Das erste Abenteuer

Handelt von Fürzeichen und

heimlichen Künsten


[1] Zu zweien Malen bin ich geboren, und beide Male hieß meine Heimat eine Burg: Magdeburg die eine, Abendburg die andere. Ward ich zu Magdeburg geboren für das Zeitliche, so geschah auf der Abendburg meine Wiedergeburt für das Ewige.

In der Stadt am Elbstrom, am Tage der sommerlichen Sonnenwende des sechzehnhundert und sechsten Jahres drang ich aus dunklem Schoße zum Licht, ein Sprößling des Fleisches mit Odem und Geschrei. Johannes Martinus Tilesius, vulgo Tielsch, ward ich in der Taufe benamset, weil ich ja am Johannistage geboren, und weil überdies mein Vater zu Sankt Johannis Kirche ein Prädikante war. Sein ehelich Weib, meine gute Mutter, hieß Barbara Tilesia, und war eine geborene Angern.

Wie mir von den Eltern oft erzählet worden, habe ich die ersten Monde meines irdischen Aufenthalts schier Tag und Nacht geweinet, also daß meine Mutter nicht schlafen gekonnt und zu manchen Malen vor übergroßer Müdigkeit über dem Tischgebete eingenickt ist. Es spricht aber ein alter Kirchenlehrer: So ein neugeboren Kindlein anhaltend weinet, ist es ein Prophet trübseliger Lebensjahre. Das ist gewißlich bei mir eingetroffen. Zähle ich nämlich all die Ängste und Plagen, durch die ich in Junggesellen- und Mannesjahren Spießruten gelaufen bin, all die Tränen, darinnen ich als in einem Flusse geschwommen, Tränen über Waffen- und Hungersnot, Tränen über verloren Gut, entschwundene Lieb und Treue, Tränen ohnmächtigen Zornes und enttäuschter Hoffnung, auch Tränen der Reue über begangene Missetat, Tränen endlich des heißen Verlangens, aus diesem finstern Tale mich zu erretten zum heiligen Lichte droben ... dies alles bedenkend, muß ich schon glauben, daß mein kindisch Heulen eine Ahnung des Zukünftigen gewesen und ein dunkel Begehren, unsere bange Welt recht[2] balde wieder zu verlassen. Zeiten sind kommen, da hab ich mir die Haare gerauft und gejammert: »Warum hat man damals das schreiende Kindlein nicht verstanden und nicht lieber in der ersten Bademulde ersaufen lassen wie einen Katzenbalg!« Doch freilich, jetzo weiß ich: Nicht um hier eitel Lust zu genießen, trieb uns der Urquell herfür, sondern daß wir uns von trüber Täuschung erlösen zur verklärten Abendburg.

In meiner irdischen Vaterstadt lebte ich eilf Jahre. Alsodann verzogen meine Eltern nach Hirschberg im Schlesierlande, dieweil den Vater Sehnsucht zum Schlesischen Gebirge trieb, das seine angestammete Heimat ist. Also gelangte ich in die Gegend der Abendburg.

Magdeburg und Abendburg – beide Namen haben guten Klang. Magdeburg bedeutet die Burg einer Magd, so mit ihrer Unschuld den Angreifer zurücke schlägt. Und da ich als Kind die ersten Male von der Abendburg reden hörte, dachte ich an gülden Abendgewölk, anzuschauen als eine Burg; auch an eine Veste dachte ich, trutzig in den Abendhimmel gerecket, gewappnet wider den Feind, der im Finstern schleicht. Und es war eine Stimme in dem Namen wie Herbstwind, abendlich am Gitterfenster säuselnd, oder wie der verlassenen Jünger fromme Bitte: »Bleibe bei uns, Herr, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneiget.«

