VIII

Liebig. Jolly. Bluntschli. Pfeufer. Siebold. Braun. Kobell. Geibel. Leuthold. Der Krieg von 1859; die nationale Bewegung. Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Brater. Rastlosigkeit. Der Sophonisbe-Abend. Frühling und Jugend

[98] Im 1858er und den nächsten Jahren lernte ich in München eine lange Reihe hervorragender Professoren und Gelehrter kennen; mich dünkt, die Universität hatte eine gute Zeit. Nach Sybel und Windscheid muß ich vor allen den Altmeister Justus von Liebig nennen, den großen Begründer der Agrikulturchemie, den »Wohltäter der Menschheit«, wie man ihn mit Recht genannt hat; auch äußerlich ein vornehm schönes Gebilde, dessen pfadfindender Geist aus adligen Formen sprach. Dem Physiker Jolly trat ich näher, dessen sinnvoll praktischer Begabung man die Entstehung so vieler verfeinerter Meßapparate verdankt; ein herrlicher Mensch und ein weiser Kopf, der später, ebenso wie Windscheid, dem großen Unterschied der Jahre zum Trotz mein Dutzbruder ward. Dann der Rechtslehrer Bluntschli, der Schweizer, der aber ganz zu uns Deutschen gekommen war und mit dem mich gerade unsere neue nationale Bewegung zusammenführte; mit seinem breitrunden, blühenden Gesicht das Bild[98] der Behaglichkeit, doch ein kluger und fester Alemanne mit politischem Blick. Der Kliniker und Arzt Karl von Pfeufer, der mir das Ideal eines Arztes wurde und wohl auch immer geblieben ist; er strömte förmlich gesunden Verstand aus, er hatte den natürlichsten Erkennerblick und gab ihm in schönster Schlichtheit das treffendste Wort. Dazu war der ganze Mensch animalisch wohltuend; die große, breite, behaglich kernhafte Gestalt, das überzeugend kluge, menschenfreundlich mild heitere Gesicht, der beruhigende, warmtonige Baß. Auch den Zoologen Karl von Siebold darf ich nicht vergessen; ein Spottvogel nannte ihn wohl einmal »ein großes Kind, das sehr viel Zoologie weiß«; aber dieses große Kind hatte feine Organe, um in die Welt seiner wirbellosen Mitbrüder, der niederen Tiere, einzudringen, tiefer als die andern vor ihm. Und wie gut hörte sich's ihm zu, wenn er plaudernd von seinen Lieblingen, den Wespen, Bienen oder Käfern sprach, und unter schönem Leuchten seiner so pfiffigen wie liebevollen Augen die wundervollen Geheimnisse dieses Liliput erzählte.

Ein schneidiger Gegensatz zu dem guten Alten war Julius Braun, der Kunst- und Kulturhistoriker, der streitbare »Ägypter«, der schon in den blühendsten Mannesjahren starb. Er war von der Natur auf den Kampf gestellt. Ihm fehlten auch die Gegner nicht, da er eine Ansicht verfocht, der fast niemand beistimmte: alle religiösen und künstlerischen Anschauungen der alten Völker in Süd und Nord seien aus Ägypten gekommen, aus wenigen altägyptischen Grundgedanken hervorgeblüht. Er hatte Geist, hatte Feuer; aber dieses[99] Feuer fuhr auch aus ihm wie aus den Drachen der Sage heraus, wenn er gegen seine Gegner stritt. Ich sehe ihn mit mir die Brienner Straße entlang gehen, wie der schlanke, unruhige Mann mit den lebhaften Armen mir seine Gedanken entwickelte, seine Widersacher schilderte und die Bezeichnungen »hirnwütig«, »hirnrissig« und so weiter (billiger tat er's nicht) durch die geduldige Luft flogen.

Und ich hörte ihm doch gerne zu. Er war kein Thersites; es war etwas von dem wunderlichen, aber vornehmen und rührenden Helden des Cervantes in ihm, der für Dulcinea von Toboso stritt.

