[63] Im Dezember 1881 hatte ich die Direktion des Burgtheaters angetreten; im Sommer des nächsten Jahres erschien August Förster in meiner Sommerfrische bei Hallein, um, zu meiner großen Überraschung, sich mir als Oberregisseur des Burgtheaters anzubieten. Er hatte eine Reihe von Jahren das Leipziger Stadttheater geleitet und war nun daran, mit Adolf L'Arronge und andern in Berlin das »Deutsche Theater« zu gründen; ein großes Unternehmen, in dem er als Schauspieler, als Regisseur, als Mitdirektor hohe Zwecke fördern und auch zu seinem eigenen Vorteil glanzvoll wirken konnte. Aber das Heimweh trieb ihn, wie er mir gestand; er wollte wieder zum Burgtheater. »Ich war lange selbst Direktor,« sagte er, »aber fürchte nichts, ich kann mich wieder unterordnen, dienen; ich werd' dir's beweisen!«[63]
Es war dasselbe Heimweh, das zu eben jener Zeit und dann immer wieder Friedrich Mitterwurzer zur »Burg« zurückzog; so groß war noch die magnetische Kraft dieser Bühne, die sich zuletzt an dem Wiener Joseph Kainz bewährt hat. Mitterwurzers glänzende Begabung hatte sich während seiner ersten Burgtheaterzeit, 1871 bis 1879, nur langsam entfaltet; ich lernte ihn damals als einen kraftvollen, wirksamen Episodenspieler kennen, der nach den großen Rollen verlangte, aber noch nicht für reif galt und es auch nicht war; hab' ich doch auch von ihm das Wort gehört, das immer den Unreifen verrät, der noch nicht das richtige Arbeiten gelernt hat: »Am Abend werd' ich's schon treffen, Herr Doktor!« Als er dann in den Mitbesitz von Lewinskys großen Charakterrollen gelangte, war er bei all seinen geistreichen Anläufen nicht stark genug, um diesen vollkräftigen und gründlich geschulten Nebenbuhler zu überwinden; er gab den Kampf endlich auf, da man ihn an das Laubesche Stadttheater hinüberlockte, und verließ die Burg. Doch wie sehr er dann auch wuchs und was er auch unternahm – als Oberregisseur des Stadttheaters, als artistischer Direktor des Karltheaters, auf Schauspielerwanderungen durch die halbe Welt – es blieb in ihm die Sehnsucht nach dem Burgtheater, als könne er nur dort ganz er selber werden, oder als könne nur dort sein Ehrgeiz seinen Frieden finden. Zweimal, während ich Direktor war, hab' ich einen Vertrag mit ihm abgeschlossen, dem nur noch seine Unterschrift fehlte. Er wollte und er zögerte, er entschloß sich nicht: zwischen Sonnenthal und Lewinsky, Krastel und Robert sah er doch zu wenig Raum[64] für sich, und eine breite Gasse über Leichen weg konnt' ich ihm nicht schaffen. So blieb es beim unbefriedigten Heimweh; bis er endlich 1894, lange nach meiner Zeit, als »Stern« im Burgtheater aufging, um nach einigen Jahren hohen Glanzes in frühem Tod zu erlöschen.
Eben dieses Burgweh im Herzen kam Förster nach Hallein; auf der alten Bühne als Zweiter zu wirken, erschien ihm als das schönste Los. Seine Meinung war – und wie viele haben sie schon vor ihm gehabt –: die Schauspielerregisseure alle durch einen Regisseur ersetzen, der nicht spielt, der nur Proben leitet und auch sonst, soweit sie ihm vom Direktor überwiesen wird, dessen Arbeit tut. Für diese Einrichtung spricht mancherlei; nämlich alles das, was gegen die Schauspielerregisseure spricht. Man nimmt die besten, erfahrensten und gebildetsten Darsteller und gibt ihnen die Regisseurwürde mit dem Regisseurgehalt; man will sie aber nicht als erste Schauspieler verlieren; und in unzähligen Fällen wird dem, welcher in einem neuen Stück die Hauptrolle spielen soll, auch die Regie übertragen, weil er in dem Stück am tiefsten lebt oder weil er der beste Mann dafür ist. Nimmt man einen andern, der entweder in einer kleineren Rolle oder gar nicht mitspielt, so entsteht leicht ein gewisser Gegensatz der Kräfte, der auch im mildesten Fall nicht zu wünschen ist. Immer aber bleibt der Übelstand, daß jeder dieser Regisseure ein wichtigster, ein möglichst reich beschäftigter Künstler ist, der sich dem Regieberuf nicht mit voller Kraft und Freiheit hingeben kann; der also vor Allem das eine zu wenig tun kann, das nach meiner Einsicht das Wichtigste von allem ist: die noch unreifen, noch[65] werdenden Schauspieler auf den Proben und auch außerhalb der Proben zu schulen, zu belehren, ihnen vorzuspielen, kurz, sie weiterzubringen, so kräftig und so geschwind, wie's nur möglich ist.