Magdeburg stehet in meiner Erinnerung als eine Hauptstadt, gelegen in der Ebene am Elbstrome, hat einen Dom und andere stattliche Kirchen, große schmucke Häuser, bewohnet von viel tausend Menschen, so mit Lärmen durch die Gassen strömen. In den Werkstätten pochen und basteln die Handwerker, in den Kaufläden und Schreibstuben wird gekramt, gebucht, bankerottiert und Geld in die Truhen gescharrt. Schiffer verladen Ballen und Kisten in ihre Kähne, die das gelbe Wasser umspület. Soldaten bauen auf den Schanzen, Bauern treiben Vieh und fahren über die lange Brücke, und die Windmühlen auf den Feldern schwenken ihre[3] Flügel. Sonntags vernehmen die Magdeburger die wohlgesetzten Kanzelreden ihrer eifernden Prädikanten, dann schleppen die Weiber neumodischen Putz durch den Straßenstaub, auf den Tanzböden scharmieren Gesellen und Jungfern, Gevatter Handelsmann und Lohgerber aber sitzen auf der Sudenburger Dingebank, knöcheln und schandieren über Kaiser und Papst. Ihres hitzigen Hopfenbieres voll, pochen sie auf ihre Freiheit, die vom ersten Kaiser Otto hergeleitet wird, und auf den Schutzgeist ihrer Stadt, im Wappen abgebildet. Eine Magd ist es, so auf einer Burg steht und in der Hand ihr Kränzel, der Reinheit Symbolum, stolz erhoben hält.

Es hat aber eine schaurige Bewandtnis mit diesem Schutzgeiste, wenn anders ein scheu Geflüster der Leute Wahrheit vermeldet. Mit der Magd soll nicht, wie man in katholischer Zeit fürgab, die Jungfrau Maria gemeinet sein, auch nicht Frau Venussin aus der Heidenzeit, sondern ein unerwachsen Mägdlein, so lebendig in die Burg ward eingemauert, dieweil man gläubete, die konservierte Unschuld habe Macht, den Angreifer zurückezuwerfen. Als den Platz, allwo vor Alters des Mägdleins Burg gestanden, bezeichnet die Sage das jetzige Krökentor. Sooft im Laufe der Zeiten der dicke Turm am Tor morsch geworden und von neuem auferbauet werden gemußt, versäumete man niemalen, die Kraft des Schutzgeistes zu erneuern, nämlich ein frisch Mägdlein einzumauern.

Die steinalte Olsche des Bäckermeisters Kahle hat uns Kindern diese Mär anvertrauet. Gern saß sie an milden Abenden in unserm Kreise auf der steinernen Freitreppe des Nachbarhauses und erzählete von Zauberei und Räuberei, Spuk und Gespenstern. Wollte auch wissen, daß der runde Turm am Krökentor erst zu ihres Großvaters Zeiten erbauet worden und auch damals nach altem Brauche sein eingemauert Mägdlein erhalten habe. Des näheren beschrieb sie den Hergang also:[4]

Zuerst waren die Ratsherren unschlüssig, woher das Mägdlein zu nehmen sei. In alten Zeiten war es wohl vorgekommen, daß eine Mutter freiwillig ihr Kind geopfert, vermeinend, ein gut Werk zu tun. Jetzt aber dachten die Mütter allzu christlich, wie denn überhaupt das Magdeburgische Volk dem Opfern also wenig geneigt war, daß es wie ein heimlich Gericht mußte betrieben werden bei Nacht und Nebel. Da nun die Eingeweiheten nicht wußten, wie ein Opferkind zu erlangen, gab ihr Anstifter, der schwarze Burgemeister, den Rat, von den städtischen Waisenkindlein solle das Los gezogen werden. Gleicherweise ward beschlossen, und wurden nun dreizehn Mägdlein, so ohne Vater und Mutter auf Stadtkosten Pflege erhielten, ins Rathaus beschieden, angeblich, um mit Namen in ein Buch eingetragen zu werden. Auf den Tisch aber hatte man mit Fleiß einen Apfel gelegt, der die Kinder in Versuchung führen sollte. Wie nun das kleinste Mägdlein den Apfel sahe, nahm es ihn und biß hinein. Dies nun war das verabredete Los; das Mägdlein ward daher still beiseite in Gewahrsam geführet. Des Nachts aber brachte man es in einem Wagen nach dem Krökentor, wo bei Fackelschein Männer stunden, die Angesichter geschwärzt. Man setzte nun das Mägdlein in die offen gelassene Stelle der Mauer, gab ihm seinen Apfel in die Hand und mauerte die Lücke mit Steinen zu. Wie es ringsum finster geworden, hub das Mägdlein an zu weinen. Draußen freilich vernahm man nur ein leis Gewimmer. Es zu übertönen, begunnte der schwarze Burgemeister seine Weiherede: »Gleichwie das Lamm Gottes am Kreuzesstamme sein Blut dahingegeben zur Erlösung der Menschenkinder, also bist du, unschuldig Mägdelein, ein heilsam Opfer für unser Magdeburg. Gebenedeiet bist du! Denn was ist süßer denn Honigseim?« Hier wollte er selber antworten: »Zu sterben fürs Vaterland.« Doch aus der steinernen Gruft drangen mit wimmernder Stimme die Worte herfür: »Der Mutter Brust!« Verwirrt hörte es der Burgemeister, wollte aber die unheimlichen[5] Laute übertönen und sprach: »Wo ruhet es sich weicher denn auf Daunenpfühle?« Wollte nun fortfahren: »Im Grabe für das gemeine Wohl.« Doch es wimmerte abermals und sprach vernehmlich: »An der Mutter Herzen!« Da ergriff ein Grausen die Anwesenden, und einer flehete: »Reißet das Gemäuer nieder! Gebet das Kindlein frei!« Doch ihm wehrete der schwarze Burgemeister, das Wimmern im Gemäuer verstummte, und vollendet war das Werk. Zum Wahrzeichen aber ward an die Stelle, wo des eingemauerten Mägdeleins Füße ruhen, ein Stein in die Mauer eingelassen, so zwei Kinderfüßlein abbildet.

