[78] Die Bühne ist ein »heißer Boden«; das weiß jeder, der sie kennt. Ich, der ich von früh an fürs Theater lebte, mit zehn oder elf Jahren anfing, eigene Schauspiele (eines hieß »Himmel und Hölle«) auf meinem Puppentheater aufzuführen; später in Schauspielerinnen sehr verliebt, mit einer mich vermählend – ich hab' gleichwohl bei näherer Bekanntschaft tief gefühlt, was für ein anziehender, lebenwimmelnder und – stachelreicher Bienenkorb ein Theater ist. Mir war's schwer zu fassen, als Franz von Dingelstedt 1876 sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum als Theaterleiter feierte (München, Weimar, Wien), daß ein Mann wie er es so lange in dieser Welt ausgehalten hatte; und in einem Festgedicht, das ich dazu schrieb (nicht ahnend, daß ich selber nach ihm dirigieren würde), sagte ich am Anfang:
Vor des Löwen Höhle stand der Fuchs. »Der Spuren viel,
Die einwärts führen,« sprach er; »welche führt heraus?
Ich finde keine. Bleib du draußen, Fuchs, und geh!«
Hoc fabula docet; lehrt' es mich von Jugend auf,
Wenn dramaturgisch Jucken mir die Haut befiel:
»Wahr deine Haut, bleib draußen!« Denn der Männer viel
Ins Haus Apollos sah ich hohen Hauptes gehn,
Zu herrschen auf den Brettern der geträumten Welt,[78]
Die scheint, doch ist; weil die auch, die da ist, nur scheint; –
Doch keiner, schien mir, kehrte, wie er ging, zurück.
Ein Zauberatem, hört' ich, weht da drin dich an,
Dionysisch-phöbisch unauflösbar rätselhaft
Gemischt aus Paradieses- und aus Höllenlust;
Er lockt dich an, er saugt dich aus, er stößt dich fort!
Die Schauspieler sind gewiß nicht schlechtere Menschen als die andern; leichter vielmehr für Gutes, Schönes, Großes zu entflammen, rascher in ihrem Mitgefühl; aber auf den schroffen Kampf ums Dasein, das Durchsetzen des Ichs, die Befriedigung der Eitelkeit sind sie naturnotwendig mehr als die andern gestellt.
Am Burgtheater gefiel mir vom ersten Tag an so gut, daß die Eitelkeit nie ruhmredig werden durfte: jedem neu eintretenden Mitglied wurde aufs geschwindeste abgewöhnt, von seinen schauspielerischen Taten und Erfolgen zu sprechen. In diesen und ähnlichen Dingen war Hermann Schöne wohl der eifrigste Tempelhüter; ja ich glaube, man könnte ohne Kränkung der andern sagen, daß er recht eigentlich das Gewissen der »Burg« gewesen ist. Mein guter Schöne, der auch sonst im großen und kleinen so viel war und wirkte; ob er nun Masken beurteilte oder sie verbesserte, ob er guten Rat gab oder auf Ausflügen Musterbowlen machte; denn er war auch darin Künstler; er war mehr, er war Kochkünstler, und zwar ersten Ranges. Ich hab' ihn einmal besonders festlich bei der Arbeit gesehn, als eine ganze Schar von Burgschauspielern und -schauspielerinnen, darunter auch meine Frau[79] und ich, in schönster Jahreszeit die »Jagdhütte« besuchte, die Ludwig Gabillon mit andern gepachtet hatte; sie lag in einem Seitental, das bei Spillern die Nordwestbahn trifft. Schöne übernahm, für ein festliches Mahl zu sorgen, Vorräte aller Art waren hinausgeschafft. Er selber war rastlos als Küchenchef; Hallenstein, der damalige König Lear des Burgtheaters, war sein Küchenjunge; ich glaube, noch ein dritter tat Küchendienst. Schöne und Hallenstein waren mit grünen Kappen geschmückt; ein tiefer Ernst des Berufs, der hohen Aufgabe lag auf ihren Zügen; ich hab' sie im Theater wohl nie so feierlich gesehn. Es ward aber auch ein größter Erfolg: das ganze Mahl war ein Kunstwerk.
