[23] Lene einen Rollwagen vor sich herschiebend, kommt aus dem Hause; indem sie die beiden gewahr wird, bricht sie ab.
AUGUST. Nur weiter; warum hören Sie denn auf?
LENE. Ach, entschuldigen Sie nur; ich dachte gar nich, daß Sie noch da sind.[23]
JULIANE. Das Lied muß ich heute früh schon einmal gehört haben.
LENE. Ich singe es so, aber es is gar nich mehr wahr.
AUGUST. Das ist ja merkwürdig; wie sind denn die Worte?
LENE. Ach – es is ja jar nichts dran.
JULIANE. So sag' sie doch.
LENE. Wenn Sie durchaus wollen – Spricht. »Reich bin ich nicht – Taschen sind leer –«
AUGUST. Das stimmt doch?
LENE. »Schön bin ich nicht – Andre sind's mehr –«
AUGUST mit einem heißen Blick auf Lene, für sich. Freilich, das ist nicht wahr.
LENE. »Aber vergnügt – Weiß nicht woher.«
JULIANE. Nun? Ist das auch nicht wahr, daß du vergnügt bist?
LENE. Ja, aber ich weiß doch nu, woher daß ich es bin. Zu August. Darf ich denn nu rübergeh'n und Muttern 'rüberholen in den Garten?
AUGUST. Das sollen Sie, freilich.
LENE. Na denn – mit einem Juchhe! Sie stürzt sich auf den Rollwagen, schiebt ihn laufend zur Gittertür hinaus und verschwindet draußen.[24]
AUGUST blickt ihr, in Gedanken verloren, nach; Juliane beobachtet ihn schweigend von der Seite. Frühlingsmorgen und Erdgeruch. Eine Lerche ist das Mädchen, eine trillernde Lerche!
JULIANE. Das ist doch sonderbar.
AUGUST wendet sich zu ihr. Was?
JULIANE. Wenn sich zwei Menschen so in demselben Bilde begegnen.
AUGUST. Hat sie noch sonst jemand so genannt?
JULIANE. Ja, Hermann.
AUGUST dessen Gesicht sich plötzlich verfinstert. So?
JULIANE. Das Mädchen wollte sich tot lachen, weil er ihr gesagt hat, sie wäre eine Haubenlerche.
AUGUST. Was das wieder für eine Gemeinheit ist!
JULIANE. Nun – nun – sie fühlte sich gar nicht beleidigt, wie mir schien.
AUGUST geht auf und ab. Aber ihr so etwas ins Gesicht zu sagen! Wann hat er sie denn zu sehen bekommen?
JULIANE. Heut, ganz früh.
AUGUST. Der steht doch sonst nicht so früh auf?
JULIANE. Nein, er kam eben nach Haus von Berlin.[25]
AUGUST stampft mit dem Fuße auf. Da haben wir's! Wieder die Nacht durchgeschwiemelt! Mit Wein und Bier und Kneipendunst geladen, so kommt er nach Haus, und da muß ihm das reine Geschöpf entgegenlaufen in seine widrige Atmosphäre hinein!
JULIANE. Ich glaube aber wirklich, Sie beurteilen Mädchen zu feinfühlig.
AUGUST. Weil's ein Fabrikmädchen ist? Nicht wahr? Was würden Sie denn sagen, wenn er Ihnen in solcher Verfassung begegnete und Schmeicheleien ins Gesicht würfe?
JULIANE. Ich?
AUGUST. Ja ja, Sie.
JULIANE. Aber – das scheint mir doch etwas – anderes –?
AUGUST. Weil Sie eine Dame der Gesellschaft sind? Nicht wahr? Sehen Sie, was für ein Bodensatz von Dünkel in uns steckt! In uns allen! Auch in den Besten!
JULIANE. Ich meine ja nur – ich – würde es wohl anders empfinden.
AUGUST. Natürlich; denn wir, die Gebildeten, sind ja eine ganz andere Menschenart! Diese brutale Nichtachtung der Menschen unter uns!
JULIANE. Brutal?
AUGUST. Ja, brutal, weil so ganz naiv! Da schätzen wir diese Leute als roh, und merken gar nicht, daß die Sache umgekehrt steht: wir sind die Rohen! Denken Sie denn, daß diese Leute das[26] nicht fühlen? Ja, sie fühlen es ganz genau, und daher kommt dieser dumpfe Haß, dieses Rachegefühl, das wir uns gar nicht erklären können, weil wir uns keiner bösen Taten bewußt sind. Unser Gefühl, das ist unsere böse Tat!
JULIANE. Ich will mich nicht besser machen, als ich bin, aber ich kann es ehrlich sagen: mein Gefühl ist frei von solchem Hochmut.
AUGUST. So denkt ein jeder von uns, und im Innern sind wir Sklavenhalter gegenüber Sklaven.
JULIANE. August – ich glaube wirklich, Sie nehmen die Sache zu ernst.
AUGUST. Zu ernst – die Sache kann gar nicht ernst genug genommen werden! Da doktorn sie herum an der sozialen Frage, mit Vorschlägen und Gesetzen und Einrichtungen und wundern sich, daß alles nichts hilft. Ja, worüber wundert Ihr Euch denn? Woher kommt denn das? Weil Ihr die Sache von der verkehrten Seite angreift. Solche Fragen löst nicht der Staat, die löst der Mensch! Von uns muß die Sache ausgehen; jeder einzelne ist berufen.