Wiederholt habe ich die kleinen Zehen betrachtet, wenn ich durch das Krökentor ging. Als ich einmal mit meinem Vater vorbeikam, meinte ich: »Das Mägdlein hätte lieber den Apfel nicht sollen nehmen. Ob es ihn wohl noch gegessen hat in seinem Mauerloche?«

»O mein Kind,« antwortete mein Vater erschrocken, »glaub doch nicht, was die Leute schwatzen! Diese Füßlein sind nur zum Gedächtnis der alten Mär abgebildet; es brauchet deswegen kein Mägdlein dahinter zu stecken. Zauberische Menschenopfer hat man wohl in heidnischen Zeiten dargebracht. Jetzt aber sind die Magdeburger Christenmenschen und kennen die Gebote: Du sollst nicht töten und sollst nicht zaubern.«

»Die Gebote kennen sie wohl,« – schwatzete ich – »deswegen aber zaubern und töten sie doch. Hat man nicht vorige Woche einen Schiffer auf dem Marktplatz an den Galgen gehenket? Und unser Küster erzählt, als Junge habe er eine Hexe brennen sehen, die auf einem Besenstiel zum Blocksberg gefahren sei. Eine Nachbarin, die sie mitnehmen gewollt, habe alles vor Gericht ausgesagt.«

Da seufzete mein Vater: »Ja, es ist eine arge Welt! Aber laß uns lieber nicht daran gedenken. Sollte es aber wirklich wahr sein, daß ein Mägdlein eingemauert ward, so ist das schlimm für die Magdeburger. Hätten lieber nach eigener[6] Unschuld trachten, als sich mit fremden Federn schmücken sollen. Durch die geopferte Unschuld sind sie selber schuldig worden und müssen dafür büßen. Werden dereinst noch erleben, wie ihr gefeiet Krökentor von stürmender Hand genommen wird, und wie die stolze Stadt – ein ander Ilium und Jerusalem – in Rauch und Asche aufgehet ...«

»Nicht doch, Vater!« sprach ich. »Warum gläubest du also?«

»Es gehet der Krug zu Wasser, bis er bricht, und einer jeglichen Burg auf Erden ward vom Himmel beschieden, früher oder später zu fallen, wie ein Kriegesmann zu fallen pflegt. Der Himmel meinet es gut mit solchem Verhängnis. Blühet doch alles Lux herfür aus Crux, alles Licht aus Kreuz und Leide. Die Menschen zu erleuchten, muß ihr irdisch Vaterland zerstöret werden, daß kein Stein auf dem andern bleibet. Also werden sie vermahnet, die bessere Heimat aufzusuchen – eine Burg der wahren Unschuld – eine Burg aus eitel Licht ...«

