II

Der kleine Zeichner und Dichter. Der Rechtschreiber. Der Freiheitsdichter. Gottfried Kinkel. Meines Vaters Amtsentsetzung und Untersuchungshaft. Unser Blücher

[14] Zu dichten habe ich wohl fast so früh begonnen, als ich schreiben konnte; aber wenn andere durch Zeichnungen Gedichte illustrieren, begann ich damit, Verse zu Bildern zu schmieden; sie waren einander wert, denn sie waren beide von mir. Nachdem ich, der zukünftige Theaterdichter und Direktor, hauptsächlich an Theaterzetteln lesen gelernt hatte – ich war nach den ersten Schultagen (fünfjährig) krank geworden und lag im Bett; da kam nach damaligem Brauch der großmächtige Komödienzettel ins Haus, ich verlangte ihn, suchte mir die ersten gelernten Buchstaben heraus, ließ mir die andern von der Mutter erklären; die nächsten Tage setzten das fort – nachdem ich dann die Kunst des Lesens durch die größere des Schreibens ergänzt hatte, brach wie eine epidemische Krankheit das Zeichnen in mir aus, wovon, wie von andern Krankheiten, nichts geblieben ist. Meine Mutter hatte viel zu sammeln, leere Seiten von Briefen, von abgelegten Heften und Büchern, um diese Schaffenswut zu sättigen; bis ich mir einmal einen großen Bogen erbat, auf dem[14] aber auch noch gar nichts geschrieben sei, und nun etwas Gewaltiges unternahm: die ganze Fläche teilte ich in viele viereckige Felder, mit schmalen Streifen darunter; in jedes Feld zeichnete ich irgend eine landschaftliche oder figürliche Phantasie hinein, in jeden Streifen schrieb ich ein paar Verse, die das darüber stehende Bild zu erklären suchten. So rief der Maler den Dichter hervor; an diesem seinem Geschöpf ist er dann gestorben.

Von diesem Bogen und seinen Nachfolgern existiert nichts mehr; es gibt aber noch ein entsetzlich kleines und schäbiges Büchlein, das ich mit Bleistiftzeichnungen und dazu gehörenden Dichtungen gefüllt habe; auf der Innenseite des Umschlags steht mit Tinte geschrieben: »Gedichts-Buch für Professer W.« und: »Gebuestags-Geschenk für Professer W. in Rostock 1844«; ich war also damals (mein Vater war am 15. März geboren) sechseinhalb Jahre alt. Auch ein Inhaltsverzeichnis fehlte nicht: die Burg, die Überschwemmung, das Haus, Alechszander (der Große), der Zug. Phantastisch war nur »der Zug«: vier geflügelte, langhemdige Wesen auf Wolken, die »wechzogen in das große Himmelsreich«, um dort »wie Engel zu werden«. Als Dichtung ragte aber das erklärende Gebet zur »Überschwemmung« hervor, da es das einzige, ganz verständliche Gedicht und dramatisch lebendig war; soll ich's niederschreiben? Die Herren Kritiker wollen bedenken, 's ist ein Jugendwerk:


Ach, hilf mir, Gott, aus diese Noht!

Die Überschwemmung, droht mir todt.


(Ein großer Mensch steht mit erhobenen Armen auf dem Dach eines kleinen Hauses, das die Wellen zu verschlingen drohn.)
[15]

Siehe, die Berge, wie sie schon sind;

Flink, flink! trage mich hin nach dem B.

(In der Zeile war kein Platz mehr; das »B.« soll offenbar »Berge« heißen.)

Wo meine Brüder sind, nach der Herberge!

Siehe, ich bin ja schon halb todt,

Schnell, schnell, komm her lieber Gott,

Ich will auch fromm sein, und sehr gut;

Lieber Gott, wenn das dir g. thut,

(Das »g.« soll wohl »gefallen« heißen.)

So tuh' es auch,

was ich gebrauch.


Nach diesen Anfängen ward ich ein gefährlicher Papierverbraucher, eine wilde Fruchtbarkeit war über mich gekommen. Ich weiß wenigstens, daß ich als Neun- oder Zehnjähriger zu meiner Mutter, die in der großen Wohnstube am Nähtisch saß, mit einem blau gehefteten Buch kam, das ich mit Gedichten, Erzählungen und allerlei vollgeschrieben hatte: es schien mir an der Zeit, das als Band zu drucken. Die Mutter erschütterte indessen meinen Wagemut, indem sie mir auseinandersetzte, ein Buch zu drucken sei teuer. »Wie teuer wohl?« fragte ich. »Fünfzig Taler!« antwortete sie. Fünfzig Taler hatte ich nicht; ich sah auch keinen Weg, wie ich eine so unermeßliche Summe herbeischaffen könnte. So trug ich denn mein blaues Buch in seinen Winkel zurück, bis auf bessere Zeiten; die haben es aber nicht gesehn, es war längst verschwunden.