Wenn sich die liebe Eitelkeit in der Burg viel verschweigen und verstecken mußte, so war dagegen viel Korpsgeist sichtbar, ein schöner Gesamtsinn bei aller Ichheit, der auch die Neuen bald ergriff; »das erste Theater«! Denn das war es noch, unzweifelhaft. Bei jedem festlichen Anlaß blühte dieser Gemeinsinn hoch auf; aber auch bei ersten Aufführungen, zumal bedeutender Werke, konnte man ihn oft warm lebendig sehn. Dann war alles schön erregt, bis zu den Bühnenarbeitern, die bewußt oder unbewußt auch ihr Bestes taten. Eine hochachtbare Gesellschaft, die Arbeiter des Burgtheaters, solange ich sie gekannt hab'; ich hoffe und denke, sie sind es noch.
Als ich Förster nach der Eröffnung des Berliner Deutschen Theaters zuerst wiedersah, gestand er mir: »Eins fehlt mir hier, das vermiss' ich sehr: unsere Burgarbeiter!« Die Arbeiter im Deutschen Theater[80] waren wohl tüchtige Leute, aber die Luft um sie her war noch kalt: es fehlte die geschichtliche Wärme, die alle Wände des Burgtheaters aushauchten. Dort fehlten wohl auch noch die musterhaften Darstellerkleiner Rollen, die das Burgtheater sich erzogen hatte oder immer neu erzog. Wer etwa Louis Arnsburg als Antonio in »Viel Lärm um nichts« oder als Don Mendo im »Richter von Zalamea«, Louis Nötel als ersten Arkebusier in »Wallensteins Lager« oder als Gauner (vergessen, wie er heißt) in »Schach dem König«, Ferdinand Kracher als alten Hirten im »König Ödipus« oder als Gordon in »Wallensteins Tod« gesehen hat, der weiß, was ich meine. Keiner von den Größten hätte diese Rollen naturwahrer, lebendiger gespielt; es liegen darin Geheimnisse der Wahlverwandtschaft oder Blutsverwandtschaft, die man wohl noch nie mit Forscheraugen betrachtet hat.
Dann die weiblichen Episodenspieler, die zu jener Zeit oder etwas früher die Burgbühne schmückten; allen voran, in ihren Werdejahren, Stella Hohenfels, die damals alle Knabenrollen mit poesievoller Anmut, höchster Wahrheit spielte. Aber auch Fanni Walbeck, Anna Kratz und andere halfen den Dichterwerken zu der zusammenstimmend harmonischen Gestaltung, ohne die ein reines Behagen nicht zu denken ist.