Zwei von den Münchener Professoren gehörten ebensosehr zu den Dichtern wie zu den Gelehrten: der Kulturhistoriker Riehl und der Mineralog Kobell. Riehl schaute freilich nicht wie ein Dichter aus; aber wie viel sinnig und gemütlich Poetisches findet sich in seinen erzählenden Schriften. Kobell sah wie ein Jäger aus, und er war auch einer; sogar ein Buch aus der Welt der »edlen Jägerei« hat er geschrieben, »Wildanger« genannt. In seiner grüngrauen Joppe mit dem Jagerhut, dem ergrauenden Schnauzbart, dem tiefgebräunten Gesicht und dem etwas knarrenden Baß, wer hätte ihn für einen deutschen Professor gehalten? Und er war doch einer; die Mineralogie hat von ihm gelernt, er hat Untersuchungsmethoden und das Stauroskop erfunden. Mir war und ist an ihm wunderbar, daß er in zwei deutschen Mundarten, der oberbayrischen und der pfälzischen – wie verschieden sind sie! – mit außerordentlicher Wahrheit, bestem Humor und kerniger Frische gedichtet hat. Er war[100] Oberbayer, aber wer merkt es seinen Pfälzer Gedichten an? Ich kenne keinen zweiten Fall; wüßt' auch nicht zu sagen, durch welche besonderen Verkettungen oder Vorgeschichten dieser eine entstanden ist.

Da ich zu den Dichtern gekommen bin, muß ich nun vor allen Emanuel Geibels gedenken; er, der erfolgreichste und der ältere, wenn auch noch in den schönsten Mannesjahren, war unter der Münchener Dichterschar das anerkannte Haupt. Als Freund des Kuglerschen Hauses und Heyses (den er dort eingeführt) gehörte er zu unserm Kreis; er war mir freundlich, dann herzlich, und nach ein paar Jahren vereinte auch uns das brüderliche Du. Geibel wirkte im Umgang nicht durch Geist, Beredsamkeit, Witz oder Humor, sondern durch etwas, das freilich auch leicht zu parodieren war, eine gutmütige, aber beinahe feierliche Würde, die ihn auf der Stelle von der Menge schied. Alles war Würde an ihm, der Gang, der Charakterkopf, der schön geformte, mächtige Schnurrbart, der wohltönende, bedächtig redende Baß. Wenn er seine Verse sprach, so tat er es mit einem rollenden Vollklang und einer Fülle der Töne, die Hans Kugler, ein Künstler auf diesem Gebiet, vollendet nachahmte. Immer höre ich die Verse noch, die meinem vaterländischen Herzen so gut gefielen:


Der Papst, der Kaiser und der Russe

Sind wieder los im Deutschen Reich!


Man konnte ihn einen Priester der Dichtkunst nennen. Auch wenn er in guter Stunde und guter Gesellschaft schön improvisierte – ich habe ihn einige[101] Male mit Bewunderung gehört – hatte er etwas Priesterliches; er schaute mit tiefem Blick in sein halbgefülltes Glas, als holte er aus dem pythischen Wein seine Gedanken und Reime, und ließ sie dann erklingen. Übrigens konnte er auch für einen Priester des Bacchus gelten, so innig gut (aber weise gut) stand er mit diesem Gott. Sein Weinkeller war wie ein Tempel, aus dem er sich die göttliche Freude holte; »er ist vielleicht weniger auf seine Gedichte als auf seine Weine stolz,« schrieb ich einmal an eine Freundin, »und es ist auch fraglich, ob die einen oder die andern schöner sind. Geibel, der sonst ein seltsamer Hypochonder ist, lebt dann bei Nacht erst auf, und mit seiner roten Kappe, vor dem Glas Champagner, nimmt er sich um Mitternacht aus wie ein auferstandener Troubadour aus dem Mittelalter.«