Hierauf so schwiegen wir lange. Ich aber dachte der Rede nach. Und wie wir am Abend an einem Kornfelde lagerten bei dem Lusthaine, den die Magdeburger Vogelsang nennen, kam ich noch einmal auf das eingemauerte Mägdlein zu sprechen. Über dem Kornfelde schwebte eine Wolke, anzuschauen wie ein gülden Gebirg, und ich sprach: »Siehe, Vater, da ist eine Burg aus eitel Licht – eine wunderschöne Abendburg!«

Mit großen Augen sahe mich der Vater an: »Ei, Johannes, was weißest du von der Abendburg?«

»Ich weiß nichts davon, aber du hast wohl einmal von der Abendburg geredet, und nun dünket mich, das da sei solch eine Abendburg.«

Schmunzelnd nickte der Vater: »Wie rotgülden Wolkengebirg mag die Abendburg allerdings ausschauen, id est in der Johannisnacht, wenn sie von ihrer Verwünschung erlöset wird. Aber für gewöhnlich ist sie nur ein wüst Felsengestein.«[7]

»Ist sie denn keine Burg?«

»Mitnichten eine Burg, sondern gänzlich wild Gestein, an die zwo Stunden entfernt von meinem heimatlichen Dorfe Schreiberhau. Raget jäh aus den Wettertannen jenes langerstreckten Gebirges, allwo der Queißfluß und der Kleine Zacken ihren Ursprung nehmen. Von der Abendburg schaust du gen Mittag über dunkle Wipfel nach den Riesenbergen. Die wogen dunkelblau, und in ihren Abgründen schimmert Schnee.«

»Wahr, Vater, da kann man im Sommer Schneebälle machen?«

»Freilich! In den hochgelegenen Felsenspalten gen Mitternacht ist es also kalt, daß der Schnee bis Ende Juli dauert.«

»Wie hoch sind wohl die Riesenberge, Vater? Etwa so hoch wie unser Dom?«

»Weit höher, Johannes! Oft ragen sie über die Wolken hinaus.«

»Ei wie denn, Vater? Wenn sie bis über die Wolken ragen, so kann man von dorten wohl ins Himmelreich schauen, allwo die schönen Engel auf Wolken wandeln? Ach, ich möchte über die hohen Berge gen Himmel klettern.«

»Ei ja doch!« lachte der Vater. »Wie auf einer Leiter, nicht wahr? Nein, Johannes, das Himmelreich ist nicht an einem entlegenen Orte und kommet nicht mit äußeren Gebärden; inwendig im Herzen tut es sich auf.«

Ich war enttäuschet. »So können uns die schönen hohen Berge nicht zum Himmelreiche helfen? Warum verlangest du alsdann immer nach deinen lieben Bergen?«

Der Vater lächelte für sich und nickte: »Ob sie zum Himmelreiche helfen? Das können sie allerdings! So du nämlich Liebe für sie hegest, tun sie dir das Herze auf, und also wird dein innerlich Himmelreich offenbar. Solches ist mir geschehen auf der Abendburg. Und glaube mir, so du dorten hoch vom Steine in die blauen Weiten schauest, und dein Ohr dabei keinen Menschenlaut vernimmt, sondern nur den[8] Wind in den Nadelwipfeln harfen, einen Specht an Baumesrinde hämmern, oder einen Hirschen röhren – und tage-und mondelang immer nur diese Gestalten und Stimmen der Einöde zur Gesellschaft hast, widerfähret dir wohl ein Mirakel, ähnlich dem, was über die Abendburg gemeldet wird.«

»Erzähle, Vater!«

»Die Abendburg, so sagen die Leute von Schreiberhau, ist einmal eines Königs Schloß gewesen. Ward aber verwunschen und in wüst Gestein verwandelt. Zuweilen nur, je nach langem Raume, in Sankt Johannis heiliger Nacht, erscheinet es wieder in alter Pracht. Aufgetan ist dann ein Tor, und wer eintritt, findet wohl Mulden voll Gold und bunten Edelsteinen. Aber man muß des Sonntags geboren und anoch unschuldig sein, sonsten kann man den Schatz nicht heben, kriegt auch die entzauberte Abendburg nimmer zu schauen ...«

