Viertes Kapitel

[316] Magister Wilibald, der seine geistlichen Krankenbesuche unermüdet forsetzte, ermangelte nicht, die Revolution in Herrmanns Herze, sobald er sie wahrnahm, sich und der Kraft[316] seiner Beredsamkeit zuzuschreiben, ob er gleich nach zween Besuchen sich seines Trost-, Lehr- und Strafamtes freiwillig entsetzt und den neubekehrten Herrmann von Stadtneuigkeiten und besonders von den Mühseligkeiten seiner Mitbrüder unterhalten hatte. Die wichtigste Angelegenheit schien für den schwarzperückichten Seelenbekehrer die Entdeckung zu sein, daß Herrmann mit Schwingers Briefe funfzig bare Taler bekommen und achtzehn schön funkelnde Dukaten außerdem noch in seinem Schränkchen eingeschlossen habe: er ließ sich beides zeigen, pries mit inniger Freude den Besitzer desselben glücklich als einen Auserwählten, auf welchen Gott seine Gaben reichlich ausschüttete, und ermahnte ihn zum guten, weisen Gebrauche dieser zeitlichen Güter.

»Spielen Sie?« fragte er am Ende seiner Ermahnung.

Herrmann. Nein; ich habe allem entsagt, was mich nur einen Fingerbreit von meiner Hauptabsicht ausführen kann: ich bin auf eine Art ein Tor gewesen, ich will es nicht wieder auf eine andre sein.

Wilibald. Das sind wahre Entschlüsse, wie sie ein Mensch fassen muß, den ich wiedergeboren habe. Indessen wenn man mit christlichen frommen Leuten spielt, die nicht dabei fluchen und schwören – wie zum Exempel, wenn Sie in Sanftmut und Gelassenheit mit mir ein zeitverkürzendes und gemütergötzendes Spielchen machten –

Herrmann. Mit niemandem, und wenn's ein Engel wäre! Schwingers Brief hat meine ganze Seele umgeändert: er hat mich erinnert, daß ich nichts bin: ich muß arbeiten, daß ich's nicht länger bleibe. Wie? ich sollte so daniedergedrückt, so zurückgesetzt, ungeehrt, ein Wurm bleiben, über den jedermann verächtlich hinschreitet? zeitlebens ein Tier sein, das arbeitet und sich füttert, ohne daß mich eine Tat vor den übrigen auszeichnet? – Lieber mag ich nicht leben: nicht eher will ich an Ulriken, an Liebe, Vergnügen und Glückseligkeit denken, als bis ich mich aus dem Nichts emporgerissen habe, das mir Schwinger vorwirft.

Wilibald. Das ist sehr löblich. – Das Gemüt will aber doch[317] zuweilen auch seine Ergötzung haben, und ein anständiges Spielchen mit frommen Leuten –

Herrmann. Nein, sag ich Ihnen. Liebe, Vergnügen, Spiel – alles, alles ist mir zuwider, verächtlich, klein: ganz ein andrer Trieb lebt in mir: wie eine Flamme brennt er in meiner Brust: wenn Sie diesen Durst löschen können, dann sind Sie mein Freund.

Wilibald. Ich bin freilich ein schwaches Werkzeug in den Händen der Vorsicht; indessen wenn ich wüßte, was so eigentlich Ihr Wunsch und Begehren sei –

Herrmann. Nur eine Tat, eine Handlung, die meine Geburt auslöscht! O der Sohn eines Einnehmers, den mir Schwinger vorrückt, brennt mich Tag und Nacht wie eine Kohle in meinem Herze! Ich kann nicht ruhen, bis ich den Vorwurf rein ausgetilgt habe.

Wilibald. Wenn Sie das wünschen, so will ich Ihnen eine Handlung vorschlagen, die Ihnen bei Gott und Menschen Ehre bringen, eine Tat, die Ihren Namen durch alle vier Weltteile verbreiten, die Sie nach Jahrtausenden noch so berühmt machen wird wie alle Märtyrer und Heidenbekehrer: das Kind, das an der Mutter Brust liegt, wird Ihren Namen zuerst aussprechen lernen: der sterbende Greis wird ihn noch mit Dank und Ehrfurcht nennen: auf allen Kanzeln in Europa, Asia, Afrika und Amerika wird Ihr Lob ertönen: Dichter und Redner in allen Sprachen der Christenheit werden Sie erheben: Ihr Bildnis wird in Sandstein und Marmor, in Kupfer, Erz, Gips, Wachs, Siegellack und Ton, in schwarzer Kunst, gestochen, geätzt, gemalt, als Büste, Kniestück und in Lebensgröße in allen Zimmern, Stuben und Kammern, unter venetianischen Spiegeln und an himmelblauen Brotschränken durch die ganze Welt zu finden sein, man wird es an Uhren, auf Stockknöpfen und Dosen, in Ringen tragen, und nach Jahrtausenden werden sich noch Kenner und Antiquare über Ihre Nase zanken: Ihr Ruhm wird mit Himmel und Erde eine Dauer haben.

Herrmann. Und welches ist diese große, herrliche, einzige Tat?

[318] Wilibald. Wir wollen die Berliner bekehren.

Herrmann stutzte und schwieg. Der Magister ließ seiner Verwunderung ein wenig Zeit und fuhr alsbald in seiner Rede pathetisch also fort:

»Fromme Männer haben Boten ausgesandt, um beschnittne Juden und ungetaufte Heiden zu bekehren: fromme Männer haben sich zu einem so großen Endzwecke als Apostel gebrauchen lassen, haben mit Regen und Hitze, Sturm, Hagel, Donner und Blitz, mit rüttelnden Postwagen und ungeheuren Meereswellen gekämpft: bald sind ihnen die Schuhe, bald das Schiff, das sie trug, leck geworden: sie haben gefastet, gehungert und gedurstet, haben sich von den blinden Heiden Nasen und Ohren abschneiden, mit den Ohrläppchen an die Türen annageln, geißeln, sengen, stechen, braten, kochen und fressen lassen, um die Ungläubigen durch ihr Leben und Tod zu bekehren: aber niemand ist noch Apostel der Berliner geworden; und doch sind sie ungläubiger als Hottentotten und Malabaren, ohne Erkenntnis und Erleuchtung, Unwiedergeborne, Atheisten, Deisten, Sozinianer, ohne Glauben, eitel Sünder und Sündengenossen: sollte nicht uns die hohe Ehre aufgehoben sein, diesen verirrten Haufen wieder auf den rechten Weg zurückzuführen? – Wir wollen es wagen: Bruder, laß uns mutig ihre Apostel werden und das Werk ihrer Bekehrung vollenden. Dann wird unser Ruhm von einem Ende der Welt bis zum andern erschallen.«