Geibel, Bodenstedt, Heyse bezogen damals eine Art Ehrensold vom bayrischen König, der sich mit dem edlen Glanz eines Beschützers von Kunst und Wissenschaft zu umgeben suchte. Es war wohl die letzte Zeit, in der deutsche Fürsten einen Hofstaat von Dichtern um sich versammelten; der Sinn für diese Art von augusteischen Zeitaltern ist uns ganz vergangen. Wir brauchen auch keine vierzig Unsterbliche, wie sie in der französischen Akademie beisammen thronen; »schlicht und frei« ist deutsch. Geibel, ein edler Patriot, ließ sich übrigens durch keine höfische Rücksicht hindern, seinen Ton zu singen; in den Sechzigetjahren rief er in einem vaterländischen Gedicht den König Wilhelm von Preußen als zukünftigen deutschen Kaiser an. Das kostete ihn seinen bayrischen Ehrensold; darauf verzichtete auch Paul Heyse freiwillig auf den seinigen.[102]

Neben Geibel trat zunächst Bodenstedt, der Dichter der »Lieder des Mirza-Schaffy«, in seiner wenig umfassenden, aber volkstümlich anmutenden Eigenart hervor; dann Lingg, der tiefäugige (wunderbar hat ihn Lenbach gemalt!) und tiefempfindende Lyriker; Grosse, in dem so viele Elemente des Dichters beisammen waren, ohne daß sie sich zu voll reifen Schöpfungen vereinigten. Noch ganz im Werden war Hans Hopfen; erst das Münchener Dichterbuch von 1862, das Geibel herausgab, stellte ihn der Welt als lyrischen Dichter vor. Dasselbe geschah mit Heinrich Leuthold, den ich aber schon seit 1858 als Dichter und Übersetzer kannte; denn er, zehn Jahre älter als ich, rang schon lange mit brennendem Ehrgeiz nach dem Lorbeerkranz, während er den Dornenkranz des Namenlosen trug. Der engen schweizerischen Heimat entflohen, lebte er in München von dem kümmerlichen Ertrag seiner schwerflüssig langsamen Schriftstellerei, Übersetzungen, Abhandlungen, Zeitungsbriefe; er kannte Sorge und Not. »Ich halt' meine Kommode immer fest verschlossen,« sagte er mir einmal mit dem aufrechten Humor, den wir an ihm liebten, »nicht damit mir nichts gestohlen wird, sondern damit meine Wirtin nicht sieht, daß gar nichts drin ist.« In seiner Brust war desto mehr, getäuschte Erwartungen, unerfüllte Wünsche, noch lebendig zuckende Hoffnungen; er glaubte an seinen Dichterberuf, und war zu stolz und zu jung, um schon zu verzweifeln. Eine hohe Prachtgestalt mit ausdrucksvollem Kopf, die man nur in alte Gewänder zu stecken brauchte, um einen Schweizer Hellebardier von Granson oder Murten aus ihm zu[103] machen, ein weinfroher Gesell, ein guter Kamerad – er und ich waren bald befreundet, Hans Kugler kam als Dritter dazu – gefiel und gewann er auch noch durch das, was eigentlich komisch und befremdend war: die naive Bedürftigkeit, seine Dichtungen oder wenigstens seine Übersetzungen laut ertönen zu hören, sie vorzutragen, wo es irgend anging. Er wirkte dann durch die Harmonie des Ganzen, das vollsaftig Schweizerische in Erscheinung, Stimme und Sprache, das charaktervoll Ungeschlachte, das in seinen großartig rauhen Alpenkehllauten, in seinem steinewälzenden Sturzbachvortrag erklang, den doch eine Seele mit Herzenslauten füllte.

