ihn wieder davon zu befreien, damit seine eignen Schelmenstücke nicht durch das Bekenntnis des Alten an den Tag kämen: er brachte auch wirklich den Grafen so weit, daß er die Inquisition einzustellen befahl. Plötzlich nahm die Sache eine unvermutete Wendung. Der Vater setzte sich durch die Verschaffung einiger Summen zur Schuldenbezahlung seines Herrn auf einmal wieder in völligen Kredit, und ehe man sich's versah, stund er wieder in seinem vorigen Posten. Als nunmehriger Oberaufseher rächte er sich auf das empfindlichste an seinem Sohne: unter dem Scheine der Gerechtigkeit, als wenn er aus Liebe für den Grafen seines eignen Sohns nicht einmal schonte, brachte er es durch geheime Angebungen dahin, daß Jakob in der größten Ungnade fortgejagt wurde, und der Himmel weiß, wohin ihn sein Schicksal getrieben hat. Nun ist also das ganze Vermögen des Grafen wieder in den Händen des Räubers, der zur Verringerung desselben das Seinige aus allen Kräften beigetragen hat. Dein gewesener Lehrherr hat sich fast zwei Monate hier aufgehalten und wollte nicht von der Stelle gehen, bis er sein Geld hätte: kaum war er befriedigt, so erschien schon andre Mahner. Man spricht sehr stark von Sequestration, weil die Gläubiger so häufig und so ungestüm fodern. Niemand dauert mich mehr als die arme Gräfin: sie hat sich ihres Schmuckes beraubt und die gelöste Summe dem Grafen durch Jakobs Vater als von einem Fremden vorgestrecktes Geld anbieten lassen: dadurch hat sie ihren Gemahl auf einige Zeit gerettet, ohne daß er es weiß, und doch ist sie die Lastträgerin seiner mürrischen Laune. Sie bemüht sich unaufhörlich, seine Verdrießlichkeit zu zerstreuen, und bekömmt nichts als üble Begegnung dafür zum Lohne: sie ist abgehärmt, bleich, entstellt, daß man sie kaum kennt; und doch ist sie gegen jedermann, der ihren Kummer nicht wissen soll, freundlich und nimmt sogar, wenn's nötig ist, eine Munterkeit an, die ihr sehr wohl glückt. Dein toller Streich hat sie sehr aufgebracht und ihren Haß gegen Dich vermehrt: doch hat sie mir, als ich letzthin mich für die erhaltne Pfarrstelle bedankte, anvertraut, daß der[495] Graf Ulrikens Schicksal sehr mildern werde, wenn sie um Gnade bittet. Wenn sie weise ist, so ergreift sie dieses einzige Mittel, um sich von dem Untergange zu retten. Man weiß, daß sie auf eine ehrliche Weise, obgleich unter ihrem Stande, in Berlin lebt; man weiß das Haus, wo sie sich aufhält: ergreift sie das angebotne Rettungsmittel nicht, dann mag sie sich es selbst zuschreiben, wenn man sie durch härtre Maßregeln zur Vernunft bringt.

Dein Vater hat, wie ich höre, den unsinnigen Streich begangen und schon in der Mitte des Februars den Leinweber, wo er sich aufhielt, und seine Frau heimlich verlassen: wo der tolle Mann herumschweift, weiß niemand.

Um Dir als einem Freunde, den ich in mein Herz geschlossen habe, kein Geheimnis zu verhehlen, habe ich Dir hier die Abschrift eines Briefs von Fräulein Hedwig beigelegt, der für mich ein Bewegungsgrund geworden ist, nie zu heiraten, solange sie lebt.«

»Wer ist das Tier?« fragte Vignali. Herrmann entwarf ihr kürzlich mit etwas komischen Farben ein Porträt der Fräulein Hedwig; und Vignali wurde so begierig, ihren Brief an Schwingern zu hören, daß er ihn sogleich vorlesen mußte.


Hochwohlehrwürdiger künftiger Herr Seelenhirte!

Trautester Herr Pastoris!


