III

Lehrreiche Erfahrungen. Selbstkritik. Selbstüberwindung. Liebe und Liebespoesie. Jugendgärungen. Der Rostocker Student

[29] »Ist nicht alles Innerlichste, Wichtigste, Beste unseres Lebens Geheimnis für die Welt? Wie Tau und Sonnenschein fallen stille Schicksale, zarte Neigungen, tiefe Leidenschaften in unsere wachsende Seele; nähren, formen, entfalten sie; führen sie hierhin und dorthin. Könnt' ich davon reden? Was am tiefsten wirkte, flieht auch ins Tiefste, will nicht an den Tag....«

So habe ich vor vielen Jahren in einem Gespräch gesagt, »das fast zur Biographie wird«, das zuerst in Paul Lindaus »Gegenwart« erschien. So sag' ich auch heute; Selbstbiographien könnte man auch Selbstverschweigungen nennen, sofern man die ganze organische Bedeutung des Unsagbaren bedenkt. Wenn ich hier nun dennoch von mir und meinem Werden rede, so tue ich es, weil so vielfältige Erfahrung zeigt, daß doch auch das, was sagbar ist, andern Werdenden und auch andern Gewordenen Anregung, Erhellung, Beruhigung, Stärkung, kurz, eine nicht unnützliche Unterhaltung sein kann. Wie man doch auch selber, im Verkehr, den Menschen dies und das ist, obwohl wir einander nie bis zum Urgrund kennen.[29]

Ich glaube, jeder, der im Leben aufmerkt, wird von diesem oder jenem Vorgang wunderlich getroffen: er entdeckt in dem Einzelfall etwas Allgemeines, Typisches, das ihm ein Stück der Menschennatur erhellt, ihn fürs ganze Leben um eine Erkenntnis bereichert. So erinnere ich mich aus der Knabenzeit, daß ich einmal mit drei Kameraden aus dem Walde heimkam, alle schön erregt: wir hatten uns in den Tannen mit einer zahlreicheren Bande von »Straßenjungen« geschlagen, einige ehrenvolle Verletzungen (von Steinen, glaub' ich) schmückten unsere Gesichter, wir waren, wenn vielleicht nicht Sieger, jedenfalls unbesiegt. Bei meiner Mutter eingetreten und wegen der Schrammen ausgefragt, erzählten wir eifrig, einer nach dem andern; ich hörte aber mit wachsendem Staunen zu. Jeder berichtete anders; und doch hatten wir alle vor einer Stunde das nämliche erlebt! Jeder glaubte: ich erzähle richtig, hätte es beschworen. Wie kann das sein? dachte ich. Ist's gleich auf dem Schlachtfeld was anderes geworden oder auf dem Heimweg? Darüber kam ich natürlich nicht ins reine; aber am Ende blieb mir der Schluß: so sind also wir Menschen; wir sehen, fassen, erleben verschieden; jeder hat einen anderen Kopf. Für die reine, vollkommene Wahrheit, scheint es, sind wir nicht geschaffen. Keiner kann dem andern unbedingt vertrauen – und keiner sich selbst!

Ein zweiter Fall war unbedeutender, lächerlicher, er sagte aber auch etwas. Wir sollten einen Schulausflug machen, wir Quintaner, glaub' ich, nur für einen Nachmittag; jeder bekam von den Seinen etwas Proviant mit und ein wenig Geld. Einer von uns rühmte[30] sich, sein Vater habe ihm zwölf Schillinge gegeben; für einen halben Wandertag unglaubwürdig viel. Das empörte denn auch einen andern, einen Schlosserssohn, aufs äußerste; am Mittag mit mir von der Schule heimgehend, schüttete er seine Entrüstung aus. »Wie der Bengel lügt! Zwölf Schillinge! Mein Vater hat gewiß so viel Geld wie seiner, und er gibt mir immer reichlich, mein Alter; aber zwölf Schillinge? Nee! Er hat mir wohl schon einmal sechs gegeben, als wir so 'ne Fahrt machten –« in seinem Familienstolz steigerte er sich: »auch schon einmal acht, auch neun –« er, der Schlosserssohn, wollte sich nicht lumpen lassen: »und einmal sogar elf!« rief er aus. »Aber zwölf? Nee! Das lügt er!«

Ich lachte inwendig und dachte plötzlich: Ja, so sind die Menschen! Das heißt, solche Menschen; aber vielleicht gibt's viele von dieser Art. Sie können's nicht anhören, wenn die andern lügen oder prahlen, und in ihrer Empörung lügen und prahlen sie selbst!