Fleiß und Solidität der künstlerischen Arbeit war auch im Burgtheater wohl bei den Frauen größer; ich glaube, das ist überall zu beobachten und aus der Geschichte des weiblichen Geschlechts leicht erklärt. Die Frau war nie so frei wie der Mann, weder vor noch in der Ehe; sie wurde Jahrtausende hindurch zum Gehorsam,[81] zur Zuverlässigkeit des Dienenden erzogen. Daraus wird beim Theater Gewissenhaftigkeit, bis zur Ängstlichkeit; wenn nicht eine besondere Verderbnis zum Leichtsinn führt. Den Mann zieht es ins Kaffeehaus, ins Bierhaus, zur Jagd; die Schauspielerin wird von diesen Versuchungen wenig berührt, sie sitzt zu Hause und repetiert ihre Rolle. Gibt es Schwimmerinnen? Ich meine Künstlerinnen, die in chronischer Abhängigkeit von dem Souffleur oder der Souffleuse sind? Ich hab' nie eine kennen gelernt; eine echte nicht. Aber männliche genug, große, berühmte »Schwimmer«, unter den großen, berühmten Talenten. So einer war zum Beispiel Döring in Berlin; der als der alte Obrist Kottwitz im »Prinzen von Homburg« einmal im zweiten Akt auf die Bühne trat, nicht ahnend, was er zu sagen hatte, aber sich auf seinen braven Freund im Kasten verlassend; doch als er dem horchend näherkommt, zuckt der die Achseln, schneidet Grimassen, flüstert ihm endlich verstört zu: »Wer hilft vom Pferde mir, ihr Freunde?« Das hatte er hinter der Szene zu sprechen, ehe er auftreten durfte. Und die Theatersage erzählt, Döring habe endlich mit dem Mut der Verzweiflung vor dem Souffleurkasten gerufen: »Wer hilft vom Pferde mir?«
Auch das Burgtheater war nicht arm an berühmten Schwimmern. Einer der bekanntesten war Ludwig Gabillon; er hatte ein vortreffliches Gedächtnis für den Aufbau eines Theaterstücks, für alles, was den Regisseur betrifft, aber für seine Rollen nicht. Ein großer Schwimmer war Karl Meixner, dieser gleichfalls unersetzte Charakterspieler und Komiker, zugleich einer der besten Sprecher des Theaters; er sprach aber[82] zu gern dem Mann im Kasten nach. Ein höchst tragikomischer Augenblick war's – eigentlich nur bei einem Meixner zu ertragen – wenn er als Baron von Scharpf in Meilhacs »Attaché« nach rechts zum Schlüsselloch ging, um zu sehn, welche Dame mit Herrn von Mazeray ein Stelldichein hat; der Baron guckt hindurch und schreit auf: es ist seine eigene Frau! Meixner guckte aber nicht hindurch: so weit wagte er sich in dieser Rolle nicht vom Souffleurkasten weg. Er ging vorsichtig nach rückwärts, dann noch etwa einen Schritt nach rechts; dann heftete er die Augen so lebendig und ausdrucksvoll auf das noch entfernte Schlüsselloch, als habe er's unmittelbar vor sich, und schrie höchst natürlich auf.
Indessen hatte er auch Rollen, in denen er sich vor keiner Entfernung vom Zentrum zu fürchten brauchte.
Der gefeiertste Schwimmer des Burgtheaters war aber – zu jener Zeit – der große Veteran, der es jetzt noch als eine der alten lebendigen Säulen trägt, Bernhard Baumeister; wenigstens hat nur er es erlebt, daß ihm zu seinem fünfundzwanzigjährigen Burgtheaterjubiläum, 1877, seine Kollegen beiderlei Geschlechts eine Schwimmhose schenkten, ein von den Damen reich verziertes Kunstwerk. Sie ward ihm mit Versen überreicht, die ich auf Verlangen gedichtet hatte; das dreimalige »Stoß ab!« war eines seiner eigenen Worte, das er gern einem Mitspieler oder sich selber zumurmelte, wenn's auf eine lange und schwierige Rede losging:
»Stoß ab!« Noch einmal umgürte dich heut
Zur Fahrt in die Flut, die sich ewig erneut;[83]
Stoß ab, du fürstlicher Schwimmer!
Du fürstlicher Schwimmer und Taucher zumal:
Du fischtest der Perlen unendliche Zahl,
Und sie leuchteten schön, wie der heilige Gral,
Aus der Seele goldenem Schimmer.
»Stoß ab!« Noch ein Viertel vom Säkulum,
Noch ein halbes schwimme du rüstig herum,
Ein Proteus, in hundert Gestalten!
So, wie wir als Henning den Stockfisch dich sahn,
Als Schwertfisch-Petrucchio mit schneidigem Zahn,
Als Zitteraal-Grignon und – Wunder geschahn! –
Als Walfisch-Falstaff, den Alten.