Gott, der Allmächtige, schuf ein Männlein und ein Fräulein, daß sie beide würden ein Leib, und erweckte dem Stammvater unser aller aus seiner Rippe eine Gehülfin, die um ihn sei und so Freud als Leid mit ihm teile, und welches der liebe Gott heutiges Tages nicht mehr tut, weil die Hülle und die Fülle da sind, daß ein weiser Mann sich durch eine vorsichtige Wahl darunter auslesen mag, wenn er etwa benötigt sei, sich eine conjugam oder sociam thori durch eine mariage beizulegen. Da nun erfahren habe, daß Dieselben durch die hohe Vorsorge Eu. hochgräflichen Exzellenz eine Seelensorge und curam pastorum bekommen habe, so gratuliere Denenselben ergebenst, wünschend, daß er auch bald Dero inclination allväterlich leiten möge und Denenselben eine Gehilfin bescheren, die um Ihnen sei, damit Sie eine curam[496] corporis erhalten, wie er Ihnen itzt eine curam animorum mitgeteilt hat. Da nun Dieselben, mein liebwertester Herr Pastor, mir beständig als ein gottesfürchtiger, leutseliger und wohl conduisirter Mann bekannt gewesen sind, so kann nicht bergen, daß schon längst wahren estime und inclination für Dieselben gehabt habe, will auch nicht verhehlen, daß vermöge meiner inclination wohl wünschte, Dieselben mit einer tugendhaften und frommen Gattin, auch treuen, fleißigen Hausfrau versorgt zu sehen. Da nun Gott der Herr den Ehestand selbst eingesetzt und anbefohlen hat, und insonderheit die Herren Seelenhirten dazu gesetzt und verordnet sind, daß sie ihren anvertrauten Seelen mit gutem Beispiele vorgehen sollen und lebendige Lehren geben, so kann nicht unterlassen, Denenselben vorzustellen, daß mein Stand wohl verdient in consideration gezogen zu werden und daß meine übrigen Qualitaeten, ohne Flatterie von mir zu reden, mich zu einer Frau Pastorin wohl capable machen. Da nun eine Fräulein bin und Dieselben vermutlich wegen meines Standes nicht gewagt haben, mir Ihre inclination zuerst anzutragen, so habe nicht ermangeln wollen, Ihnen zu avertieren, daß mir Dieselben mit einem solchen Antrage angenehm und willkommen sein werden, auch daß Dieselben sich keines refus oder repulses zu versehen haben.

Die ich in Erwartung einer baldigen Antwort mit wahrem estime und vollkommener inclination lebenslang verharre

Meines trauten Herrn Pastori,

zum Gebet verbundne Dienerin,

Hedwig Gottelieba Charitas von Starkow.


Vignali konnte nicht vom Lachen zurückkommen, ob ihr gleich Herrmanns Übersetzung nur die Hälfte von den Schönheiten des Briefe zu genießen gab.

»Und Ihr Herr Seelsorger«, sprach sie, »ist so einfältig gewissenhaft, daß er einem solchen dummen Tiere zu Gefallen nicht heiraten will? Fürwahr, man weiß nicht, wer von beiden das dümmste ist. – Aber wir sind ja mit seinem Briefe noch nicht fertig: übersetzen Sie mir doch den Rest vollends!« –[497]

»Spotte nicht über die Schwachheit einer alten dürftigen Person! habe Mitleiden mit ihr! Sie befindet sich in kümmerlichen Umständen, weil ihr bei der itzigen Verwirrung ihre Pension nicht richtig ausgezahlt wird, die ohnehin klein genug ist. Zu welchen mißlichen, lächerlichen Schritten verleitet nicht Hunger und Stolz?«

Vignali. O das ist ja das ewige Evangelium! ein unausstehlicher Prediger! Machen Sie, daß Sie fertig werden, oder ich schlafe ein.