Schon einige Jahre älter war ich, als ich folgende beschämende Erfahrung machte: ich hatte Verwandte auf dem Lande besucht, wollte wieder abreisen; der Wagen zur Abfahrt war beordert, mit mir zugleich wollten ein paar junge Mädchen und mein jüngerer Bruder weg. Eine vierzehnjährige Cousine, ein lebhaftes, reizendes, blühendes Geschöpf, wegen ihrer Schnelligkeit im Laufen der Hirsch genannt, hatte mir in der bekannten Brustgegend etwas warm gemacht; ihretwegen wär' ich wohl noch gerne geblieben. Auf einmal kam sie zu mir, der vor dem Haus stand, und sagte: »Warum willst du heut schon fort? Bleib doch noch; wenigstens einen Tag!« – Das fuhr mir lieblich[31] durch jene Brustgegend, gab mir ein schmeichelndes, streichelndes Gefühl. Sie will mich noch haben! dacht' ich. Also was man gleichgültig nennt, bin ich ihr doch nicht! – Indessen leider mußt' ich fort, meines Bruders wegen, oder waren die Ferien zu Ende – das hab' ich vergessen. Also in Gottes Namen, holder Hirsch, lebe wohl! Der Wagen kam zur Abfahrt; die Mädels kamen, die mitwollten, die Freundinnen des Hirsches; der umarmte und küßte sie. Wir vier Reisende stiegen ein, auf den Bock zum Kutscher ein fünfter, ich weiß nicht wer; die Cousine sah seufzend zu uns heraus. »Ach,« sagte sie zu den beiden Freundinnen, »ich wär' so gerne mitgefahren, wär' dann noch bis zum Abend mit euch in der Stadt gewesen; aber Adolf bleibt ja nicht hier!«

Das tat meiner Knabenbrust nicht so wohl; es gab ihr einen Schlag. Wir fuhren ab, in den schönen Morgen hinein – und nach den ersten unholden Gefühlen kam mir ein auch nicht holder, aber nützlicher Gedanke: Das merk' dir, du eingebildeter Bengel! Das nimm dir auf die Lebensreise mit! Ja, so sind wir Menschen: was der lieben Eitelkeit schmeichelt, das glauben wir; ist's auch wirklich so? danach fragt man nicht. Sie wollte nicht dich, nur deinen Platz. Gewöhne dir die Einbildungen ab, werd' kein dummer Kerl; Eitelkeit macht dumm!

Auch das ward mir eine Lebenslehre, als ich einmal so recht verspürte, wie jugendwarm meine gute Mutter sich wundern konnte; ja, ja, ja, sich wundern! dacht' ich. Dem geht's gut, der das nie verliert! Das ist auch eine Scheidung der Menschen: die einen, denen alles bald alltäglich wird – »ach, das kennt man ja« – die andern, denen die Wunder dieser Welt immer Wunder[32] bleiben, oder es jede Stunde wieder werden können. Und darin bin ich denn nun auch meiner Mutter Sohn; ich glaube, über irgend etwas wundre ich mich jeden Tag.