Läßt dem Schauspielerregisseur seine eigene Aufgabe Zeit und Spannkraft dazu, nun, dann steht es gut! Ich erinnere mich eines besonders glücklichen Beispiels dieser Art aus meiner Dichterzeit vor der Direktion. Zu den späteren Proben meines Schauspiels »Die Tochter des Herrn Fabricius« war ich von Berlin nach Wien gekommen; Adolf Sonnenthal, der die Hauptrolle spielte, führte auch die Regie, und zwar ohne Direktor: Dingelstedt hatte die Einstudierung mit einer seiner graziösen Wendungen »den beiden Adolfen« übergeben und uns seinen Platz geräumt. Sonnenthal lebte glühwarm in seiner Rolle; er fand aber doch in sich Überschuß genug, um Fanni Walbeck, welche die junge Handschuhmacherin Käthchen zu spielen hatte und noch etwas »farblos« war, ganz in Farbe zu tauchen. In den richtigen Künstlereifer geratend spielte er ihr die ganze Szene vor, jede Stellung, jede Gebärde, jedes Wort. Fanni Walbeck, ein anmutig bildsames Talent, ließ sich das nicht zweimal sagen; das Käthchen ward eine ihrer lebendigsten Rollen.
Zuweilen tritt statt des Regisseurs ein Kollege ein; das hab' ich später, als ich Direktor war, an derselben Fanni Walbeck erlebt. Sie sollte in Paul Lindaus und Lubliners Schauspiel »Frau Susanne« ein junges Dienstmädchen spielen. Ich weiß nicht mehr, wem der Gedanke kam, die Rolle durch den sächsischen Dialekt zu beleben; Schöne und Thimig, die beiden[66] Sachsen, nahmen sich der Sache als hilfreiche Kameraden an. Die Gelehrigkeit der Walbeck lohnte es ihnen: aus der an sich geringen Rolle wurde ein allerliebstes Kabinettstück, dessen Töne ich noch im Ohr habe und von dem ich gerne erzähle.
Viel Gutes würden in dieser Weise auch weibliche Regisseure wirken können; an Talenten – wenn es nur darauf ankäme – würde wohl kein Mangel sein. Charlotte Wolter war gewiß ein Regietalent; mir das im stillen zu sagen hatte ich oft Gelegenheit. Sie dachte freilich zunächst an sich, mit dem ganzen naiven Egoismus einer großen Kraft; aber da zeigte sie denn auch, daß sie Bühnenblick und Erfindung hatte. Ich will nur einen Fall erwähnen, der hier zur Sache gehört: den Schluß meines Trauerspiels »Arria und Messalina«, dem sie eine andere Wendung gab. Narcissus ist mit Prätorianern erschienen, um der Messalina im Namen des Kaisers den Tod anzukündigen; Messalina versucht sich selber zu töten, sie vermag es nicht. Jetzt soll sie durch die Prätorianer sterben; sie flieht; die eilen ihr nach; man hört, wie sie nebenan erschlagen wird und verscheidet. So hatte ich's geschrieben und in der ersten Buchausgabe gedruckt; Charlotte Wolter sah aber ein anderes Bild. »Lieber Dichter, ich möcht' auf der Bühne sterben!« – »Wie denn?« – »Sehn Sie, da oben steht Narciß. Da will ich hinaus, in meiner Angst; zum Kaiser oder wie. Ich renn' die Stufen hinauf. Da stößt der Gabillon selber zu; stößt mir sein Schwert in die Brust. Ich fall' rückwärts, die Stufen hinunter; und so bleib' ich liegen. Das gibt doch ein Bild!«[67]
»O ja. Aber können Sie das? So nach hinten und nach unten fallen?«
»Aber ja. Das geht schon.«
»Und Valens und Soranus, die sprechen noch; dann erst fällt der Vorhang. Können Sie so lange daliegen, mit dem Kopf nach unten?«
Sie nickte. Sie wußte, was sie konnte. Herrlich war es anzusehn, auf den Proben schon, wie sie ihre Kleider zusammenraffte, um die fünf oder sechs Stufen hinanzustürmen; wie sie dann, von Narciß-Gabillons kurzem Schwert getroffen, scheinbar willenlos wie ein gefällter Baum rücklings niedersank, über die Stufen hinab. Sie verstand zu fallen, ohne daß man sah, daß sie es verstand. So konnte sie dann auch liegen bleiben, den Kopf auf der untersten Stufe, die Füße oben, und mit halb geschwundenem Bewußtsein warten, bis der heruntergefallene Vorhang sie erlöste.