Mittlerweile war ich wenigstens ein fehlerfrei rechtschreibender Deutscher geworden, ein Sohn meines[16] Vaters; darin hatte ich ausgelernt. Unser Lehrer der deutschen Sprache in Quinta, Doktor Brunimerstädt, erwies mir denn auch die Ehre, mich zuweilen statt seiner auf den Katheder zu berufen: ich hatte als sein Stellvertreter aus dem Buch zu diktieren, der ganzen Klasse, um sie in der Rechtschreibung (auch Interpunktion) zu üben und zu prüfen. Unterdessen ging Brummerstädt, die Hände auf dem Rücken, die Schulstube auf und ab. Ich war aber ein etwas ungetreuer Knecht, meinen Mitschülern zuliebe: so lange der Lehrer zu mir hinpendelte, diktierte ich, schuldlos wie die Engel, nur die Worte, sonst nichts; sobald er mir aber den Rücken wandte, hob ich meinen Zeigefinger und machte in der Luft die Verbindungszeichen, Komma, Semikolon, Kolon und so weiter, zu großem Vergnügen der Klasse.

Als Rechtschreiber (wenn auch nicht als Rechthändler) war ich nun also anerkannt; als Dichter fand ich aber in meiner Vaterstadt Unglauben, wie Mohammed in Mekka. Unter denen, die Verse von mir zu Gesicht bekamen, traten Zweifler auf: »Das hat er nicht selbst gemacht!« oder: »Das hat er nicht allein gemacht!« Als ich einmal am Blücherplatz an einem Geschäftsladen vorbeiging, in dem ein Verwandter von mir Kommis war, ergriffen mich die jungen Männer, führten mich in das Kontor hinter dem Laden, setzten mich vor einen großen Bogen Papier und verlangten: »So, hier mach' ein Gedicht!« Worüber denn? fragte ich. »Ein Gedicht an den Mond!« sagte einer von ihnen; die andern stimmten zu. Ich fand diese Zumutung geschmacklos; was hatte ich dem Mond zu sagen?[17] Aber ich wollte ihnen doch zeigen, daß ich ein wahrhaftiger, unabhängiger und selbständiger Dichter sei; also in Gottes Namen der Mond! Sie ließen mich allein, ich verfaßte; ich verfaßte eine lange Seite voll. Was und wie, das weiß ich nicht. Aber als meine Zweifler wiederkamen, wurden sie Gläubige; sie lasen und staunten: ganz alleinge macht! Sie beschenkten mich und behielten das Gedicht. Ich trabte zufrieden in meine Schnickmannstraße zurück.

Die Schriftstellerei erweiterte sich:auf dem Puppentheater, das ich mir zu Weihnachten oder sonst errungen hatte, führte ich nicht nur fremde, bald auch eigene, zuweilen frech improvisierte Schauspiele auf; für meine Bleisoldaten, die ich rastlos vermehrte und in viele Reiche gliederte, gründete ich eine geschriebene Zeitung, in der ich Zusammenkünfte der Monarchen, Paraden, Verwicklungen, Verfeindungen und Versöhnungen mit tiefem Affenernst journalistisch beschrieb. Damals war wohl schon das große Vorbild der Wirklichkeit vor mir aufgegangen, die Februar- und Märzrevolution von 1848, die von Westen nach Osten durch Europa fegte, so viel Veraltetes umstürzend, so viel Neues schaffend. Was für eine Revolution auch in mir! Auf einmal war eine neue Leidenschaft erwacht, die politische: das Vaterland und die Freiheit wurden meine Götter. Mit den Berliner Märztagen, glaube ich, begann's; dann erfuhr ich, das alles sei von Wien nach Berlin gekommen, und nach Wien von Paris. Unter dem Stehpult meines Vaters lagen noch Haufen von Zeitungen aus dem Februar; dort kniete ich nun stundenlang, wenn der Vater fort war, und las in den[18] alten Blättern, wie sie in Paris in die Tuilerien drangen, wie sie Louis Philipps Thron aus dem Fenster warfen. So sollte es jedem Thron ergehn! Ich war Republikaner geworden, Gott mag wissen, wie. Fürsten – Tyrannen – zwischen den beiden Worten sah ich keinen Unterschied. Mit Karl Türk, dem Sohn des uns befreundeten Professors Türk in der Nachbarstraße, sammelte ich lebendige Eidechsen, die wir auf seinem Hof in einem alten Kessel mit Sand und Wasser ansiedelten; diesen zierlichen Geschöpfen gaben wir lauter Republikaner-und Tyrannenmördernamen; unsre Lieblinge hießen Brutus und Cassius. Je mehr das große Revolutionsjahr vorrückte, desto kühner und gewaltiger rückten wir beide nach links; auch die rote Republik genügte uns nicht mehr, wir gründeten eine blutrote, vorderhand zwei Mann hoch.