So bildet sich in jedem jungen Gehirn seine eigne Welt. Beobachte und verstehe! Das wurde mir ein Hauptgebot; und vor allem erfüllte mich jenes alte Wort: Erkenne dich selbst! Auch was mein Dichten etwa wert sei, suchte ich so früh wie möglich zu erkennen; komisch, lächerlich früh; aber was kann das Kind dafür, daß es noch ein Kind ist? Aus meinem dreizehnten Jahr, 1850, hab' ich noch ein winziges Heftchen, in dem unter anderm eine »Abhandlung über A. Wilbrandts Schriften. Von ihm selbst« angefangen ist. Es werden zuerst die Gedichte (kurz und knapp) kritisiert, dann die »theatralischen Versuche«; daß der Herr Rezensent sich nicht schonen wollte, kann der Anfang dieser dramaturgischen Abhandlung zeigen: »Erst im Jahre 1849 beginnt A. W. auch hierin sich auszubilden, nachdem er früher mitunter sehr mangelhafte kleine Szenen schrieb. Das erste größere Werk seiner Feder ist.Eckbert', ein Schauspiel in drei Aufzügen. Aber noch äußerst mangelhaft war dieser Versuch, und fast überall leuchtet, spärlich verdeckt, die über das Mögliche hinausgehende Phantasie des Autors hervor. Er durchschweift weite Märchenfelder, und nicht mit Unrecht kann man dies Schauspiel ein ›dummes‹ nennen.«

Zur Selbsterkenntnis mußte natürlich Selbstüberwindung kommen, das war ein zweites Gebot. Selbstüberwindung an Leib und Seele; kannte ich doch das weise lateinische Wort: mens sana in corpore sano, in[33] gesundem Körper ein gesunder Geist!An unserm Gymnasium nahm das vernachlässigte Turnen eben einen neuen Aufschwung, in einer Schulweisung darüber las ich, das gefiel mir sehr: »Der Turner muß Hitze und Kälte ertragen, Hunger und Durst.« Ich härtete mich, so viel ich konnte; mich zu strapazieren ward mir zum Sport, wenn ich auch das Wort noch nicht kannte. Meine Mutter war noch aus der alten Schule der Ängstlichkeit und wohl von meinen zarteren Kinderjahren her um mein Heil besonders besorgt; so hatte sie sich gewöhnt, mir bei jedem rauheren Wetter ein warmes Tuch um den Hals zu binden, wenn ich meinen Schulweg ging. Sowie ich aber draußen war, nahm ich den Schal herunter und fuhr damit in die Tasche; und ich härtete meinen Hals so gut, daß ich ihn auch heut beim schlimmsten Wetter niemals bedecke. Als ich erwachsen war, hab' ich mich dann wohl im Scherz gerühmt: »Mutter, ich hab mir damals das Leben gerettet, durch Indietaschestecken deines Schals und durch Essen von unreifem Obst!« Meine Leidenschaft aber ward das Turnen, in der bestimmten Schulzeit und zu jeder Zeit. Am stärksten ward ich als Springer (hoch und weit), als Läufer und Kletterer. Exerzieren lernte ich mit zwei Söhnen des Professors Strempel, in dessen Garten am »Vogelsang«; der Tambourmajor Holtz war unser Lehrmeister, ein schöner Riese. Der hatte etwas wie ein Blücher zu Fuß; mit Stolz und Bewunderung zog ich neben ihm her, wenn er an der Spitze der Militärmusik durch die Stadt marschierte und mit ehrfurchtgebietender Grazie seinen Kommandostab in die Lüfte warf.[34]