Daß dazu guter Wille gehörte, nahm ich einmal recht deutlich wahr, als ich bei einer Aufführung des Stücks erst gegen das Ende zwischen den Kulissen erschien. Es war, wie wenn ich ein Stück Wirklichkeit erlebte; ich sah plötzlich eine Frau, die mit zusammengerafften Gewändern eine kurze Treppe hinauslief; ein Mann, der oben stand, stieß ihr eine blitzende Waffe in die Brust; sie stürzte rücklings die Treppe hinunter. Dann hörte ich noch zwei Stimmen reden; darauf rauschte etwas herab, unter Händeklatschen. Derweil lag die Frau als Tote da. Jetzt trat ich hinzu. Der Mann mit dem Schwert war schon unten und bückte sich, um sie aufzuheben; ich tat's auch und half ihm. Die Wolter schaute uns an wie aus einer[68] Ohnmacht erwacht; die Augen waren noch ohne Blick. Sie lebten erst allmählich auf. Es dauerte eine Weile, bis sie grüßend lächeln konnte.
Hatte sie in diesem Fall, mit Zustimmung des Dichters, für sich selber Regie geführt, so hat sie's in andern Fällen – so weit man sie gewähren ließ – auch für and re getan; ich hab's zuweilen erlebt. Ihre Kunst, zu fallen, brachte sie auf einer Probe der Teresina Geßner bei, als ich diese junge, anmutige Künstlerin aus Graz zu einem Gastspiel ein geladen hatte, um mir in einer großen Krankheitsnot des Burgtheaters zu helfen. Die Geßner sollte die Rutland in Laubes »Graf Essex« spielen; sie hat einmal in Ohnmacht zu fallen, das führte sie dilettantisch aus; wer hatte sie's denn auch gelehrt? In der Wolter, der Königin Elisabeth, rührte sich die helfende Ungeduld des Meisters; nach der Probe zeigte sie ihr auf der Bühne, wie man's machen muß: allmählich, schön und ungefährlich, und doch wie willenlos, plötzlich, durch Elementargewalt niederstürzen. Ich stand dabei und lernte mit. Als ich viele Jahre später mit meinen Kindern (und Freunden) vom Sonnblick nach Heiligenblut hinunterstieg und an einer etwas bedenklichen Stelle ausgleitend fiel, so eilten die andern, die ein wenig voraus waren, zurück: ob mir etwas geschehen sei? »O nein,« konnte ich ihnen als ehemaliger Direktor sagen, »ich bin wie die Wolter in vier Tempos gefallen; das hab' ich von ihr gelernt.«
Man hat aber nicht auf jeder Probe so einen weiblichen oder männlichen Helfer zur Hand; und wie Vieles bleibt ungetan, das geschehen sollte. Das Belehren [69] des einzelnen meine ich, die unmittelbare Einwirkung des Erfahrenen auf den Werdenden. Wie viele schöne Talente sind nun einmal so geschaffen, begrenzt, daß sie jahrelang beständiger liebevoller Hilfe bedürfen; dann würden sie um Jahre schneller erblühen, und ein Theater mit vielen solchen raschen Frühlingen würde über alle andern emporwachsen. Dagegen so manches Talent entwickelt sich spät oder nur zur Hälfte, weil die formende Hand des Meisters fehlt! – Wie viel da verloren gehen kann, hat mir eben jetzt ein denkwürdiger Fall gezeigt, von dem ich hier umso lieber rede, da es sich um ein Wiener Kind, um eine aus der Luft des Burgtheaters handelt. Ich meine Adele Doré, die soeben in Hamburg als Elektra aufs höchste gefeiert ward und mit höchstem Recht; und wie nahe war sie daran, nie zu ihrem Vollwert emporgepflegt, nie erkannt zu werden. Sie hatte lange in Köln, dann im Hamburger Thaliatheater gespielt; sie hatte wohl gespielt, was man »Alles« nennt, nur nicht ihr