Die kommende Sonne

[34] »Mutter, gib mir die Sonne!«

Ibsen.


Es brennt in meinem Gehirn

Ein Traum mit gährender Glut,

Wie hinter Vesuvius' Felsenstirn

Der Erde fieberndes Feuerblut. –

Ich träume die kommende Sonne.


Und wie des Meeres Fluth empor

Zum lockenden Monde schwillt,

Wallt meine Seele schmachtend

Dem angebeteten Traumgebild

Entgegen – der kommenden Sonne.


In stummer Nacht, dem weichen Arm

Schläfernder Ruh entwunden,

Wälz ich mich mit heißem Sehnen,

Fülle mit Grübeln zögernde Stunden

Und harre der kommenden Sonne.


Vom Lager fahr' ich wild empor,

Wissende Bücher aufzuschlagen;

Ihr starren Züge, laßt mich lesen:

Wann wird umnachteten Völkern tagen

Die selig machende Sonne?
[35]

Es treibt mich auf die Gassen hinaus;

Da athmen die Gassen Moderluft;

Ein steinerner Sarg jedwedes Haus,

Die Stadt eine riesige Gruft. –

Erbarme dich, kommende Sonne!


Und schaudernd durch das Thor der Gruft

Flücht' ich hinaus auf offnes Feld,

Zu spähen, ob die finstre Luft

Ein Morgenschimmer nicht erhellt.

Ich ahne die kommende Sonne.


Und sieh, des Lichtes Halme schießen

Empor vom grauen Himmelsstrande,

Wie hinter schwarzem Schildesrande

Blutige Speere sprießen.

Das sind die Speere der Sonne!


Da weicht der Drache der Verwesung

Von seinem Nest, der Völkergruft;

Er faltet die zackigen Flügel

Und kriecht entsetzt in eine Schluft. –

Preis dir, siegende Sonne!


Nun taucht am froh erröthenden Himmel

Empor der rollende Feuerball.

Da zittert die Erde, da bersten

Die Riesensärge mit Donnerschall. –

Preis dir, erlösende Sonne!
[36]

Die toten Völker stehen auf

Und baden im goldig strömenden Licht;

Die Leiber blühen schön und stark,

Und geistig strahlt das Angesicht. –

Preis dir, erweckende Sonne!


Die Erde schimmert wie eine Braut

Im Schmuck der Blumen und Seen;

Hinter üppig grünenden Hainen

Marmorhäuser erstehen. –

Preis dir, verklärende Sonne!


Und aus den Thoren der Marmorstadt

Wallt des Volkes festliche Schaar,

Bringt Fahnen, selige Lieder,

Trunkene Blicke zum Opfer dar

Der entzückenden Göttin Sonne. – –


So brennt in meinem Gehirn

Der Traum mit gährender Glut,

Wie hinter Vesuvius' Felsenstirn

Der Erde fieberndes Feuerblut. –

Ich träume die kommende Sonne.

Quelle:
Bruno Wille: Einsiedler und Genosse. Berlin 1894, S. 34-37.
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