Mich auch seelisch zu stärken und zu überwinden, bemühte ich mich redlich; dafür gab es aber keine Turngeräte und keinen Tambourmajor, und wann und wie ich diese stillen, inneren Siege erfocht oder auch Niederlagen erlitt, wüßt' ich kaum zu sagen. Der Edelste zu werden, schwebte mir als das Höchste vor; aber wie wird man das? Zunächst müßte man wohl alles Unkraut aus dem Wege räumen: alles, was kleinlich macht, Abhängigkeit von Ärger und Verdruß, von Sorge, von der kleinen Menschen Gerede und Meinung, von kleiner und großer Eitelkeit. Da jätete ich nun, so gut es ging. Aber auch gefährliche Leidenschaften bekämpfen! Mich überfiel zuweilen ein jäher, verwildernder Zorn; wohl ein Erbteil von väterlichen Vorfahren her. Ich erinnere mich einer ernsten Schlacht, die ich einmal gegen so einen Zornanfall schlug; da war ich aber schon aus den eigentlichen Knabenjahren heraus, hatte geübtere und geistigere Kräfte. Aus irgend einem Grunde war über mich, der wohl grade überangestrengte Nerven hatte, eine blinde Wut gefallen; ich war allein in dem Saal unseres Hinterhauses, in dem zwei alte, antikisierend geschmückte Spiegel vom Fußboden bis zur Decke reichen. Der Ingrimm verzog meine Glieder, verzerrte mein Gesicht, ich konnte mich nicht fassen. Plötzlich fiel mir ein: wie du nun wohl aussiehst? Was so ein wilder Kerl für Grimassen macht? Und um mich zu studieren, trat ich vor den Spiegel; indem ich was lerne, dacht' ich, bezwing' ich zugleich diese blöde Wut! – Nun, es ging nicht so geschwind, wie ich hoffte; es war doch zu viel Feuer im Blut oder in den Nerven.[35] Da stand noch immer ein junger Bursch mit verzerrten Zügen. Ich ließ aber nicht nach; ich schaute sozusagen mit kalt lernenden Augen in seine wild glühenden hinein. Endlich kam der Sieg. Ich glaube, ich zwang ihn sogar, daß er lächeln mußte. Die Furien zogen ab wie die des Orest. Ich hätte wie Cäsar sagen können: ich kam, sah und siegte!

Unterdessen hatte ich von Schuljahr zu Schuljahr weitergedichtet; statt der Politik, die mir nicht mehr zu schaffen machte, dichtete die Liebe mit. Ich war noch nicht dreizehn Jahre alt, als mich eine ernsthafte, sonderbare Neigung ergriff: zu einem schon erwachsenen, sechzehnjährigen Mädchen, der Schwester eines meiner Kameraden, der mir damals der nächste war. Ich kam viel ins Haus, ich sah sie oft, sie war anmutig, lieblich, sie war auf eine schöne Weise hold zu mir; und ich, gleichsam an ihr hinaufwachsend, und doch immer den ungeheuren Abstand fühlend, und doch wieder mit einer Art von schwesterlicher Liebe herangezogen, als werdender »Poet« von ihr ausgezeichnet, ich lebte in einem Zustand zwischen Wohlsein und Tragik, in dem ich gleichsam über der Erde schwebte; ich hätte nicht auf sie hinabfallen mögen. Das ging zwei, drei Jahre so fort; dann verließ die Angebetete ihre Vaterstadt, auf ungemessen lange Zeit. Ich schenkte ihr ein Büchlein, das ich mit meiner jungen Dichterei (ich glaube, auf ihren Wunsch) gefüllt, und schickte ihr ein Abschiedsgedicht, in dem ich bekannte, was ich fühlte und sie lange wußte:


... O, zürne nicht dem jungen Herzen,

Daß frei der Brust das Wort entquillt[36]

Und dir die still verborg'nen Schmerzen

In traur'ger Stunde nun enthüllt.

Nicht kalte Worte kann ich sagen,

Das Herz ist mir so übervoll;

Es will den Schmerz so gerne tragen

Und weiß nicht, wie's ihn tragen soll.


Aber von »meiner Jugend holdem Stern« will das Gedicht nicht mit Klage scheiden. Segenswünsche begleiten sie. Nur »des Knaben, der ihr sein Herz geweiht«, auch einmal gedenken!

Ich litt, ich fühlte Sehnsuchtsschmerzen, ich strömte sie in Liedern aus; die alte Feile der Lyriker, mit der sie ihre Fesseln sprengen. Ehe Luise wiederkam – sie heiratete dann bald – war ich einer andern Welt zu nahe gekommen, der Welt meiner Zukunft, dem Theater; unsre junge tragische Liebhaberin hatte mich gefangen. Nicht daß ich sie schon kennen lernte: ich sah sie nur spielen, begegnete ihr wohl auch einmal, besang sie von meinem einsamen Zimmer aus und schickte ihr, namenlos, meine Hymnen zu. Ich überschätzte sie als Künstlerin mit aller Wollust eines jungen Narren, schrieb schlechtere und immer schlechtere Gedichte, verschwelgte meine Gefühle, bis sie nahe an den Unsinn oder Wahnsinn kamen; wenn ich statt dessen Mathematik getrieben hätte, es wäre besser gewesen. Dann traf ich sie in einem befreundeten Haus, sah, daß sie ein blaues und ein braunes Auge hatte, hörte sie erzählen, wie es ihr beim Theater ging und was für hübsche kleine Triumphe sie erlebte – und von dem Grenzgraben, wo der Wahnsinn anfing, kam ich so nach[37] und nach in die trockene Luft zurück, in der es Logarithmen gibt. Ich erfuhr nun auch dies und das: was für ein langweiliges, eitles, anständiges, blutloses Frauenzimmer sie im Grunde sei; nur eine hübsche Person mit einem gewissen Etwas, womit man im Theater die Unmündigen und die Narren einfängt. Ich ward kalt. Ich fiel ab. Ich schrieb keine Hymnen mehr. Ich schrieb nur noch, schwermutsvoll, ein letztes Gedicht:


Wie ward's so anders mit der Zeit, –

Wie dünkt's mich eine Ewigkeit!

Ich schüttle selbst das junge Haupt,

Hätt's nie gehofft und nie geglaubt;

Und wie im Traume wird mir's klar,

Wie doch das Herz so wandelbar.


Du warst der Kunst geweihtes Bild,

Das heilig ich im Herzen trug,

Warst meine Sonne schön und mild,

Das Ziel für meines Herzens Flug;

Du warst der Lichtglanz meines Lebens,

Und alles andre war mir Nacht,

Nur von der Glut wahnsinnigen Strebens

Zu wilder Helle angefacht!


Und nun – die Hülle ist gefallen,

Die mir der Wahrheit Bild verbarg;

Der Liebe Tönen ward zum Trauerhallen,

Zum Geisterflüsterton aus Grab und Sarg; –

Schmerzsinnend blick' ich auf mein Ideal,

Fluchend dem Truge meiner Sinnen,

Und treib' voll Scham und stiller Qual

Die falsche Kunst der Phantasie von hinnen.
[38]

Dieses Gedicht (es endete mit der Wiederholung der ersten sechs Zeilen) blieb in meiner Schublade, ungelesen und ungekannt; die Schauspielerin verschwand mit der zu Ende gehenden Spielzeit, ich sah sie nicht wieder. Dann kam noch eine dritte Liebesirrung, die letzte in der Heimat; – wozu davon reden? Ein großes Schicksal war sie nicht; sie hatte idyllisch Herzliches, sie hatte schlimme Verstörungen, aber sie drang nicht bis in die Tiefen, wo das eigentliche Werden wohnt. Es waren unfruchtbare Leiden und Freuden, entwicklungslose Gärungen, unreifes Auf und Nieder; wie diese fünf Verse es zeigen, die als Akrostichon zugleich den Namen des (blutjungen) Mädchens verraten:


Möchte knie'n, und Liebchen! Liebchen! sagen,

Aber nimmer darf das Wort vom Munde;

Rauher Zwist verbirgt geheimstes Klagen,

Innen blutend trag' ich meine Wunde,

Ernst und Scherz sind nur ein dumpf Verzagen.


O Jugend! O du Lebensmai! In allen Tönen, mit tausend Stimmen hat man dich gepriesen; von wie vielen der armen Sterblichen wirst du das Schönste genannt. Ich habe nie so gefühlt. In den Jahren 1854, 1855, 1856 habe ich ein (oft über Wochen springendes) Tagebuch geschrieben; als ich das jetzt, für diese »Erinnerungen«, durchlas, hab' ich oft in tiefem Staunen dagesessen: so ewig ungleich, verworren, getrübt, beschwert, so wenig reinglücklich war diese deine Jugendzeit? So viele Störungen in Seel' und Leib, so viel Wiederholung der Gärungen, der Verstimmungen? Das hatte ich nicht mehr gewußt; so[39] nicht. Ich saß und hatte Mitleid mit dem armen Jungen; mit dem dummen Jungen. Nein, es ist nicht gar so arg mit dem Jugendglück. Es ist nicht leicht, jung zu sein. Wie viel leichter, o wie viel leichter leb' ich jetzt, als sogenannter Greis, da ich dieses schreibe!