»Und nun, liebster Freund meines Herzens! eile, komm in meine wartenden Arme! Wenn Du kein Verlangen nach mir empfindest, sondern mein Anerbieten gar ausschlägst: dann fürchte ich für Dich, dann hat gewiß eine törichte Leidenschaft wieder Wurzel bei Dir geschlagen. Noch ist Dir Hülfe zu schaffen: hast Du vielleicht Ulriken in Berlin gefunden, und setzt Ihr beide Eure unsinnige Liebe fort, weil Euch niemand daran hindert, so fasse den mutigen Entschluß, Berlin zu verlassen, um Dich bei mir von Deiner Torheit zu heilen. Bist Du itzt, da Du am Ende dieses Jahres bereits Dein neunzehntes erreichst, noch nicht vernünftig genug, um der Stimme Deines Freundes zu gehorchen, dann gebe ich Dich für verloren: Du kannst alsdann nicht anders als durch Unglück, durch schweres Unglück weise werden. Nur vor einem einzigen bewahre Dich und Ulriken der Himmel: Ihr seid beide in dem Alter der brausenden Begierden, lebt ohne Hindernis, Zwang und Aufsicht an einem Orte, wo die Wollust laut spricht und ohne Scheu handelt, wo leicht Umgang, Gesellschaft, Beispiele die Phantasie aufregen und mit verführerischen Bildern erfüllen, die wie Schwefel in das brennende Jünglingsherz hinabsinken, daß es von tausend Wünschen und Trieben auflodert: Wenn in der Stunde der Schwachheit Dein feuriges Blut aufkocht und in hohen Wellen über Vorsichtigkeit und Klugheit zusammenschlüge – o Freund, die Feder sinkt mir, so erschüttert mich dieser Gedanke bis ins Innerste. Bleibst Du in so naher Gefahr – vielleicht sitzt sie Dir schon auf dem Nacken –, so erwarte nicht mehr die freundschaftliche Züchtigung eines Freundes: wie einen Unwürdigen[498] will ich Dich züchtigen und selbst an Deiner Festsetzung und Bestrafung arbeiten: wer sich nicht zur Weisheit leiten läßt, muß von Elend und Schmerz mit Ruten zu ihr gepeitscht werden. Aber, bester Freund, noch immer hoffe ich, Du wirst eine so harte Besserung nicht brauchen, und unter dieser Voraussetzung bin ich Dein

Freund Schwinger.«


Herrmann war durch den Schluß des Briefes tief gerührt: allein Vignali höhnte und belachte ihn so viel über seine Rührung, daß er sie nicht nur verbarg, sondern auch unterdrückte. Sie arbeitete mit allen Kräften ihres boshaften Witzes, ihn wider Schwingers strafende Sprache aufzubringen, und legte ihm unaufhörlich ans Herz, daß sie eine Beleidigung seiner Ehre sei. – »Mit einem Menschen wie Sie so im Tone des Präzeptors zu reden!« rief sie einmal über das andere aus. »Einen Menschen wie Sie züchtigen zu wollen! Es ist schon ein Verbrechen, daß der Schulmeister mit einem Menschen wie Sie in so vertrautem Tone spricht; und Sie leiden gar, daß so ein Pedant einen Menschen wie Sie züchtigen will? Züchtigen?« – Herrmann entschuldigte zwar seinen Freund, allein durch das ewige ›ein Mensch wie Sie!‹ schwoll doch sein Ehrgeiz so stark auf, daß er endlich Schwingers starke Sprache für beleidigend erkannte. In der Abendgesellschaft wurde seine unsterbliche Tat, wie Vignali den Betrug nannte, den er dem Grafen Ohlau mit einer falschen Ulrike gespielt hatte, belacht, beklatscht und bis zum Himmel erhoben: Vignali setzte ihm zum Scherz bei Tische eine dampfende Räucherpfanne vor, um ihm wie einem Halbgotte zu räuchern. Ebenso fand jedermann Schwingers Brief unverschämt, grob, beleidigend, weil ihn Vignali so fand: Jedermann schalt Schwingern einen Pedanten, einen Schulmeister, weil ihn Vignali so schalt: man spottete auf das unbarmherzigste über seinen Stand und machte den Brief durch boshafte Verdrehungen und mutwillige Glossen so lächerlich, daß er auch in Herrmanns Augen sehr viel von seinem Werte verlor.