Hans Kugler, der den Geibel so meisterhaft kopierte, hatte bald auch den Leuthold weg; er sprach und spielte ihn wundervoll. Eines Nachts saßen wir drei im Café Ries beisammen; unsre Stimmung ging hoch, den Hans riß es fort, Leutholdsch zu sprechen. Leuthold hörte es eine Weile mit an, wohl noch seinen Ohren nicht trauend; endlich sagte er in seinen schönsten Kehllauten: »Du, Hans, mir scheint, du machst mich nach!« – »Ja freilich tut er das,« sagte ich. »Aber nimm's nicht übel, Leuthold, er kann's besser.« – »Was kann er?« begehrte Leuthold auf. – »Er kann's besser als du, er ist noch echter als du!«

Das ging dem Hellebardier von Murten nun doch an die Ehre; ein Berliner, echter? O nein! – Wettkampf! schlug ich vor. Sie nahmen es an, alle beide. Sie sprachen gegeneinander auf, plauschend, was jedem einfiel, jeder so Leutholdsch wie er konnte. Etwas Komischeres hab' ich nie gehört. Endlich sagte ich doch,[104] als Schiedsrichter: »Leuthold aus der freien Schweiz, es hilft nichts! Hans kann's noch besser als du!« –

Ich war mittlerweile, im Frühling 1859, von Rostock als Doktor der Philosophie zurückgekommen, um in München nun eine Weile ganz mir selbst zu leben, das heißt, den Dichter zu formen, der in diesen bücher- und menschengefüllten Lernjahren wohl zuweilen »poetische Krämpfe« gehabt, aber für sein Wachsen weder Raum, noch Luft, noch Sonne gefunden hatte. Jetzt, in der Stille und Freiheit, in der Münchener Dichter- und Künstlerlust sollte es werden; daran zweifelte der Jüngling nicht. Er war ahnungslos, wie wir alle sind. Während er an diesem und jenem poetischen Aufflug seine Flügel übte – die rechten, die großen Aufgaben wollten aber noch nicht kommen; auch die Kräfte waren noch ungeschickt – zog langsam und sicher ein weltgeschichtliches Ungewitter herauf, das Italien umgestalten, Deutschland aus seinem Halbschlaf wecken und mich auf einen Kampfplatz rufen sollte, wo man keine Dramatiker macht. Der italienische Krieg von 1859 zwischen Frankreich-Sardinien und Österreich kam heran; überall in Mitteleuropa wurde es lebendig, in Deutschland und in München auch. Wetterleuchten um uns her; seit der Revolutionszeit von 1848 zum ersten Mal. Was war uns Deutschen der Krimkrieg gewesen? Ungefähr so was, wie im Faust, »wenn hinten weit in der Türkei die Völker aufeinander schlagen«; für uns Rostocker Gymnasiasten ein hochgeschätztes Mittel, die Geschichtsstunden beim Kondirektor Mahn dadurch aufzuheitern, daß wir ihn mit tiefem Spitzbubenernst nach dem neuesten Stand[105] der Dinge auf dem Kriegsschauplatz fragten. Mit ebenso tiefem Ernst, aber warm ums Herz durch unsern Glauben an seine Weltgeschichtskennerschaft, erzählte er uns dann alles, was er aus den Zeitungen wußte, und durch immer neue Fragen schmeichelten wir ihm halbe Stunden weg.

Diesmal ward es anders. In Bayern, in München rührte sich das stammverwandte Blut; sollte man den Österreicher gegen den Franzmann, gegen den Bonaparte im Stich lassen? Der Radetzky-Marsch ward überall Tag und Nacht gespielt. Man sprach nur vom Krieg; wir »Fremden« fanden uns mittags beim Achatz, an den Bänken im Wirtsgarten saßen Professoren, Dichter, Studenten, Männer aus dem Volk, alles durcheinander. Was wohl jeder fühlte, das wuchs mehr und mehr: Soll Frankreich nun in Europa machen, was es will? Soll die Weltgeschichte über uns hinweggehen, als wären wir nicht auf der Welt? Soll in Deutschland alles so versumpft und erbärmlich bleiben, wie es ist? – Eine neue Zeit begann, gleichsam ein unblutiges Sichwiederregen der Achtundvierzigerrevolution; aus den erregten, gärenden Köpfen sprang es in die Herzen.