Herrmann fand anfangs eine kleine Bedenklichkeit bei dem Vorschlage, oder vielmehr dieser Weg, Ruhm zu suchen, war seiner Ehrbegierde zu fremd, um ihn sogleich zu betreten: er wußte wohl, daß Männer durch edle, großmütige, gemeinnützige, mutige Handlungen, durch Patriotismus, durch wichtige Werke des Genies groß und berühmt geworden waren: aber daß man es durch Bekehrung andrer Menschen werden könne, davon sagte ihm alle seine Kenntnis und Erfahrung kein Wort. Er hörte also den Vorschlag innerlich und äußerlich ohne Beifall und Widerspruch an und versprach, ihn geheimzuhalten, welches sich der Magister sehr angelegentlich von ihm ausbat.[319]

Die Frau Doktorin gab oft kleine Abendessen, wovon aber ihr Mann nichts erfuhr und noch weniger dabei zugelassen wurde; denn sie geschahen bei verschloßnen Türen, und niemand hatte gewöhnlich die Ehre, Anteil daran zu nehmen, als der Magister Wilibald: doch seit jener Unterredung über die Bekehrung der Berliner wurde auf seine Veranstaltung Herrmann jedesmal der dritte Mann. Das Gespräch war allemal höchst erbaulich, und ehe man es vermutete, lenkte es sich auf Berlin: der Magister und die Doktorin sagten beide, ohne es gesehn zu haben, so viel Böses davon, daß jedem ehrlichen Manne bei dem Gemälde die Haare zu Berge stehen mußten.

»Es überläuft mich allemal ein Schauer vor Schrecken«, fing die Doktorin an, »wenn ich einen Berliner sehe. Sie sind auch meist alle gezeichnet. Ich habe zwar nur zwei in meinem Leben gesehn, aber ich versichre Sie, sie hinkten alle beide.«

Wilibald. Die Männer haben fast alle eine Art von Hörnern an der Stirne, wie mir Magister Augustinus erzählt hat. Er ist zwar niemals dort gewesen, aber er weiß es ganz gewiß; und Magister Augustinus lügt in seinem Leben nicht.

Die Doktorin. Ach, ich will's wohl glauben. Solche Male sind nicht umsonst. – Und wissen Sie denn auch, was man von den Weibern sagt?

Wilibald. Sie sollen fast alle große Füße und kleine Köpfe haben und doch dabei so schön sein, daß man sie nicht ansehn kann, sagte mir Magister Blasius.

Die Doktorin. Ei, ei! Und warum denn das?

Wilibald. Man soll gleich weg sein, gleich gefangen. – Ach! die Töchter dieser Welt sind nicht vergeblich mit solchen verführerischen Reizungen geschmückt! Das sind Geschenke des Satans.

Die Doktorin. Nicht anders! – Und von den Geistlichen hat mir ja neulich der Magister Kilian recht schreckliche Dinge erzählt.

Wilibald. Sie sind gar nicht zu unterscheiden von den übrigen Menschen: wenn sie ihre Amtskleidung nicht tragen, soll man[320] hundertmal vor einem vorübergehn oder gar mit ihm stundenlang sprechen können, ohne zu nur vermuten, daß es ein Geistlicher ist. Sie stellen sich den Kindern dieser Welt in allem gleich, sagte mir Magister Severus. Sogar in ihrem Amte sollen sie reden wie alle andre Menschen. Was kann aus einer solchen Vermischung herauskommen als Verachtung?

Die Doktorin. Da haben Sie recht. Wenn Sie ohne Perücke und schwarzen Rock zu mir kämen, könnt ich Ihnen kein Wort glauben. Ich hätte nicht mehr Liebe und Vertrauen zu Ihnen als zu meinem Manne.

Wilibald. Nicht anders! Man muß sich selbst ehren, damit uns andre ehren. Aus einer solchen Selbstverkleinerung des Standes entstehen auch hernach nichts als Atheisten, Deisten, Naturalisten –

Die Doktorin. Da haben Sie recht. Ich habe in meinem Leben noch keinen Deisten und Naturalisten gesehn; denn Gott sei Dank! hierzulande bekömmt man solche Kreaturen nicht zu Gesichte: aber ich stelle sie mir recht abscheulich vor. Sagen Sie mir nur! Wie sehn sie denn aus?

Wilibald. Magister Hieronymus hat einmal im ›Grünen Baume‹ zu Berlin unter einer ganzen Gesellschaft solcher Menschen gespeist.

Die Doktorin. Ach, der arme Mann! Wie hat er denn das tun können?

Wilibald. Weil er nichts davon wußte! Aber sie verrieten sich gleich, sagt er: ›Ob sie sich wohl anfangs vor mir nicht wenig scheuten, so konnten sie sich doch vor meinen scharfsichtigen Augen nicht lange verbergen. Sie hatten alle große, schwarze Nägel an den Fingern, ihre Hände waren wie Tatzen gestaltet und ihr Atem so beschwerlich, daß ich's nicht aushalten konnte. Als ich dies wahrnahm, wurde mir angst und bange unter ihnen, und ob ich gleich zuweilen meine Stimme erheben wollte, sie zu bekehren, so war mein Herz doch so geängstigt und schwer, daß ich kein Wort aufbringen konnte und darum lieber schwieg. Endlich ermannte ich mich und fing an, laut unter ihnen zu predigen: da verstummten sie wie[321] die Fische, falteten die Hände und fielen wie tot mit den Köpfen auf den Tisch.‹4 – Er hat sie insgesamt bekehrt.