»Aber du, Vater, hast sie zu schauen gekriegt.«

»Ach nein, ich bin kein Sonntagskind.«

»Aber sagtest du nicht, dir sei das Mirakel wider fahren?«

»Ein ander Mirakel meine ich und auch eine andere Abendburg. Doch solches zu verstehen, bist du noch zu jung, lieber Johannes.«

»Ach, Vater, so erkläre es mir – vielleichte, daß auch mir solch Mirakel widerfahren mag.«

»Nun wohl, mein Kind,« sagte der Vater, und seine Augen waren leuchtend aufgetan. »Die Abendburg, die ich jetzo meine, ist das Menschenherz. Verwunschen ist es von einem bösen Geiste – demselbigen, so die schwarzen Männer angestiftet, das Mägdlein einzumauern. Dieser Geist kann die ewige Seele also verstören, daß sie einer Wüstenei gleichet, dem düstern Felsen der Abendburg. Doch einen Johannistag gibt es, der den Zauber lösen kann. Das ist die Sonnenwende des Menschenherzens, da es spüret, wie nun die Tage kürzer werden, und wie alles Leben vergehen muß gleich Heu. Nun seufzet es: Ach komm doch endlich, du mein ewig Heil, denn ich bin müde, leibeigen zu dienen dieser unwerten Welt![9] Da auf einmal ist ausgesprochen das heilige Wort. Die Abendburg, so nichts anderes ist denn der innere Mensch, wird erlöset und strahlet nun als eines Königs Schloß. Auf springet die heimliche Pforte, da gleißet in den tiefen Kammern der Schatz des Menschensohnes, und nimmer fressen den die Motten und der Rost. O mein Johannes, siehe zu, daß selbige Abendburg dereinst dir nimmer verwunschen und verschlossen bleibet.«

Ich hatte aufmerksam gelauschet, zwar nicht verstanden, was ich jetzo weiß, doch eine Ahnung verspüret von dem Heiligtum tief im Menschen. Und wie mein staunend Auge auf dem Vater ruhte, hatte ich gedacht: Also muß ein Prophete aussehen!

Nach einer Weile fragte ich: »Aber wie ist es denn mit der richtigen Abendburg, so bei Schreiberhau gelegen? Hat die jemals einer zu schauen gekriegt?«

»Die Mär vermeldet, in einer Johannisnacht sei eine arme Frau mit ihrem Kindlein zur Abendburg gekommen. Da hat sich der Fels verwandelt, und die Mutter, ihr Kindlein an der Hand, ist eingegangen in das strahlende Schloß und hat in den Gängen Gold gefunden, das von der Decke herabhing wie Tannenzapfen von den Nadelzweigen. Wie sie nun genung abgebrochen und zusammengerafft, ist sie enteilet und hat in der Hast ihres Kindleins vergessen. Draußen erst hat sie mit Schrecken sich umgewandt, es zu holen. Da ist ihr vor der Nase die Türe zugeschlagen, und auf einmal die Abendburg wieder wüster Fels gewesen, und drinnen war das Kindlein. Geweinet und sich das Haar geraufet hat die Mutter, auch vor Verzweiflung das Gold weggeworfen, weil das sie nicht glückselig machen konnte, nun ihr Kindlein verloren. Aber wie sie nach Jahresfrist zur Abendburg kommen ist, sich auszuweinen, hat sich der Felsen abermals zum Schlosse verwandelt, und siehe, drinnen an einem steinernen Tische sitzet das Kindlein frisch und gesund, einen Apfel in der Hand, und winket lächelnd der Mutter, hereinzukommen.[10] Diesmal hat die Mutter nicht nach den kalten Schätzen gegriffen, sondern nach dem lieben Kindlein. Ist mit ihm eilend zum Burgtor hinaus und hat das Wiedergefundene geherzet und geküsset. Der Apfel aber ist eitel Gold worden, also daß die Mutter von ihrer Armut fürder frei.«

»Ei, Vater,« sagte ich verwundert, »wie gleichet doch das Kindlein im Abendburgfelsen dem Mägdlein im Krökentor. Beide sind in Stein eingeschlossen, und beide haben auch einen Apfel in der Hand.«

»O schweig, mein Kind, laß ruhen den alten Frevel!«

»Aber kann nicht auch das Krökentor entzaubert werden wie die Abendburg und das Kindlein herauslassen?«