Des Morgens darauf war der Brief Vignalis erstes Gespräch. – »Die Beleidigung, die Ihnen gestern widerfahren ist«, fing sie[499] an, »hat mir eine schlaflose Nacht verursacht: Sie wissen, wie stark mich alles interessiert, was Sie angeht, und ich muß Sie antreiben, Ihre Ehre zu rächen oder keine Ruhe haben. Selbst das Anerbieten, das Ihnen der Pedant tut, ist eine Beschimpfung. Wie? ein Mensch wie Sie sollte in einen einsamen Winkel zu einem Landgeistlichen kriechen und da mit allen seinen Talenten und Annehmlichkeiten im stillen vermodern? Ein Mensch wie Sie, der für die Welt gemacht ist, um zu gefallen, bewundert und angebetet zu werden? Was fehlt Ihnen denn, um in jeder Gesellschaft zu glänzen? Sie sind Ihres Beifalls und Ihres Glücks gewiß: Sie dürfen nur winken, so fliegen Ihnen die Herzen der Damen entgegen: wenn Sie mit Ihren angenehmen Talenten auf dem Rosenpfade der Liebe und des Vergnügens weiter fortgehn, was hindert Sie denn, vielleicht einmal eine der glänzendsten Rollen in Europa zu spielen? Damen können Minister und Subalternen machen: selbst wo ihr Einfluß so gering ist, daß sie gar nichts zu vermögen scheinen, vermögen sie doch immer genug, um einen Menschen von Ihren Verdiensten emporzuheben. Fi! ich muß mich in Ihre Seele schämen, daß Sie gestern nur anstehn konnten, einen so entehrenden Vorschlag abzuweisen.«

Herrmann. Aber, Vignali, die Freuden der Freundschaft, ländliche Ruhe, einsames Vergnügen muß auf so ein tumultuarisches, zerstreutes Leben, wie ich hier geführt habe, unendlich wohltun: ich sehne mich nach der stillen Einsamkeit.

Vignali. So hätte ich Ihnen doch fürwahr mehr Verstand zugetraut. Was wollen Sie denn dort? – Bußpsalmen mit Ihrem Herrn Pastor beten? oder über die Sündlichkeit und Bosheit der argen Welt erbauliche Betrachtungen anstellen? – Freilich, Sie haben doch wohl gottlob! nunmehr fast neunzehn Jahre auf der Welt zugebracht und sind dieses Jammertals voll tumultuarischer Zerstreuungen so satt und überdrüssig, daß Sie den Rest Ihres mühseligen Lebens in Ruhe hinzubringen wünschen. So ein lebenssatter Geist von neunzehn Jahren ist freilich wohl ein lächerliches Ding: Sie stehen freilich wohl erst an der Tür des Vergnügens und der Ehre: Sie durften nur noch einen Schritt tun, um zu dem innersten[500] Heiligtum dieser beiden Götter eingelassen zu werden: allein das bekümmert Sie nicht: das viele Glück, das viele Vergnügen schmeckt Ihnen nun einmal bitter, und Sie wünschen gar sehnlich, daß Ihnen der Tod endlich einmal Ihre neunzehnjährige Kehle abschneiden möge. – Fühlen sie nicht, wie lächerlich Sie sind? – Fort! ich will Sie vor der Lächerlichkeit bewahren: schreiben Sie! ich will Ihnen die Antwort an Ihren Schulmeister diktieren.

Herrmann. Ich bitte Sie, Vignali, lassen Sie mich keinen Undank begehn –

Vignali. Keine Einwendungen! Gehorchen Sie! – Versteht der Herr Pastor Französisch?

Herrmann. Ja.

Vignali. So schreiben Sie! ›Mein lieber Herr Präzeptor! Ich bin neunzehn Jahr alt und brauche keinen Schulmeister mehr, der mich mit Ruten züchtigt, wenn ich nach seiner einfältigen Meinung nicht Gutes tue.‹

Herrmann. Vignali, mein ganzes Herz widersetzt sich einem so trotzigen Briefe.

Vignali. Ihr Herz ist ein Narr. Schreiben Sie! ›Ich bin zu alt, um mich mit so pedantischem Tone ausschelten zu lassen, aber auch zu jung, um schon mit Ihnen im Sack und in der Asche Buße zu tun. Ich habe die Ehre, Sie zu versichern, daß ich hier so viel Vergnügen genieße, als ich bei Ihnen Langeweile haben würde. Eine Frau wie Vignali, bei welcher ich lebe, die mich liebt, schätzt und fast anbetet, vertauscht man nicht gern mit einem mürrischen, moralisierenden Landpastor. – Sie können leicht daraus schließen, daß auch meinerseits Liebe und Dankbarkeit sich einer Trennung von ihr widersetzen würden, wenngleich Ihr lächerliches Anerbieten weniger beleidigend wäre.‹

Herrmann. Vignali, unmöglich kann ich solchen Unsinn schreiben.