Die Doktorin. Der brave Mann! Hat er in seinem Eifer nach einem so gesegneten Anfange nicht mehr Wunder getan?

Wilibald. Allerdings! In dem Tiergarten hat er einem ganzen Truppe junger Deisten gepredigt: sie waren alle zu Pferde und versammelten sich in einem großen Kreise um ihn, als er anfing: doch hier mußte er Verfolgung leiden. Sie setzten ihn auf ein Pferd, führten ihn durch zwo lange Alleen und schrien: der Apostel! Dabei huben sie Sand und Steine auf, steinigten ihn und jagten das Pferd, bis er stürzte5. Er hat es darauf an dem nämlichen Orte mit vornehmen, sehr geputzten Naturalisten versucht: allein sie waren so frech, ihn mit Gelde bestechen zu wollen: sie reichten ihm insgesamt etwas; aber er schlug es mutig aus, ergrimmte über sie und verfolgte sie mit seiner Predigt, daß sie eilfertig davonflohen und ihn ängstlich baten, sie zu verlassen: so kräftig wirkte seine Rede auf ihr Gewissen.

Die Doktorin. Der vortreffliche Mann! Wieviel Großes und Herrliches er schon in seinen jungen Jahren getan hat! Er wird gewiß noch die ganze Donau und Afrika und Rußland bekehren. Das heißt doch in der Welt leben, wenn man so große Dinge tut. –

Obgleich alle Unterredungen bei diesen geheimen Mahlzeiten meistenteils diese Gestalt und Form hatten, so tauchte doch der Magister zuweilen seinen Pinsel in dunklere, fürchterlichere[322] Farben und gab den Ausschweifungen und Lastern, die ihm Magister Kasimir und Magister Hildebrand von Berlin erzählt hatten, ein schauerhaftes Kolorit. Alle Straßen, Gassen und Plätze waren nach seiner Schilderung alle vierundzwanzig Stunden von einem Mittage bis zum andern mit Werken der Finsternis erfüllt, wie er sie nannte: wo man ging und stund, wurde geraubt und gemordet. Das Bild glich keiner einzigen Stadt in der Welt, aber es tat doch große Wirkung durch das Übermaß seiner Abscheulichkeit: die Doktorin zitterte und bebte bei den Freveltaten, Sünden, Unmenschlichkeiten, Betrügereien, Bosheiten und Lastern, die der Magister in seiner Erzählung dicht aufeinander folgen ließ, verabscheute sie, und wie die Kinder ihre Amme zu neuen Gespenstergeschichten auffodern, indem sie noch vor den erzählten schaudern, so ermahnte sie den Erzähler zur Fortsetzung, ob sie ihn gleich bei dem Schlusse einer jeden Lüge inständigst bat zu schweigen. Das Ende aller solcher Gespräche war allemal die Beherzigung, wie heilsam und rühmlich es sei, die Berliner zu bekehren.

Auch Herrmann lernte dies allmählich empfinden. Das Unglück seiner Liebe hatte seinem Gemüte eine gewisse Bitterkeit mitgeteilt: alle seine Freunde und Bekannten bekämpften seine Lieblingsleidenschaft durch Hindernisse oder Verbot: ob er ihnen gleich nachgab und zum Teil einsah, wie sehr sie recht hatten, so blieb doch ein Verdruß wider sie in ihm zurück. Sein Verdruß machte es ihm zum Vergnügen, viel Böses von den Menschen zu hören, und je mehr er von ihnen hörte, je leichter ward es ihm, auch das Unglaublichste zu glauben. Sein tätiger Geist konnte unmöglich ohne Leidenschaft sein, und die Bekehrung der Berliner wurde endlich so sehr sein Wunsch, daß er die hohe Unternehmung bei sich beschloß; und seine Ruhmbegierde und Unbekanntschaft mit der Welt verbargen ihm das Abenteuerliche und Lächerliche eines solchen Entschlusses. Er las eifrig Missionsgeschichten und Leben der Märtyrer und entflammte seine Einbildung durch die erstaunenden Begebenheiten so stark, daß er schon seinen ganzen Leib mit rühmlichen Wunden bedeckt[323] und seinen Ruhm durch alle Weltteile verbreitet sah. Er lernte durch des Magisters Umgang meisterhaft auf das Verderben der Menschen schmähen: und es tat ihm recht wehe, daß er seinen geistlichen Feldzug wider den Unglauben nicht auf der Stelle eröffnen konnte.

Da seine fanatische Ruhmsucht in voller Flamme stund, bestimmte ihm der Magister einen Tag, wo sie heimlich von Dresden entweichen wollten. Herrmann stemmte sich aus allen Kräften wider die heimliche Entweichung, allein sein Gefährte im Apostelamt hatte die wichtigsten Ursachen von der Welt, warum er darauf bestehen mußte. Die Schulden, die sein unordentliches Leben angehäuft hatte, ließen ihn den Verlust aller Gunst bei seinen Gönnern und Gönnerinnen befürchten, wenn die Gläubiger aufwachten: viele waren schon erwacht, und es schien ihm also schicklicher, seinen Namen den Schimpf als seine Person die Gefahr seiner Insolvenz tragen zu lassen. Deswegen stellte er seinem Mitbekehrer vielfältig vor, daß die Apostel und andre große Männer in dieser Laufbahn alle ihre Reisen zu Fuß getan hätten, daß dies ein erfoderliches Stück ihrer Unternehmung sei und daß er schlechterdings Dresden heimlich verlassen müsse, weil man ihn sowenig entbehren könnte und deswegen durch alle Mittel, vielleicht gar durch Gewalt, zurückhalten würde. Was sollte Herrmann tun? Er war schon von seiner künftigen Größe beinahe blind und wurde es durch die Beredsamkeit des Magisters täglich mehr: um nicht vielleicht von der Ehre der Teilnehmung an so einer hohen Tat gar ausgeschlossen zu werden – womit ihn der Magister bedrohte –, willigte er in alles. Er ließ auf dem Tische in seiner Stube einen Zettel zurück, worinne er bat, daß man ihm seine Sachen aufheben sollte, bis er sie durch einen Brief verlangen werde, und begab sich in den Abendstunden in die Wohnung des Magisters, die man zur Zusammenkunft bestimmt hatte, mit nichts als seinem sämtlichen Gelde und einem kleinen Vorrate Wäsche versorgt, soviel als seine Taschen zu fassen vermochten.

