Straße

[42] »Das Licht in uns ist zur Finsternis geworden; und die Finsternis, in der wir leben, ist furchtbar geworden.«

Tolstoi.


An düster ragenden Häuserwällen

Durch flammenbesäte steinerne Schlucht

Branden die rasselnden Wagen, die Menschen –

Wie Wellen in klippiger Meeresbucht –

Der rote Vollmond taucht empor.


Die Menge wühlt und drängt und stößt;

Jedweden kümmert nur seine Not –

Wie auf dem Deck des lecken Schiffes,

Das in den Tod zu sinken droht –

Der rote Mond schaut düster drein.


Auf glattem Bürgersteige kauert –

Gleichwie am Felsenriff das Wrack –

Ein Mann mit vorgesunknem Kopfe,

Zur Seite einen Lumpensack –

Der Vollmond blickt mit düstrer Glut.
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Die Leute auf dem Bürgersteige

Treiben vorbei und blicken kalt;

Die Pferdebahn beglotzt im Rollen

Mit grünem Auge die Gestalt –

Der rote Mond schaut düster drein.


Dort drüben lockt die blutige Flamme

Dem Schnapswirt manchen Gast ins Haus;

Und öffnet sich die dunstige Schenke,

Dringt Schelten und Gejohl heraus –

Der Vollmond blickt mit düstrer Glut.


Des Handelshauses Fensterreihe

Ist noch vom Gaslicht grell erhellt;

Papier und Pult und blasse Schreiber;

Der Chef durchzählt des Tages Geld –

Der Vollmond blickt mit düstrer Glut.


Nun heult vom Hofe die Maschine

Zur Vesper; da entläßt das Thor

Viel arbeitsmatte Blusenmänner;

Nur der Fabrikschlot stößt empor

Zum roten Monde schwarzen Rauch.


Ein würdiger Bürger kommt geschritten,

Den Lump am Steige trifft sein Blick;

Entrüstet mit dem Kopfe schüttelnd

Geht er zu Bier und Politik –

Und zornrot glüht der volle Mond.

Quelle:
Bruno Wille: Einsiedler und Genosse. Berlin 1894, S. 42-44.
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