Freilich fehlte mir auch in Rostock so manches, dessen ich bewußt oder unbewußt bedurfte; das ich hernach in Berlin und in München fand und als das Brot des Lebens genoß. Von den Lehrern an unserm Gymnasium, das erst später einen neuen Frühling gewann, fühlte ich mich wenig angeregt; mit wahrer Dankbarkeit kann ich eigentlich nur des Doktors Wendt gedenken, der für Sekunda und Prima im deutschen Aufsatz, im Französischen und Englischen ein vortrefflicher Führer und Förderer war. Die kleinen und großen Turnfahrten, die die Schule machte, erfreuten mein junges Herz; in unserer Schülerverbindung »Amicitia«, die sich ganz studentisch gebärdete, lernte ich Bier trinken (o was für Bier damals! meiner Zunge greulich!), alle Lieder singen, fechten, später die Chronik schreiben, endlich präsidieren. Die Verbindung war verboten, wurde dann drei Vierteljahre lang probeweise geduldet, dann wieder verboten, da sich doch gezeigt haben sollte, daß wir Amici die schlechteren Schüler seien. Wir trotzten dem Verbot und bestanden weiter. Als heimlicher Amicus verließ ich nach dem großen Examen die Schule und ging freiheitsselig auf die Rostocker Universität.

War ich dort nun glücklich? – Ja, daß ich zur Freiheit geboren war, fühlte ich vielleicht mehr als je in meinem Leben; des ewigen Zwangs entladen:[40] lerne dies, tu das! stürzte ich mich mit wahrer Geisteswollust in ein grenzenloses Lernen und Studieren; so rastlos hab' ich nicht oft gearbeitet wie in diesem ersten Semester, Sommer 1856. Ich hatte mich auf meines Vaters Wunsch zunächst dem Jus ergeben, ich sprang mit beiden Füßen hinein und trank den ersten Becher, das Kolleg über die Institutionen des römischen Rechts, so bis zum letzten Tro psen aus, daß ich das Ganze wörtlich im Kopf hatte; als ich danach zu einem Stipendienexamen ging, um mich in eben diesen »Institutionen« prüfen zu lassen, wußte ich (ein nie wieder erlebtes Gefühl): ich kann nichts nicht wissen! Aber von diesem und andern Kollegien kam ich dann nach Hause in mein Paradies: Studien für mich und nach meiner Luft, in all meinen Sprachen, deutsch, griechisch, lateinisch, französisch, englisch, etwas italienisch; dazu Geschichte, Ästhetik, Philosophie, Literaturgeschichte und so fort. Alle alten Dichter las ich. Die längsten Tage waren kaum lang genug. Meine besten Freunde waren auf andre Universitäten gegangen, ich lebte wie ein Eremit über meinen Büchern.

Dieses Übermaß – zu dem ich leider immer neige – mußte sich wohl rächen; in meinem zweiten Semester wuchs mehr und mehr eine Trägheit heran, in der offenbar die Stimme der Natur sprach, und Gärungen und Verstimmungen nahmen wieder überhand. Die Pandekten, die ich nun zu hören hatte, verloren ihren ersten Reiz nur zu bald für mich; sie wurden mir fast so fremd und kalt wie die Mathematik. Dagegen verliebte ich mich in den Gedanken, später, draußen, etwa in Berlin, zur Bühne zu gehen und wie Shakespeare[41] und Molière ein Schauspielerdichter zu werden. Vor allem aber hinaus, hinaus! Weg aus der engen Vaterstadt in die große Welt! Zu andern Menschen, zu Künstlerseelen, zu den Könnenden, den Verstehenden! Immer tiefer fühlt' ich, wie einsam ich durch die Rostocker Straßen ging; immer heißer brannte die Sehnsucht: wann lüfte ich die Flügel wie der Kranich, der »nach der Heimat zieht«?

Alle Tage enden. Nach Ostern 1857 kam der junge Tag, an dem ich meinen Koffer und meine Bücherkiste packen konnte: Auf nach Berlin![42]

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Aus der Werdezeit. Erinnerungen. Neue Folge, Stuttgart, Berlin 1907, S. 29-43.
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