Wilibalds Stube war so ein entsetzliches Nest, daß für Herrmann jeder Augenblick darinne zu lange dauerte: schwarz[324] beräucherte Wände, die unglaublichste Unordnung unter allen den Maschinen, die die Stelle der Möbeln vertraten! – Hier lehnte auf zween schwachen Füßen ein Stuhl, an welchem das Eingeweide durch große Öffnungen auf allen Seiten des ledernen Polsters hervordrang, die übrigen beiden Füße lagen nebst einigen andern zerstreut auf dem Fußboden herum, der überhaupt wie ein Schlachtfeld aussah, wo die sämtlichen Möbeln der Stube ein Treffen geliefert haben mochten – hier stand ein Schuh auf dem berußten Tische oder schwamm vielmehr in einem Meere von verschüttetem Milchkaffee und sah sich traurig nach seinem Kameraden um – dort hing das zerrißne, schmutzige Bette über das Bettgestelle herunter, und bei jeder Bewegung flogen die Federn wie Schneeflocken durch die Atmosphäre der Stube – der Ofen diente zur Garderobe, welche aber nichts enthielt als verschiedene höchst unbrauchbare Strümpfe, die wie Kirchenfahnen an den Schrauben und Ecken desselben hingen –, auf dem Fensterbrett war das Speisegewölbe und die Polterkammer, und das Kopfkissen steckte in der zerbrochnen Glasscheibe, um die Stube zu wärmen.

Das erste Unglück, das den beiden Aposteln begegnete, war der Mangel an Licht: das Tacht eines abgebrannten Talglichts, auf ein Gesangbuch geklebt, schwamm bereits indem zerschmolznen Inselt und verwandelte schon die hölzernen Tafeln in Kohlen. Wilibald beschwerte sich über die itzige Seltenheit des Silbers und die disproportionierte Menge des Goldes, womit das Land überschwemmt wäre, daß man bei kleinen Bedürfnissen im Handel und Wandel gar nicht auseinanderkommen könnte, und erkundigte sich, ob Herrmann nicht ein Restchen Silbermünze bei sich führte: weil er damit versorgt war, mußte er Vorschuß tun, und der Apostel Wilibald ging in eigner Person und holte unter seinem schwarzen Rocke ein Talglicht, das in Ermangelung des Leuchters in den Hals einer gläsernen Bouteille gestellt wurde.

Einer Unbequemlichkeit war abgeholfen: aber die eindringende Dezemberluft, welche das Kopfkissen nicht hinlänglich abwehren konnte, besonders da ihr eine Menge kleiner unverstopfter[325] Ritzen in dem übrigen Teile des Fensters freien ungehinderten Eingang verstattete, machte es in diesem Stalle so kalt wie auf offnem Felde. Wilibald fühlte dabei so große Unbehaglichkeit als Herrmann, und da nach seiner Erzählung sein Vorrat an Brennholz den Morgen vorher alle geworden war – ob er gleich noch keinen Span in seinem Ofen gebrannt hatte –, so beschloß er, alles Holz in der Stube zu fällen: die zerstreuten Stuhlbeine wurden gesammelt, die übrigen ausgedreht, ein Stück des Bettgestells zu Hülfe genommen, aus den Stuhlpolstern das Werg gerissen, nach allen Regeln der Einheizekunst aus diesen Materialien ein Holzstoß im Ofen errichtet, das Werg loderte empor, das dürre, überfirnißte Holz prasselte in hellen Flammen, und Wilibald erblickte mit inniger Herzensfreude das erste Feuer in seinem Ofen, solange er mit ihm in Bekanntschaft stund.

Endlich fand sich auch ein drittes Bedürfnis ein – der Hunger. Da Wilibald seinen gänzlichen Mangel an Silbermünze einmal für allemal kundgemacht hatte, erbot sich Herrmann ungebeten zum Vorschuß: der Apostel Wilibald besorgte auch diesen Einkauf und brachte geräuchertes Fleisch und Brot in reichlicher Menge herbei, eine große Flasche Branntewein nicht zu vergessen: nebenher wurde ein Kaffee gekocht. Da alles zur Mahlzeit bereitet war und doch kein einziger Stuhl mehr aufrecht stehen und eine menschliche Kreatur tragen konnte, beschloß man, auf dem Fußboden Tafel zu halten: sie lagerten sich also beide in der Nähe des Ofens, die Bouteille mit dem Lichte zwischen ihnen, die Brannteweinflasche daneben, nebst dem Topfe voll Kaffee, womit Wilibald das Gastmahl eröffnete: ein jeder nahm sich nach eignem Belieben ein Stück auf die Faust und verzehrte es, ohne Messer und Gabel, die Knochen sammelte man im Ofen, um die Stelle der Kohlen vertreten zu helfen. Die Wärme, die der Ofen versagte, gab der Branntewein, und Freude und Begeisterung stiegen bei beiden mit jedem Zuge. Herrmann fühlte zwar anfangs keine kleine Abneigung in sich gegen diese schmutzige und wüste Lebensart, und er wäre schon durch den Anblick der Stube beinahe von seinem Apostelamte[326] abgeschreckt worden: allein seine fanatische Ruhmbegierde scheuchte bald alle Bedenklichkeiten hinweg: er erinnerte sich an die ungleich größern Martern, die so viel berühmte Vorgänger im Bekehrungswerke vor ihm ausgestanden hatten, und trug mit herzlichem Vergnügen diese ersten Beschwerlichkeiten seiner neuen Laufbahn, in der angenehmen Hoffnung, daß seine Standhaftigkeit bald auf härtere, verdienstvollere Proben stoßen werde. Der Branntewein teilte seinem innern Feuer neue Nahrung mit, daß seine Seele glühte wie seine Backen: die Köpfe der beiden Apostel bekamen einen Schwung bis zum halben Unsinn: sie jauchzten, sangen, wälzten sich wie Beseßne, sanken in Küssen und Umarmungen dahin, fluchten den Ungläubigen und schwuren allen Naturalisten den Tod: sie warfen die Federn aus den Betten ins Feuer und triumphierten springend und frohlockend, so viele Deisten und Atheisten in der Hölle brennen zu sehn. Wilibald, der nur die Hälfte dieses Unsinns aus Trunkenheit tat und einen großen Teil davon beging, um seinen Kollegen desto mehr in Feuer zu setzen, hielt während der Mahlzeit eine sehr pathetische Rede, worinne er ihre Unternehmung wider den berlinischen Unglauben mit der Eroberung von Amerika verglich und weit über alle Heldentaten der alten und neuen Welt erhob. Ein Stück geräuchertes Fleisch in der Rechten und eine Semmel in der Linken hub der Redner also an:

»Drei sind nicht zwei, und zwei nicht hundert: aber zwei Wiedergeborne sind mehr als tausend mal tausend Ungläubige. Wie ich diese Semmel vor deinen Augen zerreiße, teuerster, auserwählter Bruder, wie ich dieses Fleisch vor deinen Augen zermalme und verschlinge, so werden wir den Unglauben, Naturalisterei und Deisterei zerfleischen, bezwingen, zerstören, verwüsten. Jene auserwählten Rüstzeuge erwürgten viele Millionen Indianer um ihres schrecklichen Unglaubens willen; aber wir tun mehr als sie: wir wollen nicht töten, sondern lebendig machen: wir wollen alle Deisten wiedergebären; und unsere Namen sollen mit ehrernen Buchstaben in die Tafeln des Ruhms eingegraben werden. Wir[327] sind die größten Helden, die jemals den Lorbeer verdienten: Cäsar, Alexander, Turenne und Schwerin müssen vor uns in den Staub fallen, die Knie beugen und uns anbeten. Waffne dich also mit Standhaftigkeit und Mut! Trotze Gefahren und Beschwerlichkeiten! Je mehr sie sich häufen, je gewisser gehst du zur Unsterblichkeit. Iß, trink und labe dich, du Auserwählter! Stärke dich mit diesem Brote und diesem Tranke des Lebens zu der geheiligten Unternehmung!« –

Seine kraftvolle Rede, wovon dieses nur der schönste Teil ist, wurde sehr oft durch Besuche von Weibspersonen unterbrochen, die ungestüm hereintraten und ungestüm fortgingen: einige ließen sogar eine reichliche Ladung der schmählichsten Schimpfwörter zurück. Herrmann war von Fanatismus und Branntewein zu sehr berauscht, um etwas Böses hinter den Besuchen zu argwohnen, obgleich zwei von den Weibsbildern seinem Gefährten geradezu ins Gesicht sagten, daß er ihnen schon seit einem Vierteljahre zwo Nächte schuldig wäre, und ihm mit öffentlicher Beschimpfung drohten, wenn er ihnen ihr bißchen ehrliches Verdienst nicht ordentlich bezahlte: Wilibald bestellte sie alle auf den morgenden Abend, wo er richtige Zahlung und überdies noch eine reichliche Erkenntlichkeit für die lange Geduld versprach. – »Ach!« sagte er zu seinem trunknen Kollegen, als sie weg waren: »Wohltätigkeit und Gutherzigkeit sind eine schwere Last: ich habe mich dieser Unglücklichen angenommen, und ich muß mich durch eine List von ihnen losreißen: wenn sie meine Abreise wüßten, würden sie mir mit Tränen um die Knie fallen und mich zurückhalten. Wie sie weinen und jammern werden, wenn sie mich morgen abend nicht finden! Das Herz tut mir weh: aber die geringe Handlungen der Wohltätigkeit müssen der größern, zu welcher wir uns bereiten, nachstehn.«

In diesem verwilderten Zustande machten sie sich marschfertig: sie gaben sich beide zween neue Namen, die mehr für ihre heilige Unternehmung paßten: Herrmann wurde zum Bonifacius, und der Magister machte sich selbst zum Chrysostomus. Sie wählten überdies ein Feldgeschrei, das sie bei Trennungen oder Verirrungen, besonders in der Nacht, einander[328] zurufen wollten, um sich sogleich zu erkennen: der nunmehrige Bonifacius schlug den Namen Ulrike dazu vor und setzte seine Wahl mit lebhafter Hitze durch, ob ihn gleich sein Gefährte wegen des irdischen, weltlichen Klanges verwarf.

Die Luft war außerordentlich rauh, kalt und scharf, die beiden Abenteurer apostelmäßig nur mit einfacher, leichter Kleidung versorgt: doch der doppelte Rausch des Körpers und der Seele wirkte so heftig, daß Herrmann äußerlich mit allen Gliedern zitterte und innerlich von einem Feuer brannte. Sie taumelten mit schweren Köpfen, matten Füßen und halbgeschlossnen Augen bis zum nächsten Dorfe, wo sie Müdigkeit und Kälte einzukehren zwang.

So setzten sie ihre Reise standhaft fort, übernachteten in Schenken und elenden Wirtshäusern und taten sich soviel Gutes, als es in den jämmerlichen Herbergen möglich war: besonders wurde der Branntewein nicht gespart: daß Herrmann jedesmal die Zeche bezahlen mußte, versteht sich von selbst; und mit Freuden tat er es. Der begeisterte und immer betrunkne Jüngling hörte sich schon von allen Vorübergehenden den heiligen Bonifacius grüßen: in jedem Dorfe, wenn die Hunde sie mit lautem Bellen empfingen und das Getöse die Einwohner, denen der Winter Muße zur Neubegierde gab, an Fenster und Türen lockte, glaubte er, daß die Merkwürdigkeit und der Ruf seiner heiligen Unternehmung so viele Zuschauer herbeiziehe, und er wunderte sich ungemein, wie eine so geheim behandelte Sache so allgemein ruchbar geworden war; denn seine kranke Einbildung ließ seine Ohren deutlich und vernehmlich hören, daß sich's die Leute aus den Fenstern erzählten, zu welcher wichtigen Tat diese beiden Wanderer eilten. Übertriebner Ruhm bläst leicht auf: wirklich wurde er auch so unleidlich stolz, daß er auf alle Sterbliche, außer seinen Begleiter, wie auf elende, verächtliche Insekten herabsah, die kaum Anrede und Antwort von seinem heiligen Munde verdienten. Da nach seiner schimärischen Vorstellung schon zu Anfange seiner Auswanderung alle Leute sogar in den Dörfern – die Städte vermied Wilibald,[329] ohne es seinen Gefährten merken zu lassen – von dem herrlichen Endzwecke derselben unterrichtet waren, so beleidigte es ihn itzo schon, wenn ihn jemand fragte, wohin er wollte; und er wäre mit einigen Gastwirten beinahe in Händel über diese Anfrage geraten.