Denkwürdige Fügung: wie der erste Napoleon, sehr ungewollt, die Deutschen zuerst auf den Weg der Einigung gebracht hat, so der dritte Napoleon abermals durch diesen Krieg und seine unruhige, beunruhigende Politik und Präponderanz. So ist jeder Werkzeug, ob er nun will oder nicht.

Der kurze Krieg ging vorüber, die Flamme erlosch, ohne auch Deutschland zu ergreifen. Preußens Hilfe[106] mit dem Anspruch auf militärische Führung ward von Österreich abgelehnt; aber die deutsche Bewegung wuchs. In Preußen hatte mit Wilhelms Regentschaft die »neue Ära« begonnen; die alten Hoffnungen erwachten wieder, der Nationalverein ward gegründet, der sie auf seine Fahne schrieb: Preußen Deutschlands Vormacht! Sogleich traten freilich auch die Mittel-und Kleinstaaten auf den Plan, um ihre Selbstherrlichkeit zu verteidigen; in den Würzburger Konferenzen vom November 1859 suchten sich bei unschädlichen »Reformen« der deutschen Bundesverfassung die vielen Kleinen zu einer dritten Großmacht neben Österreich und Preußen zusammenzuschließen. Aber der gute Wille reichte nicht, sie gingen auseinander, wie sie gekommen waren; und ich begrüßte dieses Ergebnis in einem kleinen Spottgedicht, in dem ich mit den Namen der berühmten Würzburger Weine, Steinwein und Leistenwein, spielte:


Beisammen sind die Meisten;

Wer wird der Meister sein?

Ihr Herrn, wer wird es leisten,

Zu wälzen diesen Stein?


Sie kamen und sie reisten,

Und ruhig floß der Main.

O bleibt bei eurem Leisten;

Den Stein wälzt nur ein Stein!


Ungefähr erraten. Ein Größerer als der große Freiherr von Stein hat's vollbracht; der Steinwälzer Bismarck. Hurra!

Ein paar Monate früher, eh' der Herbst begann,[107] trat vor mich Ahnungslosen die überraschende Frage hin: willst du mittun, hier in München ein politisches Blatt zu erschaffen, das in dem spröden Süddeutschland werben soll für die deutsche Sache? das »Süddeutsche Zeitung« heißen soll? Karl Brater als erster Redakteur, du als zweiter, einstweilen ihr beide allein? Vermögende Patrioten hatten sich zusammengetan; es war ein Versuch, aus noch steinigem Boden frisches Grün zu treiben. Ein schwieriges, tapferes, edles Unternehmen; verlockend für einen Jüngling von meiner Art, in dem wieder die vaterländische Begeisterung meiner Knabenzeit, aber erhöht und vermännlicht, glühte. Ich staunte nur: wie waren sie auf mich verfallen? Wer war ich und was wußten sie von mir? Zweiundzwanzig Jahre war ich eben alt, hatte Geschichte und Kunst studiert. Sybel hatte wohl empfehlend gesprochen; wohl auch Baumgarten, ein jüngerer Historiker und Politiker, der an Sybels historischen Abenden teilgenommen hatte; Bluntschli wohl desgleichen. Von Brater wußte ich bis dahin nur, daß er ein klarer, kluger Juristenkopf, ein herzenswarmer Deutscher und ein lauterster Charakter war. Schöne blaue Augen. Aber aus einer andern Welt als ich. Mit dem gehn? Wohin? In die Politik? Den Dichter in mir auf Jahre – für zwei wenigstens sollte ich mich moralisch binden – ganz im Stiche lassen?