Endlich ergriff die Zeit auch den Dichter; aber erst als der kindliche Freiheitsjubel in dem furchtbaren Ernst des Gegenstoßes, in Pulverdampf und Blut erstickte und aus dem Völkerrausch von 1848 die Schicksalstragödie von 1849 ward. Das war richtige »Werdezeit«: ich sah Weltgeschichte, ich fing an zu fassen, daß die Entwicklung der Menschheit auf den Kampf gestellt ist und diese große Schlacht auf und nieder geht. Mein Herz schlug für die Verteidiger der Freiheit, für die Unterliegenden; helfen konnte ich ihnen nicht, sie besingen konnt' ich. Aus den Jahren 1849 und 1850 besitz' ich noch eine lange Reihe von Gedichten, deren Titel sprechen: Des Polen Abschied, Das Grab der Helden (Kapolna), Republikaner-Schlachtgesang, Der Polenheld, der alte Pole, Kossuth (in Brussa), Auf[19] Bems Tod, Der Freiheitskämpfer, Trostesstimmen (nach dem Sieg der Reaktion). An meinem Sinn hielt ich fest, in »Mein Glaube« rief ich es der Welt knabenfrech ins Gesicht:


... Mein Glaub' verknüpft sich an ferne Zeit

Und nicht an der Frömmler Lehren;

Ich glaube an Freiheit und Einigkeit,

Das soll kein Henker mir wehren;

Ich glaub' an ein ewiges Morgenrot

Und an der Tyrannen und Fürsten Tod.


Ich bin noch ein Knabe, doch seh' ich klar

Das Zittern der feigen Tyrannen;

Und ich fühl' im Herzen: mein Glaub' ist wahr,

Und kein Mörder kann ihn mir bannen! –

Ich glaub' auch an eine Dreieinigkeit:

An Freiheit und Gleichheit und Brüderlichkeit.


Lassen sich diese Verse nicht ohne Lächeln lesen, so fand der »Knabe« zuletzt (aber erst 1851, mit vierzehn Jahren) doch noch einen Ton, der wirklich gesungen ist und vielleicht ein wenig mit dem jungen Phrasenhelden versöhnt:


Letzter Wunsch.

Ich sah einen Greis in Wald und Flur,

Zu rauher Winterszeit;

Der seufzte und schaute rings die Natur:

»Wie ist noch der Frühling so weit!

Den Frühling möcht' ich noch einmal sehn,

Noch einmal in Flur und Hainen gehn,

Und dann mit Freuden sterben.«
[20]

Ich sah einen Greis im Kämmerlein,

Der seufzte mit leisem Ton:

»Mag's Winter oder mag's Frühling sein,

Ich fühle mein Ende schon.

Gern säh' ich noch einmal der Freiheit Licht,

Eh' mir mein müdes Auge bricht,

In Vaterlandes Fluren.«


Ich sah einen Greis, der schliff sein Schwert

Und schaute es fröhlich an:

»Der ist nicht Frühling und Freiheit wert,

Der's nicht erkämpfen kann.