»Wißt ihr das nicht, ihr Unwiedergebornen?« sagte er einem. »Der kleinste Bube in allen Dörfern, durch welche wir gegangen sind, hat von unsrer hohen Unternehmung gewußt, und du, Ungläubiger, du allein bist so unwissend?« – Alles das war Galimathias für den Mann: er glaubte, ihn vielleicht nicht höflich genug gefragt zu haben, bat um Verzeihung und wiederholte seine Frage, mit vielen Titulaturen und Komplimenten verschönert: der heilige Bonifacius drehte ihm den Rücken.

»Sie wollen wohl nach Berlin?« fragte ihn ein anderer bei der dritten Einkehr.

»Freilich!« erwiderte Herrmann trotzig und leise.

»Wollen Sie denn etwa Soldat werden?« fuhr der spaßhafte Mann fort. »Mord und Todschlag! Sie werden die Feinde zusammennehmen. Piff! paff! puff! Da liegen sie!«

»Das sollen Sie!« sagte Herrmann ernsthaft. »Wir wollen sie alle mit unsern geistlichen Waffen daniederschlagen, und keiner soll dem allgewaltigen Schwerte unsrer Rede entgehn.«

Der Wirt. Blitz, Zeter, Mordio! ha! ha! ha! ha! – Wenn der Krieg wieder losginge und die Preußen sollten etwa unsre Feinde werden – wofür uns Gott bewahre! –, so schonen Sie wenigstens meinen armen Sohn! Wenn Sie alles umbringen, so lassen Sie mir nur den armen Burschen leben! Wollen Sie?

Herrmann. Ist er Naturalist?

Der Wirt. Nein, so weit hat er's noch nicht gebracht. Zeter! Sie tun hohe Sprünge! Mein Sohn ein Generalist!

Herrmann. Ein Naturalist, sag ich!

Der Wirt. Was ist denn das für ein neuer Titel?

Herrmann. Ein Unwiedergeborner wie du. Über dich wollen wir zuerst das Schwert zücken: dich soll unser Wort zuerst zermalmen.[330]

Er machte zugleich eine Bewegung, als wenn er ihn erdrosseln wollte, und der Mann floh, mit spaßhafter Furcht vor ihm, zur Tür hinaus. – Der erste Sieg über die Ungläubigen!

Den fünften Morgen, wo sie noch nicht einmal die brandenburgische Grenze erreicht hatten – so gemächlich machten sie ihre Reise –, brachte Herrmann beinahe zur Hälfte auf der Streu in dem Stübchen zu, das sich Wilibald diesmal wider ihre Gewohnheit genommen hatte: den Abend vorher war ihm von diesem Bösewicht so viel Branntewein aufgedrungen worden, daß er, wie von einem Schlaftrunke eingeschläfert, in einer Art von Ohnmacht dalag. Endlich wand er sich aus dem schweren Schlafe heraus, erblickte schon helles Tageslicht und sich ganz allein in der Stube. Aufzustehen waren seine Glieder von dem gestrigen Trunke noch zu schwach: er verweilte also auf seinem Strohlager, und nicht lange dauerte es, so unterhielt ihn seine erwachte Einbildungskraft von dem herannahenden Anfange seines Ruhms. Er erblickte sich schon in Marmor und Erz auf allen öffentlichen Plätzen Deutschlands: ihm zu Ehren wurden Spiele und Feste angestellt: Knaben und Mädchen schmückten mit Blumen und Kränzen sein Bildnis und feierten mit Tänzen und Liedern sein Andenken. Nach Jahrhunderten sah er seinen Namen noch in allen Chroniken, Annalen und Geschichten: die Großen nannten ihn mit Ehrfurcht, die Gelehrten mit Bewunderung und das Volk mit Andacht.

Mit solchen von Branntewein und Ruhmsucht aufgeschwellten Ideen, benebelt von Trunk und Leidenschaft, berauscht von seinen fanatischen Träumen, hub er sich schwerfällig auf, um den Teilnehmer seiner überschwenglichen Größe aufzusuchen. Er war wie zerschlagen am ganzen Leibe: er schleppte sich unter heftigen Kopfschmerzen zu dem Tische hin und erblickte auf ihm ein Briefchen mit der Aufschrift: – ›An den jungen Herrmann, weiland heiligen Bonifacius und Bekehrer der Naturalisten.‹ – Er faltete das unversiegelte Blatt auseinander und las:

›Gehn Sie nach Berlin und werden Sie Lehrbursch bei dem[331] Kaufmanne, an welchen Sie Ihr Freund adressiert hat. Lassen Sie sich mit der Bekehrung der Berliner nicht weiter ein: man möchte Sie für einen Narren halten und ins Tollhaus bringen. Sie haben sich ganz entsetzlich anführen lassen: sein Sie in Zukunft weniger ruhmsüchtig und mehr vorsichtig. Diese Lehre hinterläßt Ihnen Ihr gewesener Gefährte am Bekehrungswerke der Berliner und verbundenster Freund

Chrysostomus.


N.S. In Ihrer Tasche ist das nötige Reisegeld: eilen Sie, ehe es alle wird.‹


Man lasse sich aus dem Vorzimmer des Himmels, wo man schon die Engel harmonienreiche Psalter in die goldnen Harfen singen und die Chöre der Auserwählten hohe rauschende Wechselgesänge anstimmen hörte, durch einen plötzlichen Stoß in die dürftigste, kahlste, menschenloseste Heide nach Island versetzen: alsdann hat man Herrmanns Empfindung nach der Durchlesung des schändlichen Blattes.