Eigenstes, oder doch nicht unter durchschauenden Augen und berufener Förderhand. Als sie diese endlich in Baron Alfred Berger am neuen Deutschen Schauspielhaus fand, war es zum Glück noch nicht zu spät; und im Mai des vorigen Jahres war ich ein sehr erstaunter Zeuge, auf Medeaproben, wie aus dieser kaum bekannten Schauspielerin eine gleichsam elementare Urkraft hervorbrach, die für die härtesten Aufgaben der Tragödie geschaffen ist. Ich habe große Medeen gesehen, die Janauschek, die Wolter, die Jaszai; Adele Doré schien aber wirklich die Medea selber zu sein, das wilde Barbarenkind, das unter den Hellenen nicht[70] leben kann; das sich wohl nach ihrer Sonne, ihrer Liebe sehnt, aber, wenn zurückgestoßen, ausbrechen muß wie ein Vulkan und Flammen der Vernichtung speien. Diese Kraft überstürzte sich; maßhalten, um auszuhalten, hatte sie noch nicht gelernt. Bis zum letzten Gipfel der Steigerung mußte sie die feste Hand eines wegkundigen Führers leiten; dann traf sie aber wie die Blitze des Zeus.
Sie hatte den rechten Führer gefunden, denn in Alfred von Berger – auch einem Wiener Kind – sind wohl alle die Eigenschaften beisammen, die den großen Dramaturgen machen; im Vorjahr wie in diesem hab' ich ihn gründlich bei der Arbeit gesehn. Man kann ihn ein Stück Burgtheater nennen, das an die untere Elbe verpflanzt ist; denn recht eigentlich mit dem Burgtheater ist er aufgewachsen, als junger Dichter (»Önone«), als Zuschauer, als philosophierender Ästhetiker, als Dramaturg. Er überbietet jetzt im Hamburger Schauspielhaus Dingelstedt als Bühnenbildner, indem er auch alle Möglichkeiten der neuen elektrischen Beleuchtung durchwandert; er pflegt aber mit derselben oder mit noch größerer Liebe das Wort und ist einer der berufensten Lehrer oder »Führer zum Geist«, die ich kenne. So ist denn nun die Doré der Gefahr enthoben, ihre Adlerschwingen nicht ganz zu entfalten; damals als Medea und jetzt als Elektra (in meiner Bühnenbearbeitung des Sophokleischen Meisterwerks) hat sie schon fast den Gipfel erreicht. Sie kann und wird noch höher kommen, unter Bergers Pflege, der von seinem Meister August Förster, unter dem er die Bühne kennen lernte, mit vielem andern auch die Rastlosigkeit[71] geerbt, den stärksten Wagemut aus seinem Eigensten hinzugetan hat.
Förster, auf den ich hiermit zurückkomme, war, wenn man sich in der Regisseurfrage für den einen Oberregisseur entschied, unzweifelhaft der rechte Mann. Sein glänzendes Regietalent hatte er in ebendiesem Burgtheater ausgebildet, dem er nun wieder zustrebte; achtzehn Jahre hatte er als Schauspieler, dann auch als Regisseur unter Laube und Dingelstedt gewirkt und von beiden gelernt, was sie lehren konnten. Er brachte akademische Bildung und tüchtiges Wissen mit; was ihm an unmittelbarer künstlerischer Begabung fehlte, wußte er oft auch in größten Rollen durch Gewandtheit und Beweglichkeit des Geistes zu ersetzen; doch erst wenn er Proben leitete, in Szene setzte, taten sich all seine Kräfte auf. Seine Unermüdlichkeit, sein Gedächtnis, seine Erfahrung trugen ihn über jedes Hindernis weg; nur sein Gedächtnis konnte auch zuweilen sein Feind sein: da er mit der glücklichsten Leichtigkeit lernte, verlangte er gern von den andren zu viel und verkannte wohl Schwierigkeiten, welche die Natur geschaffen hatte.