Ich stürbe wohl gern den Heldentod,

Und sähe in nieinem Blute rot

Die Freiheit wieder auf Erden!«


Die vorhin mitgeteilten Überschriften der politischen Gedichte verraten, was für ein leidig echter Deutscher ich als Bub gewesen: fast lauter Polen und Ungarn, Ausländerei, Begeisterung für die fremden Völker. Zu meiner Ehrenrettung muß ich sagen, daß ich auch deutsche Gefühle und deutsche Helden mit glühendem Entzücken besang; so den Herzog von Braunschweig, der bei Quatrebras als Führer der schwarzen Schar gegen die Franzosen fiel; so unsern Gottfried Kinkel, der im November 1850 dem langsamen Zuchthaustod durch seine Flucht aus Spandau entging. Kinkel, damals ganz der Mann meines Herzens, Dichter und Kämpfer zugleich, von den Siegern zur lebenslänglichen Zuchthausschmach verurteilt, durch einen deutschen Studenten befreit, schien sich mit dem noch irgendwo auf deutschem Boden zu verbergen.[21] Wie wird es ihnen ergehn? Werden sie übers Meer entkommen? Werden sie den Häschern in die Hände fallen? Ich lief mit jeder neuen Zeitungsnachricht brennheiß zu meinem Vater hinein: sie sollten in Schweden gelandet, sie sollten an der englischen Küste, sie sollten schon in London sein. Mein Vater hatte immer eine Art von Lächeln, von Unglauben; Zeitungsgerede! abwarten! sagte sein philosophisches Gesicht. Ich ahnte nicht, daß er einer der Wissenden war; ich ahnte nicht, daß Kinkel und Schurz in Rostock saßen, bei einem patriotischen Bürger wohlgeborgen, bis die rechte Stunde gekommen sei, nach England zu fliehn. Vor dem Rostocker Mühlendamm steht ein Wirtshaus zum Weißen Kreuz, das im Frühling herrlich über und über von einem Glycinenstamm blüht, dessen Zweige das hohe Dach und den First erklettern; in dem Haus ist noch eine »Kinkelstube«, eigentlich nur ein Alkoven, in dem Kinkel damals zuweilen unerkannt sein Bier oder seinen Wein getrunken und auf die sichere Freiheit gewartet hat. Wie ward mir zu Mut, als ich endlich hörte: dein Held ist in England und deine Vaterstadt hat ihn behütet!

Indessen nach der Freude, die ich über Kinkels Befreiung empfand, sollte ich den Ernst dieser Zeit noch aufs allernächste und tiefste erleben: am Schicksal meines Vaters, den, so unschuldig er war, die Reaktion mit ihren langen, harten Armen ergriff. Nach der Berliner Märzrevolution war auch über das altständische und sozusagen altfränkische Mecklenburg der Geist der neuen Zeit, der politische Frühling gekommen; Friedrich Franz II., unser junger Großherzog, erklärte[22] für dringend erforderlich, daß das Land in die Reihe der konstitutionellen Staaten trete, gewann auch den Großherzog von Mecklenburg-Strelitz und die gemeinsamen Stände dafür, vereinbarte mit gewählten Vertretern ein Staatsgrundgesetz, verkündigte es und setzte es in Wirksamkeit. Aber die Mäuse nagten an dem jungen Baum; der Strelitzer fiel ab und suchte sich einen Klageweg; ein Häuflein der durch das neue Gesetz aufgehobenen »Ritterschaft« gewann gleichfalls den Mut, sich zu beschweren, da der Reaktionswind durch die Lande ging. Die mit dem Deutschen Bund wieder auflebende Bundeszentralkommission nahm die Klagen an, von Preußen und Österreich dazu angeleitet, und das »Schiedsgericht« von Freienwalde fällte am 11. September 1850 seinen Spruch: Das neue Staatsgrundgesetz besteht nicht zu Recht, die alte landständische Verfassung soll leben! Friedrich Franz II. von Mecklenburg-Schwerin »unterwarf sich löblich«. Im Februar 1851 war alles beim alten, die Stände aus der guten alten Zeit versammelten sich wieder; nur trat jetzt an die Stelle der mecklenburgischen Gemütlichkeit von vordem ein finsterer Verfolgungs- und Rachegeist, ein fremder Tropfen in unserm Blut, und suchte seine Opfer, zu denen auch der Professor Christian Wilbrandt gehörte.