»Stoß ab!« Dir folgen viel Schwimmer im Bund;
Dir leuchten die köstlichen Perlen am Grund,
Dir leuchten die freundlichen Sterne.
Schwimm hin, – doch zu weit nicht vom heimischen Land;
Blick her auf den Fels, »La Roche« genannt:
So lang auch wie er, mit der rudernden Hand
Halt vom anderen Ufer dich ferne!
Übrigens würde der Zuschauer irren, wenn er immer dächte: der Mann, der da »schwimmt«, dessen Abhängigkeit vom Souffleur ich bemerke, hat natürlich seine Rolle schlecht gelernt! Oft sind auch die Nerven im Spiel, die mit einem sonst sicheren Gedächtnis ihren Schabernack treiben; wie es jeder an sich selber erleben kann, wenn er einen Trinkspruch zu sprechen, eine gelernte Rede zu halten hat und ihn plötzlich all sein Wissen verläßt. Nirgends aber spielen wohl die Nerven eine[84] so große Rolle wie bei denen, welche die großen Rollen spielen. Von einem Künstler, der nie sein kaltes Blut verliert, erwart' ich nicht viel! Die Nerven eines gottgesegneten Schauspielers müssen seiner schwingen, empfindlicher horchen, leichter erzittern als die der andern, die da draußen sitzen; ja man möchte zuweilen glauben, daß sie nach etwas veränderten Gesetzen leben. Charlotte Wolter hatte Abende, an denen sie, tapfer wie sie war, mit heftigen Zahnschmerzen spielte, von denen ihr die Augen überliefen; solange sie aber auf der Bühne stand, als Medea, oder Iphigenie, oder Sappho, waren die Schmerzen still. Medea, Iphigenie, Sappho hatten ja kein Zahnweh! Kehrte sie aber hinter die Kulissen zurück, als Charlotte Wolter, so brach die Pein wieder los.
Ähnliches hab' ich auch sonst gesehn; das Wunderlichste und Drolligste war mir, was ich mit Joseph Kainz erlebte, als am Berliner Deutschen Theater mein Drama »Der Meister von Palmyra« einstudiert ward. Kainz, als der Meister Apelles, verlor während der Proben die Stimme; seine Heiserkeit ward so bedenklich, daß man schon fürchten mußte: das Stück wird nicht sein! Er ist ein leidenschaftlicher Zigarettenraucher; »jetzt vor allem nicht rauchen, nicht trinken!« sagte ihm sein Arzt. »Schonung, Schonung, Schonung!« – Wohl oder übel, Kainz gehorchte. Es ward ein sonderbares Probieren: bald markierte er ein wenig, dann verschwand er wieder, da die Stimme ganz verging; es sprang ein anderer für ihn ein, der, als Aushelfer etwa in der Zukunft gedacht, bereits den Proben beigewohnt hatte; dann erschien auch Kainz wieder und[85] flüsterte und raunte so mit. Auch auf der ersten Generalprobe, einige Tage später, war er noch halb heiser, darüber verstimmt, oft ganz und gar nicht er selbst. Plötzlich, im fünften Akt, als er hinten von der Ruine heruntersteigt – ein anderer Mensch! Er spricht frei und gut. Er spielt mit erstaunlicher Frische und Kraft, wie er diesen Akt noch nie gespielt. »Mann, das war ja außerordentlich,« sag' ich ihm, als es aus ist. »Und wo haben Sie die Stimme her? Was haben Sie denn gemacht?« – Seine Augen lächelten mich an, mit seinem an Girardi erinnernden Wiener Blick: »I hab' g'raucht,« antwortete er.
Jetzt ist er denn also daheim, in seinem Wien und im Burgtheater. In dem neuen, dem prächtigen – das mir noch immer gleichsam ein fremdes ist, an dem ich wohl nie so hängen werde wie am alten.