Im Frühsommer 1876 verließ er das Burgtheater, um in Gemeinschaft mit Angelo Neumann das Stadttheater in Leipzig zu übernehmen, das nicht lange vorher auch Laube geführt hatte. Die freiere Stellung lockte ihn und der zu erwartende Gewinn; es ward ihm aber herzlich schwer, Wien und die Burg zu verlassen, und hätte man ihm nur mit rechter Wärme zugeredet und mit offener Hand, wär' er wohl geblieben. Dingelstedt ließ ihn aber ziehen, ich weiß nicht warum; es endete mit einem Abschiedsfest, das ihm das Burgtheater[72] gab, ich als Freund und Dichter mit. In einem Gedicht, das ich an dem Abend vortrug, ließ ich Förster reden, wie er als Direktor in Leipzig, ein Jahr später, auf seinen Erfolg zurückblickt und nach seinem geliebten Wien hinüberdenkt; indem ich ihn ein wenig als Wohlschmecker und Mann des Kaffeehauses neckte (»Steidelgrien« ist eine verwegene Umformung des jetzt verschwundenen Café Griensteidl in der Schauflergasse):
Laßt mich denn zusammenstellen,
Was die erste Saat mir trug.
Möcht' es doch so reichlich schwellen,
Daß ich rufen kann: genug!
Wilbrandt schrieb zwar heute morgen:
»Lieber Förster, Geld ist Quark.«
Doch – auf Borgen reimt sich Sorgen –
(aus dem Hauptbuch lesend)
Siebzehntausend fünfzehn Mark.
Heil'ger Sacher! Heil'ger Stiebitz!
Gut ward ich genährt in Wien! –
Sechs Uhr! – Hartmann jetzt, als Kiebitz,
Sitzt im Café Steidelgrien.
Ach! dort saß auch, ohne Frage,
Jetzt der Förster beim Pikett!
Ach, das waren holde Tage –
(wieder aus dem Hauptbuch lesend)
Fünfzigtausend – Hm! Ganz nett.
Nun entvölkert sich der Prater,
Und es füllt sich nun der Saal.[73]
Burgtheater! Burgtheater!
Ach, du warst mein Sonnenthal!
Ja, du lagst mir Herz am Herzen,
Und ich war ein Stück von dir;
Und das läßt doch Narbenschmerzen –
(immer wie oben)
Hunderttausend und noch vier.
Und nun schmückt sich Lotte Wolter:
Erster Akt der Lecouvreur;
Und zum zärtlichen Gepolter
Richtet sich der Förster her.
Förster? – Wehe! wehe! Dreimal
Wehe, daß Frau Phantasei
Nur Vergangnes träumte –
Zweimal
Hundertsiebzigtausend – ei!
Viel weiß ich in Wien der Gassen,
Viel der Freunde weiß ich drin.
Kann man August Förster hassen?
Wilbrandt sagt, daß »süß« ich bin.
Weichen Herzens, ja, das bin ich,
Und es altert nicht mein Groll;
Und ich lieb' auch, treu und innig –
Viermalhunderttausend voll.
Euch besaß ich? Euch verlor ich? – –
Feuchtes Aug'? – Wisch ab! sogleich!
Hier ein neues Glück erkor ich,
Tatenschwer und ehrenreich.[74]
Will noch heut' an Wilbrandt schreiben:
Nun, es macht sich, lieber Sohn!
Mög' mir deine Liebe bleiben –
Eine halbe Million!
Anfang November des nächsten Jahres, 1877, sah ich Förster in Leipzig wieder, anders als ich gedacht: ich kam mit meiner Frau, die nach einem unlösbaren Konflikt mit Dingelstedt das Burgtheater verlassen hatte und nun den November hindurch in Försters Stadttheater gastierte. Sie spielte hauptsächlich in Stücken von mir, darunter ein neues, noch nicht aufgeführtes, ein Schauspiel: »Auf den Brettern«, das eine meiner merkwürdigsten Erfahrungen als Theaterdichter werden sollte und ein neuer, tiefer Blick in die Theaterwelt. Förster fühlte sich von diesem Stück lebhaft angezogen und versprach sich Gutes; aber wie fast alle Schauspieler, die es kennen lernten, stand auch er, der gebildetste, der erfahrenste, gleichsam ratlos vor dem letzten Akt: was mit dem tun? Wie den möglich machen? Dieser Akt spielt auf der Bühne eines Hoftheaters, während der Vorstellung; aber so, daß der Zuschauer auch noch rechts und links von den Kulissen freien Raum erblickt und sehen kann, was hinter den Kulissen vorgeht; so daß also die Spielbühne kleiner ist als in der Wirklichkeit. Als der Vorhang aufgeht, ist im Hoftheater Zwischenakt; die Dekoration des nächsten Aufzugs wird vor den Augen des Zuschauers gestellt; dann beginnt dieser neue Aufzug. Die Handlung meines Schauspiels ereignet sich aber sowohl auf der verkleinerten Spielbühne als hinter den Kulissen; und der[75] Sinn, die Bedeutung dieses meines letzten Aktes ist, daß der »Held« und die »Heldin« – diese eine Schauspielerin – im zweiten Akt innerlich getrennt, durch das Stück im Stück und durch alles, was sich hier im Hoftheater begibt, wieder zusammenkommen.