Denn das wußt' ich wohl: opfere ich mich einem solchen Unternehmen, einer deutschen Sache, dann opfere ich mich mit Haut und Haar!

Lange besonnen hab' ich mich nie in meinem Leben. Ich hatte als Mecklenburger, wo man die allgemeine[108] Wehrpflicht noch nicht kannte, keinen Militärdienst: vor einem Jahr hatte mein jüngerer Bruder Richard mich freigelost. Du bist Deutschland einen Soldaten schuldig! sagte ich zu mir. Haben sie dir keinen Säbel angehängt, so diene mit der Feder. Hast lange nach deinen wechselnden Neigungen gelebt, tu' nun deine Pflicht!

So trat ich denn am 1. Oktober 1859 mein Amt als zweiter Redakteur (später oft stellvertretend erster) der »Süddeutschen Zeitung« an; nachdem ich uns mühsam eine Druckerei errungen hatte: drei oder vier hatten es aus Furcht vor kirchlicher oder auch politischer Verfolgung abgelehnt, den Druck eines im voraus verfemten Blatts zu übernehmen. Neunhundert Gulden waren mein Jahresgehalt, mir ganz genug; wie gern hätte ich dieser Sache ohne Entgelt gedient; aber ich besaß nichts. Karl Brater, der eine Frau und zwei Töchterchen hatte (alle eines so vortrefflichen Mannes wert), bezog natürlich einen viel höheren Sold; aber auch er wollte nur das Notwendige, und einfacher als er und die Seinen konnte man nicht leben. Dagegen an Arbeit haben er und ich geleistet, was wohl selbst in der Journalistenwelt nicht oft wiederkehrt. Es war, als wären wir arbeitstoll! Ich schrieb über alles und jedes, Leitartikel, Politisches von nah und fern, Literarisches, Kunst, Theater, Vermischtes jeder Art. Ich übersetzte aus allen Sprachen, da Brater auf diesem Gebiet nicht zu Hause war. Ich überwachte die Druckerei (wenigstens geraume Zeit), ein widriges Geschäft. Ich schrieb lange deutsche Briefe für die Mailänder »Perseveranza«, um dagegen von einem Mitarbeiter der Perseveranza lange italienische Briefe zu[109] bekommen, die ich für unser Blatt übertrug. Und zum Überfluß hatten wir beide die Art oder Unart, an den uns zugehenden Beiträgen mit schriftstellerischer Kritik zu feilen und zu bessern; was uns wohl bald den guten Namen eintrug, die Süddeutsche Zeitung sei das bestredigierte Blatt, aber auch den Fluch der Überanstrengung, der dann jahrelang nachwirkend auf uns lag, wohl noch um manchen Hundertteil vermehrte.

Dennoch war's auch ein Segen für mich, diese angespannte, zur Schnelligkeit erziehende, immer auf den Kern und das Wesen hindrängende Tätigkeit. Sie lehrte mich, jede Sekunde auszubeuten, im Flug zu lesen, im Flug zu überblicken; und ich gewann die Sicherheit und Freiheit des Stils, die gleichsam die gesunde Unterlage seiner Schönheit ist. Hätte ich nur nicht diese unsinnige Rastlosigkeit gehabt, die offenbar ein Erbteil ist, ich weiß nicht, von wem; gegen die ich noch immer, durch manche schwere Nervenstörung gewitzigt, einen harten Kampf kämpfe, in dem ich so oft nicht Sieger bin. Ich wollte immer alles am Donnerstag, nichts am Freitag machen; und wenn ich den Tag mit Arbeit überfüllt hatte, wollte ich so frech und froh in die Nacht hineinleben, als wär' nichts geschehn. Wie manchesmal, wenn ich zum Englischen Kaffeehaus ging, um zu Mittag zu speisen, fand ich, der sich am Schreibtisch verspätet hatte, die Kameraden schon beim Kaffee und am Schachbrett; Grund genug, mich zu ihnen zu setzen und ihren Schachkämpfen zuzuschauen; essen kann ich später! dacht' ich, und trank meinen Kaffee wie die andern. Hernach war meine Eßlust vergangen und die Schachlust erwacht; ich spielte mit,[110] und wenn meine Zeit gekommen war, ging ich ungegessen nach Hause.