Weg waren die glänzenden Träume des Ruhms! Weg die funkelnden Bilder der Größe, die bis zum Himmel reichen sollte! Der Horizont seiner Gedanken, der noch vor einem Augenblicke sich über die ganze bewohnte Erde erstreckt, war itzt in ein enges, elendes Stübchen zusammengeschrumpft! Der Mensch, der sich vor einer Minute ein Riese, über Kaiser, Könige und Fürsten, über alle sterbliche Bedürfnisse erhaben schien, auf welchen Beifall, Ehre und Bewunderung von allen Seiten strömte – dieser in seiner Einbildung so aufgeschwollne und stolze Mensch erblickte sich itzt auf einmal als einen dummen, unerfahrnen, leichtgläubigen, betrognen Jüngling, als einen künftigen Kaufmannsburschen, als einen Verlaßnen, ohne Geld, ohne Freund, ohne Retter! – Nachdem die erste Betäubung des Schreckens vorüber war, ergossen sich seine Augen in einen reichen Tränenstrom: der Unglückliche weinte um sein Glück, um seinen Traum: seine kümmerlichen Umstände waren ihm wenig – denn er konnte sie nur noch vermuten –, aber sein Traum sein Traum! hätte ihm der schändliche Betrüger diesen nicht verscheucht, keine Zähre wäre über seine Wangen geflossen. –[332] Und dann! daß er sich so einfältig hatte hintergehn lassen! mit Zähneknirschen dachte er an seine Leichtgläubigkeit. Er warf das betränte Gesicht auf den Tisch, in allen seinen Eingeweiden nagte Scham und Ärger: er hätte sich vor der Welt, vor sich selbst verbergen mögen.

Nicht angenehmer waren seine Empfindungen, als die Gewalt des ersten Schmerzes ein wenig ausgetobt hatte und ihm der Gedanke einkam, in seinen Kleidern die zurückgelaßne Barschaft aufzusuchen: von seinen schönen achtzehn Dukaten, von den funkelnden zehn Louisdoren hatte ihm der Bösewicht einen einzigen zurückgelassen. Sein Zorn über die Bosheit brannte freilich in großen Flammen empor: aber was half Zorn? – Er sahe das ein, zog sich allgemach an und ging hinunter zum Wirte.

Neues Wunder! Die Wirtsleute glaubten, daß er in der Morgendämmerung mit Wilibald, der den Abend vorher alles heimlich bezahlt hatte, um mit dem frühesten aufzubrechen, fortgegangen sei, und sahn ihn lange bedenklich an, ob er ein Gespenst oder ein Mensch wäre. Er klagte die Treulosigkeit seines Reisegefährten in herzbrechenden Ausdrücken – versteht sich mit wohlbedachter Auslassung seines Bekehrungsprojektes! – und beschwerte sich, daß er ihm sowenig zurückgelassen hatte, um den weiten Weg damit zurückzulegen. – »So, so?« antwortete der Wirt im Lehnstuhl kaltblütig. »Ja, es geht schlimm in der Welt her!« – Indessen kam seine Frau mit quecksilbrichtem Gange hereingetanzt. – »Lise«, sprach der Mann, »der Herr ist heute Nacht bestohlen worden.« – »Bestohlen?« schrie die Frau auf und schlug die Hände über dem Kopfe zusammen. »Ach, daß Gott erbarm! Du gerechter Gott! bestohlen!« – und dabei gebärdete sie sich, als wenn sie alle Haare ausraufen wollte. Sie schwänzte zur Tür hinaus: über eine kleine Weile kam sie wieder: »Über das Unglück! Du mein Gott und Vater! bestohlen ist er? heute nacht?« – dann wieder zur Tür hinaus, und in einer Minute erschien sie schon wieder mit den nämlichen Ausrufungen und Verwunderungen: so stattete sie unter unaufhörlichem Laufen ihre Kondolenz zu sechs wiederholten Malen ab. Der[333] Mann ließ sich dabei, ohne eine Miene zu verziehen, Herrmanns Geschichte und seine gegenwärtige Lage umständlich erzählen, stund phlegmatisch und stumm auf und ging. Nach einiger Zeit kam er zurück und setzte sich in den Lehnstuhl. – »Mein Bruder, der Müller«, fing er an, »fährt gegen Mittag ins nächste brandenburgische Dorf: er will Sie mitnehmen: ich habe itzt mit ihm gesprochen. Es ist ein Karren: er will Sie für seinen Sohn ausgeben und dort eine andre Fuhre für Sie ausmachen, wenn sich's tun läßt. Essen Sie erst! Ja, ja, es geht schlimm her in der Welt.« – Herrmann wollte ihn vor Freuden umarmen und schlang schon die Arme um ihn: aber der Mann war eben im Begriffe aufzustehn, und ohne daß er die Höflichkeit verstund, bat er ihn, aus dem Wege zu gehn, weil er etwas zu essen holen wollte. Er trug auf, und während daß Herrmann sich mit dem Vorgesetzten bediente, brachte der Wirt Tinte, Papier und Feder. »Da!« sprach er, »schreiben Sie Ihren Namen und Ihren Geburtsort auf! Wenn wir Ihren Dieb kriegen, sollen Sie Ihr Geld wiederhaben.« – Er sprach's und setzte sich in den Lehnstuhl.

Herrmann schrieb, der Wirt stund auf, überlas brummend das Blatt, legte es auf den Tisch und setzte sich in den Lehnstuhl: so endigten alle seine Handlungen.

Der Müller meldete sich, Herrmann wollte bezahlen: der Wirt stund auf und verbat es. – »Reisen Sie glücklich! Nehmen Sie sich künftig besser in acht! Ja, ja, es geht schlimm her in der Welt« – er sprach's und setzte sich in den Lehnstuhl.

»Mann«, schrie die Frau aus der Küche, »hat der Herr auch bezahlt?« – Der Wirt stand auf. »Ja, Lise, ja!« rief er und setzte sich in den Lehnstuhl; und der heilige Bonifacius stieg demütig auf den Karren und fuhr dahin: so gedemütigt, so herabgesunken mit Einbildungskraft und Leidenschaft saß er da unter leeren Getreidesäcken, daß in seiner Seele eine völlige Windstille herrschte.