Die Erfindung reizte Förster, sie gefiel seinem Gemüt, seiner Phantasie; aber es zeigte sich auch an ihm die Eigenschaft der Schauspieler, der Theatermenschen, daß das für die Bühne Neue, noch nicht Gesehene ihnen zunächst unmöglich scheint. Was ich später am »Meister von Palmyra« erlebte, den die große Mehrheit der Schauspieler vor der Aufführung für ein undarstellbares Buchdrama hielt, weil er von allen bekannten Bühnenwerken abweicht, das stellte sich auch meinem »Auf den Brettern« entgegen. So einen Akt wie diesen letzten gab es ja nicht! Die Bühne als Bühne – mit Kulissenräumen rechts und links – und ein Stück im Stück – das begreift ja der Zuschauer nicht! Das verwirrt ihn, das ist nicht zu fassen! – Förster, auf meine Aufklärungen, meine Einwände immer freundschaftlich eingehend, suchte doch immer neue Hilfsmittel, um die geträumten Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen; er dachte an einen Schleier, der während dieses Aktes vor der Bühne hängen sollte, um dem Publikum ein ganz besonderes Gefühl zu geben; er war in seiner Sorge so erfinderisch, daß ich lächeln mußte. Endlich sprang er doch in den Abgrund hinein, wie ich ihn gebaut hatte. Es begab sich dann dasselbe, wie später beim »Meister von Palmyra«: das Publikum war unerwartet gescheit. Es verstand alles, so wie es sollte. Es ward hingerissen. Der Abend ward ein großer Erfolg.[76]
Dieser Ausgang wiederholte sich überall, wo meine Frau hernach in dem Drama spielte; denn ich hatte es ihr ganz übergeben, nur ihr. Die Hauptrolle war ihr wohl ein wenig »auf den Leib geschrieben«, wie man in der Theatersprache sagt; sie füllte sie mit Leben, Seele und Schönheit. Zunächst in Berlin, dann in Wien (bei Laube im Stadttheater), dann an vielen Orten widerlegte sie die von der Hexe »Schablone« eingeflüsterte Sorge, die so viele Köpfe geschüttelt hatte.
In der Theaterwelt wechseln die Schicksale oft wunderlich; so auch zwischen Förster und mir. 1877 kam ich zu ihm, 1882 kam er zu mir. Jetzt war ich Direktor und er wollte mein oberster Helfer sein.
Wir erwägten alles; aber es endete doch mit freundschaftlichem Nein. Wie unvollkommen auch die Burgtheatereinrichtung sein mag, die noch heute besteht: ihre Vielköpfigkeit bedeutet auch Vielfarbigkeit; der beste Regisseur ist doch immer nur einer, aus den mehreren geht mehr hervor, sie ergänzen sich. Ist der Direktor, was er sein soll: der Berater und oft auch Mitarbeiter der Dichter, der Inszenesetzer jeder großen Aufgabe, der geistige Führer vor und auf den Proben, so ist er selber sein Oberregisseur, und der Generalstab seiner Schauspielerregisseure tut vollkommen, was übrig ist.
Förster ging und ward Mitbegründer des Berliner Deutschen Theaters, das er vor allem groß gemacht hat. Das Burgtheater sollte ihn aber doch noch wiedersehn; wenn auch nicht mehr lange. 1887 legte ich das Zepter nieder, 1888 ward Förster nach dem Provisorium Sonnenthal mein Nachfolger; mit der alten[77] inneren Rüstigkeit und Willensstärke, tätig und erfolgreich, aber mit leider untergrabener Gesundheit und um bald zu vergehn.
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