Sinnend nickte der Vater: »Wenn einst die Gräber sich auftun, wird auch das Mägdlein erlöset, aus dem kalten düstern Gemäuer kommt es lachend heraus, und siehe, ein Mutterherz ist ihm beschert. Unschuld ist ewig bei der Liebe.«

Nach solchem Trostworte erleichterte ein Seufzer meine beklommene Brust. Ich bedachte, es werde vielleicht, wie dem Krökentore, also gemeiniglich für alles Unheimliche, so mich ängstete, ein Stündlein der Erlösung und Verklärung schlagen. Es gab des Unheimlichen nicht wenig in meiner Vaterstadt, und das Mägdelein im Krökentor mag als ein zusammenfassend Symbolum gelten für die Finsternisse meiner Kindheit.

Von einer Scheu vor der Gegenwart und einer Sehnsucht in die Ferne war meines Vaters Seele ständig bewegt. Dem verlieh er gern einen stummen Ausdruck durch kleine Gemälde, wie er denn den Tuschpinsel schier als ein Künstler zu führen wußte. So hatte er einen Felsblock gemalt, aus dem ein Quell schäumend schoß. Darunter stund geschrieben: »Ich steh am Quell und dürste.« Als ich ihn um die Bedeutung der Inschrift befragte, gab er zur Antwort: »Ach wie oft stehet ein Mensch am Quell und muß doch dürsten, dieweilen er nicht trinken darf, nicht trinken kann, nicht trinken mag.« Zu einem andern Gemälde, das einen grauen Wolkenhimmel[11] und darunter ein violenfarben Gebirg fürstellte, sprach der Vater: »Dies Gewölk bedeutet meine Trübsal, und darunter wallet der blaue Strom meiner Sehnsucht.« Gemeinet war wohl die Sehnsucht nach der ewigen Heimat; doch dies allerinnigste Verlangen kleidete sich beim Vater gern in das irdische Gewand seines Heimwehs nach dem Schlesischen Gebirge.

Des Magdeburgischen Amtes waltete er ohne frischen heitern Sinn. Hatte es ja nicht aus Herzensdrange übernommen, sondern mehr um meine Mutter ehelichen zu können. Das mochte nun seine Kirchengemeinde spüren; drum war sie kühl gegen ihn gesonnen. Redete ihm nach, er predige nicht für das Volk, sondern für sich selber und für Schwarmgeister seinesgleichen. Wie der Rat von Magdeburg einmal uneins mit dem Administrator des Erzstiftes gewesen, und schier alle Prediger auf der Kanzel die Bürgerpartei verfochten, mein Vater aber gänzlich von solchen Welthändeln schwieg, ward ein Gespött über ihn im Ratskeller laut. Davon ist er völlig verschüchtert worden; fühlte sich halt nicht zum Eifern geschaffen, wie er denn von je mehr den Studiis gewogen war als dem Predigen, und insonderheit den milden Gelahrten Melanchthon liebte, dem streitbaren Luthero indessen nur Ehrfurcht entgegenbrachte. Was meines Vaters Kleinmut auf die Mutter übertrug, war die Schmalheit seiner Besoldung, so noch aus der alten katholischen Zeit stammte und wohl für einen ledigen Mann zulangte, nicht jedoch für einen Familienvater. Solche Unzufriedenheit ließ den Vater nach einem andern Amte umschauen, und weil er bereits früher im Schuldienste sich herfürgetan, auch eine angesehene Grammaticam herausgegeben hatte, so ward er von seinen Hirschbergischen Landsleuten zum Konrektor ihres Gymnasii erkoren.

Da nun beschlossen war, daß wir gen Schlesien ziehen sollten, kam eine freudige Aufregung über meinen Vater und auch über mich. Nur die Mutter seufzete, und ihre Augen[12] waren oft verweint. Mich deuchte es eine große Sache, bei dem Umzuge andere Länder und Städte zu schauen und gar nach dem ersehnten Gebirge zu gelangen. Wie aber der Tag der Abreise nahe war, kam mir doch ein Bangen, weil ich hinfürder von meiner guten Stadt Magdeburg geschieden sein sollte. Beschloß derohalben, alle trauten Orte noch einmal zu besuchen und ihr Bildnis getreulich meinem Gemüte einzuprägen.