Doch gewiß noch törichter – ich gebe mich als abschreckendes böses Beispiel preis – und in die Zukunft längere Schatten werfend, war mein Übermut, nach so anstrengenden Tagen die Geselligkeit, zu der mich wohl die innere Unruhe nach der Arbeit trieb, bis auf den letzten Tropfen zu trinken und womöglich immer »den Rücken des Vorletzten zu sehn«. Einmal, als ich mehrere Wochen lang jede Nacht um höchst notwendigen Schlaf betrogen hatte, erlebte ich folgendes: Ich ging mit Geibel aus dem Theater. Hei! dachte ich, da ich auf einmal göttlich müde wurde, heut gehst du nur noch nachtmahlen und dann gleich zu Bett! – »Du,« sagt Geibel, »ich hab's auch schon Hopfen gesagt, ihr kommt beide mit. Ich hab' heut den ersten Akt meiner Sophonisbe beendet, bei einem ausgezeichneten Tropfen les' ich ihn euch vor!« – »Meinst du?« sagte ich; mir fielen schon fast die Augen zu. Ich war aber aus Stolz zu feig, »ich kann nicht« zu sagen; ich sah, wie es ihm am Herzen lag, und ging mutig mit. Wir drei standen in seinem Wohnzimmer, er holte goldigen Wein aus dem Keller, setzte sich sein Feß auf das Dichterhaupt, setzte sich mir gegenüber – Hopfen saß links von mir – und schlug seine Handschrift auf. »Erster Akt«... Geibel war der langsamste Dramatiker, von dem ich weiß; so leicht ihm seine lyrischen Verse flossen, so mühsam gestalteten sich ihm Bau, Form und Text seiner Dramen; zur Sophonisbe hat er sieben Jahre, zu seiner Brunhild, wie ich hörte, gar elf Jahre gebraucht. Drum war es ihm genugtuender und feierlicher, »erster[111] Akt« zu sagen, als ein anderer vom fünften spricht. »Erster Akt.«... Weiter hörte ich nichts. Ich wußte, was meine Aufgabe war: ihm fest in die Augen zu sehen, so oft er sie hob, also die meinen offen zu halten, nicht einen Augenblick nachzulassen. Dazu reichte es; das verzehrte auch meine ganze Kraft. Mehr Leben war nicht da. Das Wort »Masinissa«, halb gesungen, schlug noch an mein Ohr. Dann war's aus. Ich hörte wohl noch, daß er sprach, ich vernahm kein Wort.

Wunderbar genug: Geibel war so bei seiner Sache, daß er von meinem gewiß leeren, stieren, gläsernen Blick durchaus keinen störenden Eindruck hatte. Als der Akt zu Ende war, fragte er: »Nun, wie hat's euch gefallen?« Was ich darauf gesagt habe, davon weiß ich nichts. Es war doch wohl so, daß es ihm genügte; denn wenn er in den nächsten Jahren mit einem neuen fertigen Akt aus Lübeck herüber kam – er teilte damals schon sein Leben zwischen München und der Vaterstadt – so mußte ich den Akt hören; »den ersten, den kennst du ja schon,« sagte er beim zweiten. Ich hab' ihm nie gestanden, daß ich nur das Wort »Masinissa« kannte. So blieb mir denn auch das Ganze, in so langen Pausen und ohne Kopfstück aufgenommen, ein unklarer Traum; bis er endlich eines Tages in Frau Klaras Salon, vor ihr, Hans und mir sich niedersetzte, um uns Sophonisbe von Anfang bis zu Ende vorzulesen. Da schmiegte ich mich wohlig in meinen Lehnstuhl zurück; so, dachte ich, nun erfahr' ich also, was im ersten Akt steht! – –