Mein Vater, ein begeisterter Patriot und ein durch und durch freigesinnter Mann, hatte sich der großen Bewegung mit all seinem Jugendfeuer angeschlossen; er war auch in den neuen mecklenburgischen Landtag gewählt worden und hatte an der Gründung unsres jungen Verfassungsstaates freudig mitgewirkt. Als nun[23] der Rückschritt gesiegt hatte, wie in Berlin und Wien, so auch in Schwerin, begann die großherzogliche Regierung diejenigen politischen Führer zu strafen, die während der Bewegung weiter links gestanden, sich zur Demokratie bekannt hatten und denen sie etwas anhaben konnte. Mein Vater war Professor, vom Großherzog ins Amt gesetzt; er hatte zwar für dieselbe Sache gefochten wie der Großherzog, aber sein Säbel hatte einen etwas anderen Griff gehabt. Dafür sollte er büßen; wohl zum warnenden Exempel. Im Juli 1852 ging ihm ohne weiteres seine Entlassung zu, in einem vom Landesherrn unterzeichneten Reskript, dessen Fassung so anziehend altertümlich ist, daß ich den ersten Absatz hier mitteile:

»Da ihr euch an den Bewegungen der neueren Zeit in ihren revolutionairen Beziehungen seit dem Frühjahre 1848 auf das Tätigste beteiligt habt, indem ihr mit an die Spitze derselben getreten und dieselbe durch alle euch zu Gebote stehenden Mittel zu fördern bemüht gewesen seid, insbesondere auch mit allen denen, welche dieselbe strafbare Richtung verfolgt, zusammengehalten und gemeinschaftliche Sache gemacht habt; da ihr durch dieses euer Verhalten nicht allein die Pflichten der Treue gegen Uns, euren Landesherrn, sondern auch die Rücksichten, welche ihr auf eure Stellung als akademischer Lehrer zu nehmen hattet, mißachtet, der euch anvertrauten akademischen Jugend, welcher ihr in aller Weise ein gutes Vorbild zu sein verbunden waret, das verderblichste Beispiel gegeben und somit in diesen Richtungen die durch eure Bestallung vom 23. März 1837 übernommenen Verpflichtungen schwer verletzt[24] habt; so können Wir es mit Unseren landesherrlichen Pflichten und dem, was Wir Unserer Universität schuldig sind, nicht vereinbaren, euch nach solchen Vorgängen den Beruf eines akademischen Lehrers ferner anzuvertrauen.«

Demgemäß Entlassung, doch mit »Bewilligung« der bisher bezogenen Besoldung als lebenslängliche Pension; wofern nicht der Entlassene »durch eine etwa einzuleitende Untersuchung« über die Vergangenheit noch schwerer belastet wird, oder sich in seinem künftigen Verhalten so belastender Handlungen schuldig macht.

Amtsentsetzung ohne vorausgegangene Disziplinaruntersuchung, ohne jeden Beweis der Anschuldigungen, die die Schrift auszusprechen den Mut hat!

Indessen diesem »ersten Streich« folgte bald der zweite. Am frühen Morgen des fünften Mai 1853 (es war der Himmelfahrtstag) erwachte ich durch den Einmarsch von Polizeimannschaft, die durch mein Schlafzimmer hindurchging, um meinen Vater nebenan zu verhaften. Er war einer von vielen, die man von Rostock nach Bützow ins Kriminalgefängnis brachte, darunter noch zwei Professoren, mehrere Advokaten, Ärzte, Kaufleute, Arbeiter; alle unter schwerer Anklage: sie sollten Mitglieder einer Verbindung sein, welche den Umsturz der deutschen Landesverfassungen und die Einführung einer deutschen Republik bezwecke, und sich als Mitglieder einer solchen hochverräterischen Verbindung an der Anschaffung von Munition beteiligt haben. Auch ein Zusammenhang mit Gleichgesinnten in Berlin, wo eine ähnliche Untersuchung begann, wurde den Rostockern zur Last gelegt. Die Anklage[25] beruhte auf Aussagen des preußischen Leutnants Hentze, der von Berlin als Agent provocateur nach Rostock gekommen war, sich als angeblich Gleichgesinnter an ein paar Zusammenkünften dieser oder jener Herren beteiligt, andere Zusammenkünfte hinzu erfunden und mit hochverräterischem Inhalt gefüllt hatte.