Bei der Ankunft im Dorfe, wohin sie wollten, erzählte der Müller einem seiner dasigen Herren Kollegen den Unfall, der Herrmannen begegnet war, und bat, ihn bei der nächsten[334] Gelegenheit weiterzuschaffen. Die Erzählung versammelte sehr bald alles, was in der Mühle lebte, um den Unglücklichen, der sich wie ein fremdes Tier von allen anstaunen lassen mußte. Der Müller, dem er empfohlen war, versprach, ihn einige Tage bei sich zu behalten, wenn er bei ihm vorliebnehmen wollte, und mit einem Getreidetransporte künftigen Sonnabend, beliebt's Gott, eine Stunde weit von Potsdam zu schaffen.

Es geschah. Der unglückliche Herrmann war über das unerwartete Mitleiden so vieler Leute gerührt, von Dankbarkeit und Freude durchdrungen: aber, aber! daß er Mitleiden nötig hatte, welche Bitterkeit mischte diese Vorstellung unter seine Freude. Er freute sich über die Güte dieser Leute und trauerte, daß er sich darüber freuen mußte.

An diesem Orte hielt er sich wegen Mangels an Gelegenheit eine ganze Woche auf, und weil er aus Mißtrauen in keinem Gasthofe einkehren wollte, wurde er von dem Knechte, der ihn transportiert hatte, in ein Bauerhaus gewiesen, wo man ihn willig aufnahm: aber unglücklicherweise war die Armut des Bewohners so groß, daß er seinem Gaste bei dem besten Willen mit nichts als einem Brunnen voll schönen, klaren Wassers aufwarten konnte. Herrmann ließ also einkaufen, und die ganze ziemlich zahlreiche Familie speiste täglich mit ihm: er wurde durch diesen Umgang so sehr der Herr des Hauses, daß die Kinder nicht zu ihrem Vater, sondern zu ihm kamen, wenn sie hungerten. Oft stand er mitten in der Stube, ein großes Brot in der Hand, sechs barfüßige Kinder im Hemde oder mit einigen Lumpen bedeckt um ihn herum, die gierig mit allen Händen nach den abgeschnittenen Stücken langten: wenn er saß, stand zuversichtlich allemal eins zwischen seinen Knien, zu weilen hing der ganze Haufen an ihm herum. Das Bild der Dürftigkeit und die Munterkeit, die Zufriedenheit, die Fröhlichkeit der Kinder und Alten bei allem Elende versetzte ihn in eine süße Wehmut: das Andenken an sein eignes Unglück zog ihn täglich mehr zu diesen Leuten hin: in drei Tagen war er mit so unertrennlichen Banden an diese Familie geknüpft, daß ihr Wohl und Weh mit dem seinigen[335] eines wurde. Der Hausherr erzählte ihm die ganze Reihe von Unglücksfällen, die seine Armut allmählich herbeigeführt hatten: seine Felder konnten das künftige Jahr nicht bestellt werden, weil ihm der Samen fehlte; und jedesmal war der Schluß seiner Erzählung: wenn ich nur drei Taler hätte! dann wär mir geholfen. – »Die hab ich ja«, dachte Herrmann bei sich: er zählte sie dem Manne auf den Tisch. Der Bauer wollte auf die Knie vor ihm fallen, die Hausfrau drückte ihm weinend und dankend mit den schwielichten Händen fast die Finger entzwei, die Kinder erhuben auf das Gebot der Eltern ein lautes Dankgeschrei und stürmten mit ungestümer Freude auf ihn los: die Leute wußten nicht, woher sie Worte nehmen, noch wo sie mit ihrer Dankbarkeit aufhören sollten. Wie wohl dem Jünglinge, der bei einem Vermögen von nicht völligen vier Talern noch eine Familie auf ein ganzes Jahr und vielleicht auf immer glücklich machen konnte, wie wohl ihm da um das Herz ward! Es schlug zum ersten Male wieder lebhaft, es deuchte ihn, als wenn er itzt aus dem Nichts hervorgestiegen und ein Etwas geworden wäre, das leben, empfinden und handeln könnte: aus dem Auge schlich ihm eine Träne und durch seine ganze Seele ein wehmütiger freudiger Schauer. Die Leute erzählten im Übermaße ihrer Dankbarkeit seine Wohltat allen Nachbarn: das Gerücht verbreitete sich weiter, und eins nach dem andern kam an die niedrigen Fenster und guckte herein, um den großmütigen Jüngling zu sehn: wohin er nur sah und hörte, waren ein Paar Augen auf ihn gerichtet oder ein Paar Lippen zu seinem Lobe offen. Nun war seine Einbildungskraft und seine ganze Tätigkeit wieder emporgeschraubt, sein niedergeschlagenes Gemüt wieder erhoben: er fühlte sich bei achtzehn baren Groschen als den glücklichsten Menschen der Erde.

Aus Erkenntlichkeit erbot sich der Bauer, ihn nach Berlin vollends zu bringen, wenn er den Weg zu Fuße machen wollte: er entschloß sich dazu und langte zwar mit völlig leeren Taschen, aber doch mit einem Herze voller Zufriedenheit an Ort und Stelle an.[336]

4

Man weiß aus zuverlässigen Nachrichten, daß es eine Gesellschaft betrunkner Fuhrleute gewesen ist, die sich in ihrer wilden Fröhlichkeit einige freie Ausdrücke erlaubten und darum für Naturalisten von dem Herrn Magister gehalten wurden: als er seine Predigt mit so gewaltiger Stimme begann, nahmen sie insgesamt die Mützen ab, falteten die Hände, weil sie in ihrer Trunkenheit in der Kirche zu sein glaubten, und da die Predigt lange dauerte, schlief einer nach dem andern ein.

5

Wahrscheinlich sind dies die Bursche gewesen, die vor dem Brandenburger Tore auf abgelebten, steifen Rossen für einen höchst billigen Preis ihre prächtigen Kawalkaden zuweilen halten.

Quelle:
Johann Karl Wezel: Hermann und Ulrike. Leipzig 1980, S. 316-337.
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