Was man Ferien nennt, das habe ich in diesen beiden tätigsten Jahren meines Lebens nur einmal gehabt,[112] um daheim die Meinen zu sehn; sonst flog ich nur nach Koburg und Heidelberg zu den großen Nationalvereinsversammlungen aus, aber als Berichterstatter, dem es also auch da nicht an Arbeit fehlte. Nie hab' ich so wie damals empfunden, was Feiertage sind; herrlich waren die drei großen Feste, Ostern, Pfingsten, Weihnachten, da waren anderthalb Tage frei; ein wunderbares Gefühl! Und noch ein wunderbares erlebt' ich, das mir plötzlich zeigte, wie erbarmungslos ich rastlose Arbeitsbiene mit meiner Jugend umging... Es war ein Märzfrühlingstag, einer von den ersten, die so auf die Seele gehn. Das Sonnenlicht flutete durch das geöffnete Fenster. Ich, der Theaterkritiker der Süddeutschen Zeitung, als solcher schon ein »Name« geworden – mir war's auch das Liebste und Gesegnetste meines ganzen Handwerks – ich sollte über Anton Ascher schreiben, der damals in München gastierte; mir war aber gar so lenzig, ungefähr wie einem Veilchen zu Mut. Da werde ich aufgestört: ein Besuch – eine Künstlerin. Eine schöne Frau; die auch bei uns gastieren, sich dem Herrn Kritiker vorstellen wollte; – ich nenne ihren Namen nicht. Sie staunt über meine Jugend, ich über ihre Reize. Als wäre der Frühling in Person in die Tür getreten; ich hatte nur nicht gewußt, der Frühling ist ein Weib! – O Jugend, o Jugend! Auf einmal war die Zeitung weg, Deutschland weg, alles weg; da stand ein junger Mensch – der einst Adolf Menadt hieß – er hieß nun Leander oder Romeo. Er hörte sie sprechen, es klang wie Poesie, wie Natur, wie Schönheit, wie das, was Gott von uns will. Er war ein Mensch, er war verliebt....[113]

Sie war wieder fort. Er stand am offenen Fenster, die Sonne überglühte ihn. Von innen glühte es entgegen, Sonne gegen Sonne. Wo bin ich denn so lange gewesen? sprach etwas in ihm. Und jetzt – wohin jetzt mit mir?

Es ward keine Tragödie; es blieb, was es war, ein Frühlingsrausch, der noch vor dem Frühling verging. Aber die große Sehnsucht war erwacht und verging nicht wieder: Freiheit! Hinaus aus dem Käfig der Politik, zur Poesie und zu mir zurück! – Zwei Jahre, wie ich mir's gelobt hatte, tat ich meinen Dienst, erfüllte meine Pflicht; noch etwas länger, da Brater erkrankte und um meine stellvertretende Hilfe bat; dem edlen Freund half ich gerne, mit dem mich nun auch das Du verband, mit dem ich in schönster Eintracht gelebt hatte. Dann hielt mich aber kein Wunsch und kein Angebot mehr. Was ich mit ihm für die Zeitung getan, das war nicht verloren: sie stand aufrecht und blühend da, sie hatte mit Erfolg geworben, sie wirkte. Was ich für mich selber errungen, das Zeugnis meiner liebenden Ergebenheit gegen das Vaterland, meiner Opfertreue, das hatt' ich dahin. Nun konnte ich, wie Schillers Brutus zu Cäsar, zur Politik mit freundlichem Abschiedsgruß sagen:

»Geh du linkwärts, laß mich rechtwärts gehn!«[114]

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Aus der Werdezeit. Erinnerungen. Neue Folge, Stuttgart, Berlin 1907, S. 98-115.
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