JULIANE. Wenn nur der einzelne wüßte –
AUGUST. Sehn Sie, es gibt da ein Wort, das heißt: »Fürchte dich nicht vor denen, die nur den Leib töten können.«
JULIANE. Wie paßt das hier?
AUGUST. Drehen Sie das Wort um, dann paßt es: »Traue nicht denen, die nur dem Leibe helfen können.« Alle diese Gesetze, Einrichtungen und so weiter sorgen nur für den Leib der Armen: daß sie nicht hungern und dursten; es ist ja ganz gut, aber damit ist es nicht abgetan. Helft ihren Seelen![27] Und das kann nicht das Gesetz und nicht der Staat, das können nur wir, die einzelnen, die Menschen! Dazu müssen wir aufhören, Pharisäer zu sein.
JULIANE. Was verstehen Sie darunter?
AUGUST. Einen Menschen, der nur auswendig gelernte Pflichten kennt, aber keine empfundenen. Wir müssen diese grausame Feigheit endlich einmal überwinden, die uns den Schauder über die ästhetische Haut jagt, wenn wir mit diesen Leuten zusammen kommen, müssen es endlich einmal aufgeben, sie immer unter uns und uns immer über ihnen zu empfinden; mit ihnen müssen wir sein und leben, nicht nur in der Theorie, sondern in Tat und Wirklichkeit.
JULIANE. Sind Sie denn aber auch sicher, daß sie mit uns würden leben wollen?
AUGUST spöttisch lächelnd. Gute Juliane –
JULIANE. Ich glaube, ich habe auch einmal gelesen: »Wer zu freigebig schenkt, macht nicht reich, sondern arm.«
AUGUST. Die Sache ist nur, daß wir ihnen gar nichts schenken, sondern von ihnen geschenkt bekommen.
JULIANE. Wie –?
AUGUST. Sehen Sie, diese Leute sind für uns, was die sogenannten Barbaren für die Alte Welt waren. Es war den Römern sehr unbequem, als die Barbaren Rom eroberten und kurz und klein machten – und wenn es nicht geschehen wäre, gäbe es gar keine Menschheit mehr. Unsere Kultur ist alt geworden, denn wir haben keine neuen Ziele mehr, wir wollen bloß noch erhalten. Und wenn eine Kultur alt wird, muß sie erobert werden von denen, die jung sind, damit sie frisches Blut in die Adern bekommt;[28] und diese Leute sind jung, denn sie haben Ziele, die sie erreichen wollen.
JULIANE. Also müssen auch wir »kurz und klein« gemacht werden?
AUGUST. Ja, wenn wir nicht freiwillig zu ihnen kommen. Das ist's ja eben, was ich sage. Freiwillig müssen wir unser Blut mit dem ihrigen vermengen – freiwillig – ja, das ist's – Er versinkt plötzlich in Gedanken. ja – ja – ja – das Blut – vermengen –
JULIANE nach einer Pause, während der sie ihn aufmerksam, beinahe ängstlich beobachtet hat. Was beschäftigt Sie?
AUGUST fährt auf, wendet sich hastig zum Abgehen. Nichts, nichts – adieu. Er drückt ihr die Hand.
JULIANE hält ihn an der Hand. Das ängstigt mich fast.
AUGUST läßt seine Hand in der ihrigen, steht gesenkten Hauptes, sagt halblaut. Sehn Sie – solch ein Mensch – nicht zwanzig Jahre alt – glauben Sie noch nicht, daß der Baum wurmstichig ist, an dem solche Früchte wachsen?
JULIANE. Sprechen Sie – von Ihrem Bruder?
AUGUST hat die Hand aus ihrer Hand genommen; unwillkürlich ballt sich seine Faust. Aber – wenn ich dächte – daß er mir das Kind verdürbe –
JULIANE. August – ich habe Ihnen das von Ihrem Bruder erzählt, nicht um zu klatschen – August, es wird Zeit, daß wir ernsthaft darüber reden; warum halten Sie ihn mit Gewalt in der Fabrik fest?[29]
AUGUST. Unser Vater hat mich zu seinem Vormund gemacht.
JULIANE. Das weiß ich ja.
AUGUST. Und ich habe unserem Vater versprochen, daß seine Söhne lernen sollen, auf eigenen Füßen zu stehen.
JULIANE. Aber es ist ja ganz klar, daß ihm das Leben hier nicht gefällt.
AUGUST. Wenn er mündig ist, kann er tun, was er will, bis dahin bleibt er hier.
JULIANE. Naturen lassen sich doch aber nicht zwingen.
AUGUST. Wenn seine Natur so elend ist, daß er die Freiheit nicht versteht, so soll er es lernen; und wenn es sein muß, mit Gewalt. Er wendet sich kurz und geht ins Haus ab.
JULIANE ruft ihm nach. Ob Sie es nicht noch – Sie bleibt ratlos stehen, blickt nach der Gittertür. Da kommt sie mit der Mutter! Sie geht eilend ins Haus ab.
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