Vignali. Unsinn, mein kleines Herrchen? – Unsinn ist es, wenn Sie bekennen, daß Sie Liebe und Dankbarkeit gegen mich fühlen? – Du stolzer Bettler! wem bist du dein ganzes Wohlsein schuldig als mir. Wer hat dich aus dem Kramladen[501] herausgezogen? Wer hat dich mit glänzenden Kleidern, mit anständiger Wohnung, mit Bedienung, Bequemlichkeit und Wohlleben bisher versorgt? Wer hat dir deinen rohen kleinstädtischen Geist gebildet? Wer hat dich aus deiner schulmäßigen Denkungsart herausgerissen? Wer dich von pedantischen Stubengrundsätzen und linkischen Meinungen befreit? Wer hat dich mit den Artigkeiten der Welt, mit einnehmenden Manieren, mit gefälligen Sitten und dem Tone der guten Gesellschaft bekannt gemacht? Wer als ich? sage mir! Du bist meine Kreatur: ich will dich dein ganzes Nichts einmal fühlen lassen; und nunmehr nennst du es Unsinn, Dankbarkeit gegen die Frau zu bekennen, die dich geschaffen hat? – Wenn dir dein knurrender Präzeptor lieber ist als deine Wohltäterin, wohl! gehe zu ihm! wirf mir alle meine Geschenke und Wohltaten vor die Füße! gib mir verächtlich alle Kleider und Wäsche zurück, die du von mir empfingst, und eile, nackt, wie du aus Mutterleibe kamst, in die liebreichen Arme deines ökonomischen Landpredigers!

Herrmann. Ja, Vignali, ja! ich will gehn: ich mag nicht das Insekt sein, das ein Weib zerdrücken oder leben lassen kann. Alle Geschenke und Gütigkeiten, die Sie mir so entehrenderweise vorrücken, sollen Ihnen durch meinen Freund bezahlt werden. Danken will ich dir, stolzes Weib, und dich verachten.

Vignali. Unsinniger! trotzest du also meiner Liebe? – Alle meine Geschenke sind nichts: verachte sie! Aber eins – wag es, dies einzige zu verachten, wenn du nicht der ärgste Bösewicht der Erde sein willst! Ist dir die heiße, brennende Liebe eines Weibes nichts? Die elenden Lumpen, womit dich das stolze Weib behing, kannst du bezahlen: aber sage mir, Trotziger, womit willst du meine Liebe bezahlen? Und wenn du einem Könige seine Schätze abborgtest, gegen die Liebe einer Frau wären sie immer eine leichte Feder. Nur Liebe vergilt Liebe. – Verblendeter Tor! bedenk einmal, was Vignali aus Liebe für dich tat! Wer bot dir mit zuvorkommender Güte die süßesten Vergnügungen der Liebe an, die du, Undankbarer, verschmähtest? Wer ließ dich die berauschenden Freuden[502] der Zärtlichkeit aus vollem Becher genießen? Wer ließ dich, wenn du wie ein Durstender vor Liebe schmachtetest, an seinem Busen wie ein Kind ruhen und dich mit dem seligsten Entzücken laben? Welche Lippen eilten deinem Kusse entgegen! In wessen Umarmungen starbst du voll trunkner Wonne dahin? Wer machte dir mein Haus zum Paradiese und deine Tage zu Tagen der Seligkeit? Wer tat dies alles als die stolze Vignali, die dir noch unendlich mehr anbot, als du annahmst? die dir alle ihre Delikatesse, alle Rechte ihres Geschlechts, ihre ganze Person aufopferte! die mit ihrem Blicke an den deinigen hing, keine Freuden kannte, wenn du nicht Teil daran nahmst, mit zärtlicher Schwachheit Tag und Nacht vor dir, ihrem Abgotte, auf den Knien lag, auf jeden deiner Winke von fern merkte, dich wie eine Magd bediente, deinen Willen ausforschte und ihn tat, ehe du noch wolltest! – Glaubst du, daß Vignali ein Weib ist, das für elenden Lohn liebt? ein Weib, das Liebhaber durch Schmeicheleien ankörnen muß? – Nein, unter den vielen wählte nur dich mein Herz aus. Überdenke dies, Wahnsinniger! und dann wag es, solche Geschenke zu verachten! Wag es, wenn dir nicht der Schlag die Zunge lähmen soll, sobald sie noch ein undankbares Wort ausspricht!