Es wurde das Muster einer politischen Untersuchung gegen gehaßte Andersdenkende: zwei Jahre saß mein Vater in Bützow als Untersuchungsgefangener; vierundvierzig Monate dauerte die Hast des Professors Julius Wiggers, unseres lieben Freundes, der diese ganze Leidenszeit in dem trefflichen Buch »Vierundvierzig Monate Untersuchungshaft« geschildert hat. Zur Sache sagt er darin folgendes, das mit dem übereinstimmt, was ich später aus meines Vaters Munde hörte: »Es konnte keiner von uns sich in Wahrheit schuldig bekennen; denn es fehlte unseren Versammlungen und unseren Verbindungen nach außen an allem, was ein hochverräterisches Komplott konstituiert; wir hatten keine Organisation, keine Statuten, keine bindenden Beschlüsse, keine Unterordnung des einzelnen unter das Ganze, der Minderheit unter die Mehrheit, der diesseitigen unter auswärtige Bestrebungen, kein festgestecktes Ziel. Das Ganze beschränkte sich auf Vorbereitungen für gewisse Eventualitäten, deren Herbeiführung sowohl außerhalb unserer Macht als unseres Willens lag, und deren Benutzung sowohl nach Art als nach Ziel vollkommen unbestimmt blieb.... Ein gewaltsames Durchbrechen des Ganges der geschichtlichen Entwicklung lag unserer Absicht fern.... Unser aller Absicht ging nicht weiter, als uns auf eine[26] Zeit zu rüsten, welche vor dem französischen Staatsstreich jedermann in Europa für nahe hielt. Mit dem Staatsstreich änderte sich die Voraussetzung unserer vorbereitenden Tätigkeit.... Noch lange vor dem Schlusse des Jahres 1852 hörten die Besprechungen und jede Spur einer Tätigkeit auf, und es war wohl keiner aus unserem Kreise, der nicht die Fortsetzung des bisher von uns eingehaltenen Weges als stillschweigend aufgegeben angesehen hätte.«

Dennoch kam es zu Verurteilungen und Vollstreckungen; die nichtswürdigen Erfindungen des Polizeispions Hentze wirkten, der Parteigeist wirkte mit. Mein Vater, nach zwei Jahren aus der Untersuchungshaft entlassen, weil das über die Verschleppung unwillige Oberappellationsgericht drängte, dann in erster Instanz verurteilt, siegte in der zweiten: draußen in der Freiheit gelang es ihm, die ihn betreffende Hauptlüge zu widerlegen, das glückliche Gedächtnis meiner ältesten Schwester Luise verhalf ihm zu einem unanfechtbaren Beweis, daß er in einer ihm schwer angerechneten Versammlung nicht zugegen, sondern über Land verreist war. So blieb er denn in der Freiheit, bei uns. Über Deutschland aber lag noch, still und fest, das Leichentuch der Reaktion.

Doch wie konnten wir an Deutschlands Zukunft verzweifeln? Das war nicht in uns. Wenn ich in diesen nebelgrauen Jahren über den Blücherplatz ging, sah ich zwischen den hohen Linden das eherne Standbild unseres großen Rostockers, des Feldmarschalls Blücher, der für mich das herrlichste Urbild war eines deutschen Helden, und unser Befreier aus tiefster Not.[27]

Vom alten Schadow etwas gar zu »stilvoll« hingestellt, ahne Helm, ein Löwenfell über den Schultern, den Feldherrnstab in der feierlichen Rechten, stand er doch in seiner edlen kriegerischen Schönheit da, ein immer stärkender Anblick. Der hatte, wie der Junge im Volksmärchen, nie das Fürchten gelernt; der hatte auch nie das Verzagen gelernt, wie glühend ihm auch die deutsche Schmach in der Seele brannte. Der hatte von Napoleon, auf den er losging wie der Stier auf den Löwen, mit dem genialen Tiefblick seines Reiterhumors gesagt: »Laßt ihn man machen, er ist doch ein dummer Kerl!« Und wie er nach den Jahren unsrer tiefen Erniedrigung als greiser Jüngling, als »Marschall Vorwärts« der Held unsrer Wiedererhebung ward, so hatte der dramatische Sinn der Weltgeschichte an das Ende seiner Taten noch einen letzten Sturz und einen höchsten Sieg gestellt: Ligny und Waterloo. Das hatte Schadow, der Bildhauer, der Weltgeschichte nachgemacht: auf dem einen Relief des Postaments sah man den alten Helden mit dem Roß gestürzt, das rechte Bein unter dem hingeschmetterten Pferd, so wie er bei Ligny am Boden lag. Auf dem anderen Relief, gegenüber, sprengte er wieder hoch zu Roß, den besiegten Feind vor sich her treibend, der in dämonischer Mißgestalt, mit Fledermausflügeln, vor dem Unüberwindlichen floh.

Wer so einen Landsmann, solch ein Vorbild hatte, konnte der verzagen?[28]

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Aus der Werdezeit. Erinnerungen. Neue Folge, Stuttgart, Berlin 1907, S. 14-29.
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