Die Paläste machen es nicht; am allerwenigsten beim Theater. Wie klein, wie eng war das alte Haus! Nicht nur für die Zuschauer, nicht nur für die Aufführungen; wie wenig war auch für die Schauspieler gesorgt! Nichts ist denen notwendiger als ein Konversationszimmer, in dem sie während der oft vielstündigen Proben, oder auch Abends, ihre unbeschäftigte Zeit verbringen, gesellig ausruhen können. Jedes anständige Stadttheater hat so einen Raum für alle, gewöhnlich mit Schauspielerbildern, Widmungen, Erinnerungen geschmückt. Im alten Burgtheater konnte man sich nur in einer der Damengarderoben versammeln, die ein Fenster hatte, das auf die Gasse ging. Die Garderobe war einfach auf den Hintergrund der Bühne gestellt; in ihr kleidete sich die Hälfte der Damen an. Durch[86] eine Tür damit verbunden war ein zweiter, kleinerer, fensterloser Raum, der gleichfalls auf der Bühne stand; auf den waren die Wolter und die Gabillon angewiesen, nicht selten also beide zugleich. Wenn während der Vorstellung etwa Donnerschläge krachten oder sonst ein mächtiges Getöse zu erzeugen war, so schmetterten die Theatermaschinen unmittelbar neben diesen Damenzimmern oder über ihnen. Eine dritte weibliche Garderobe, für drei, lag hinten seitwärts an der Bühne, erhöht; ein enges Treppchen (andere gab es im Burgtheater nicht) führte hinauf; aus der Garderobe konnte man durch ein Kajütenfensterchen auf die Bühne sehn. Das war der ganze Komfort des weiblichen Geschlechts.
Etwas besser war es um die Männer bestellt; eine Stiege neben der Bühne, vorne, führte zu einem Anbau hinauf, in dem sich eine ganze Reihe von Ankleidezellen an einem für schlanke Menschen gebauten Korridorchen hinzog. Hier hatte mancher der »Ersten« seine eigene Zelle; es waren aber lauter Schiffskajüten, rührend winzig, oft jeder Zoll darin ausgenützt. Nur der erste Raum, an dem man vorbeikam, war fürstlich: das sogenannte Larochezimmer, das nach Laroche Sonnenthal bewohnte. Hier konnten selbst noch ein oder zwei Besucher sich herumdrehen, auch niedersetzen. Hier sind denn auch Staatsaktionen verhandelt worden, manches Mal bin ich als Direktor erschienen; in früheren Zeiten hab' ich hier mit Graf Paris-Hartmann, der drei Akte lang nichts zu tun hatte, Schach gespielt.
Und in diesem engen Haus die schlechte Luft! Das wird man sich hoffentlich bald nicht mehr vorstellen können, wie schlecht diese Luft war, die noch nichts von[87] Ventilationsschachten wußte und das Wort»Hygiene« nie vernommen hatte.
Dennoch haben sie alle gern drin gelebt. Ich war Direktor in den letzten Jahren vor der Übersiedlung in das neue Haus; ich erinnere mich nicht, daß einer der Schauspieler sich schon hinübergesehnt hätte; nur Stimmen des Bedenkens, der Wehmut, sogar der Trauer – so auch die der Wolter – hab' ich noch im Ohr. Stärker oder schwächer fühlten sie wohl alle, daß in allen Teilen einer großen geschichtlichen Schöpfung ein tiefer, gleichsam organischer Zusammenhang ist, und daß mit der alten Wohnstätte auch sonst noch etwas unwiederbringlich verloren ging.