Herrmann. Vignali, schonen Sie meiner. Sie vernichten mich. – O Sie verführerisches Weib könnten mich mit Ihren Reden in die Hölle locken.

Vignali. Denke nicht, daß ich Dich wie eine Buhlschwester überreden will! Nein, ich will dich bloß ermahnen, gerecht zu sein: aber wenn ich es gegen dich sein wollte? – doch was red ich von Gerechtigkeit gegen dich? Gegen dich, du kleiner Herzensbezwinger, kann ich an nichts als Liebe denken. – O wie gefährlich ist es, mit Ihnen zu zanken! Mit einem Blicke entwaffnen Sie gleich den fürchterlichsten Zorn. – Wenn Sie ja meine Liebe nicht achten –

Herrmann. Leider, Vignali! acht' ich Sie mehr, als ich sollte. Sie haben Saiten in meinem Herze berührt, die ich nie so tönen hörte. – Vignali, warum zwingen Sie nun die Leute zur Liebe, wenn man alle Ursache hätte, Sie zu hassen? Die eine[503] Hälfte meines Herzens möchte Sie für Ihre Beleidigung zerfleischen und die andere vor Liebe Ihnen um den Hals fliegen.

Vignali. Was das für ein schneidender Blick war, mit dem Sie das sagten! – Ich bitte Sie, sehen Sie mich nicht so wildverliebt an! Sie schmelzen mir das Herz.

Herrmann. Vignali, ich bin ein Undankbarer: ich habe Sie durch meinen Trotz beleidigt.

Vignali. Sie mich beleidigt? – Liebes Kind, Sie irren sich. Ich machte Ihnen ja übereilte Vorwürfe über ein paar armselige Geschenke, die kaum des Redens wert sind. Herrmann. Und ich war der Elende, der Ihr größtes Geschenk, Ihre Liebe, verkannte: – aber, Vignali, wo ich Sie wieder verkenne: dann stoßen Sie mich aus dem Hause!

Vignali. Nein, gewiß! In der Hitze haben Sie vergessen, was wir redeten: Sie sind von mir auf das empfindlichste beleidigt worden: ich muß Ihnen Genugtuung geben. Was für eine foderst du denn, du kleiner Zauberer? Herrmann. Keine! denn ich habe sie nicht verdient. Aber um eine Wohltat fleh ich, die ich nie genug schätzen kann – Ihre Liebe.

Vignali. Du verführerischer Schwätzer! Du könntest mich mit deinen Reden in die Hölle locken. Wer mag dir denn etwas versagen, und wenn du noch so unverschämt bätest? – Und wenn ich dir nun meine Liebe verspräche, was tätest du dann? Verließest du mich und gingest zu deinem andächtigen Herrn Pastor?

Herrmann. Ich wünschte, zu ihm gehen zu können, und – blieb bei Ihnen.

Vignali. Gut! das wollen wir ihm schreiben. ›Ich wünschte, zu Ihnen kommen zu können, allein Vignali hat mich eben itzt ihrer Liebe von neuem so lebhaft versichert, daß ich nur für sie zu leben verlange. Unter der Voraussetzung, daß Sie dieses sehr vernünftig finden werden, bin ich Ihr

Freund, Herrmann.‹


Sogleich wurde Licht bestellt, der Brief zugesiegelt und fortgeschickt. Herrmann ging unruhig aus dem Zimmer, in der[504] Tür rief ihm Vignali nach: »Sie vergessen doch nicht, daß Sie eine Genugtuung bei mir zu fodern haben!« – Herrmann sah sich mit einem tiefen Seufzer nach ihr um, schwieg und ging. Der Brief quälte ihn mit unbeschreiblicher Angst: er hätte ihn gern zurückgewünscht. Schwingern mit Undank zu begegnen war ihm empfindlich: aber Vignalis Willen zu widerstehen eine platte Unmöglichkeit.

9

Der Kaufmann mußte Schwingern diese Unwahrheit sagen, weil ihm Herrmann, als er zu Vignali zog, überredet hatte, daß er Schreiber werde, wie oben erzählt worden ist.

Quelle:
Johann Karl Wezel: Hermann und Ulrike. Leipzig 1980, S. 490-505.
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