Die Hauptsache freilich steht noch aufrecht: der gewaltige Vorteil des Burgtheaters vor den andern großen deutschen Hoftheatern, daß es unter dem Intendanten, der Hofcharge, einen wirklichen Direktor hat, einen Mann, der alle künstlerischen Angelegenheiten vollkommen unabhängig leitet. In den Geldfragen, auch bei Engagements, bedarf er der Zustimmung seines Intendanten; auch in Sachen der Disziplin, der Herrschaft über die ihm Untergebenen, können wohl Konflikte entstehn; aber der ganze Weg, den die künstlerische Leistung des Theaters, die Aufführung, von der Lesung des Bühnenstücks bis zum letzten Fallen des Vorhangs durchläuft, ist dem Direktor anheimgegeben. Nur weil im Burgtheater dieser entscheidende Gedanke siegte, ist es über alle andern emporgewachsen. Nur so konnte es sich die großen dramaturgischen Talente gewinnen und sie lange fest halten; und die großen Dramaturgen zogen die großen Darsteller nach, oder hielten sie fest.[88] Nur so konnte sich eine edle, vornehme Tradition bilden, die das Rückgrat eines so zarten, leicht zerstörbaren Organismus ist. Berlin wuchs und es überwuchs das alte Wien; aber das Königliche Schauspielhaus konnte nie zur Höhe des Burgtheaters emporsteigen, weil es von dilettierenden Hofbeamten geleitet ward, deren »Direktoren« zuletzt doch nur ausführende Organe ihres Willens waren.
Berlin half sich endlich durch die Gründung des Deutschen Theaters, 1873; und den ersten Leitern dieser Bühne, Förster und L'Arronge, gelang es wirklich, die große Aufgabe der königlichen Bühne besser zu lösen als diese selbst. Nach ihnen kam Barnay, der in seinem »Berliner Theater« denselben Weg ging, und auch mit starkem Erfolg. Ihn überbot als Wiedererwecker literarischer Werte sein jüngster Nachfolger Paul Lindau, ein großes dramaturgisches Talent, und noch jetzt von einem Feuereifer auf der Bühne, der der Jüngsten spottet. Ich hoffe, er wird auch das Deutsche Theater, das er 1904 übernimmt, wieder zu seiner alten hohen Stellung bringen.
Eines aber bleibt: jeder Direktor eines Privattheaters muß gar viel an die Kasse denken; »hinter dem Reiter sitzt die schwarze Sorge«. Nur an den Hoftheatern kann der Mann, der sie leitet, auch bei frommer Andacht zur hohen Kunst und bei kühnem Wagemut ruhige Nächte haben.
Dort gilt auch mehr als anderswo das Tröstliche, das dem Schauspieler sonst so wenig vergönnt ist: die Hoffnung des Fortlebens; denn ihn umgibt ein dauerndes Gebilde, in dem er als Vorbild bleiben mag,[89] als ein Blatt im goldenen Buch der Überlieferung. Darüber möchte ich mit Worten schließen, die ich an Laroches Grabe sprach und deren Wahrheit ich eben jetzt empfinde, da ich die Nachwirkung so vieler dahingeschiedener Künstler tief in mir erlebe:
»Mehr als alle Künstler sind die der Bühne auf das Leben gestellt; sie, die zu den herzerfreuenden Wohltätern des vielduldenden Menschengeschlechts gehören, die unser Dasein zu verlängern, ja durch ein holdes, zauberndes Wahnleben zu verdoppeln scheinen, sie haben, nach des Dichters Wort, von der Nachwelt keine Kränze zu erwarten. Doch auch mit dem Schauspieler, dem echten, stirbt nicht seine Lebenstat; sie lebt in den Empfänglichen fort, die der Genuß seines Daseins bereicherte, bildete, verklärte, sie lebt auf der Stätte seines Wirkens in den Künstlern fort, die sein Vorbild erzieht, die sein Geist noch anweht. Und wie aus den Tälern des dumpfen Alltagslebens die Nacht langsam entweicht, so verweilt auf den himmelanstrebenden, reinen Höhen der Kunst das Licht eines großen scheidenden Gestirns noch lange, nachdem es versank.«[90]
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