Ging auf den Marktplatz, wo ich gern Ball oder Kreisel gespielt, und über den Breiten Weg, so die Stadt vom Krökentor bis zum Sudenburger Tor durchquert. Prächtig sind allda die Bürgerhäuser, haben breite Freitreppen, künstlich geschmiedete Gitter und am Dache speiende Ungetüme. Über den eisenbeschlagenen Pforten pranget mancherlei Zierat, als da sind Pferdeköpfe, wilde Männer, fromme Sprüche oder Sinnbilder, etwan ein steinern Rad, ein Pflug, eine fette Henne, ein gülden Hufeisen. Wenn ich einem stadtbekannten und kuriösen Menschen begegnete, dem dicken Hökerweibe, Appelolsche benamset, oder dem wilden Peter, dessen Haare und Nägel seit Jahren unverschnitten geblieben, so dachte ich in meinem Sinn: du ahnest nicht, daß ich dich jetzo zum letzten Male anschaue und die weite Reise ins Schlesingerland fürhabe!

Bei solchem Umherwandeln merkte ich, daß mein Abschied nicht bloß der Vaterstadt galt, sondern auch bereits meinem Kindesalter. Zu manchen Malen ward mir klar, wie ich bisher als rechter Einfaltspinsel in die Welt gegafft und mich mit allerhand dummen Einbildungen getragen. Das Haus am Knochenhauer Ufer, drin meiner Mutter Vater wohnte, trug auf dem Dach ein Türmlein, von wo mein Blick oft über das Gewimmel der Dächer ins Weite geschweift war, auch über die Elbe hinweg bis zur grünen Zollschanze, wo der Himmel sich emporzuwölben begunnte. »Dahier muß die Stelle sein, wo die Welt mit Brettern zugenagelt ist,« hatte ich stets bei diesem Anblicke gedacht – als ob hinter den[13] grünen Wällen nichts Irdisches mehr zu finden sei. Jetzo schlug ich mich vor die Stirn und schalt: »Welch Asinus bist du gewesen! Hat nicht der Vater gesagt, hinter der Zollschanze sei die Stadt Wittenberg gelegen, und in dieser Richtung führe die Straße gen Hirschberg? Du Narre sollst noch das Maul aufreißen, wie die Welt so lang und breit.«

Eine andere kindische Einfalt hatte mir eingebildet, der Kaiser Otto, vor dem Rathause hoch zu Rosse abgebildet, sei derselbige, von dem die Bürgersleute sprachen: »Unser Kaiser«, und die um den Kaiser Otto stehenden steinernen Weibsbilder seien die Frau Kaiserin nebst ihren Mägden. Nunmehr zur Nachdenklichkeit gestimmt, befragte ich meinen Vater nach dem Kaiser Otto und erfuhr zu meiner Verwundernis, der habe schon vor vielen hundert Jahren gelebt, und was ich für Mägde angesehen, seien Symbola, Fürtrefflichkeiten seiner glorreichen Regierung, zum Exempel seine Justitia oder Gerechtigkeit, seine Frömmigkeit und Tapferkeit; jetzo aber werde die Krone des Römischen Reiches Teutscher Nation vom Kaiser Matthiae getragen, der wohne im Österreiche, in der Stadt Wien, zwiefach so entfernt wie Hirschberg.

Das Besteigen unseres Dachtürmleins erinnerte mich daran, daß ich ja noch nicht auf dem Magdeburger Dome gewesen sei, von wo man, wie die Leute rühmten, viele Meilen weit in die Runde sehen und bei klarer Luft sogar den Harz erkennen kann. Bat derohalben meinen Vater, mich auf den hohen Turm zu geleiten, und erhielt die Zusage. Sollte jedoch nicht zum Ziel gelangen. Denn wie wir eines Spätnachmittages beim Küster des Domes vorsprachen, damit er uns den Turm auftue, war weder der Küster noch sein Weib daheim, und also blieb uns der Turmschlüssel verwehret. Wir begnügten uns damit, von unten zu betrachten, was des Anschauens würdig. Da staunte ich über die mächtigen Türme mit ihrem aus Stein gemeißelten Zierate. Der Sonnenuntergang entzündete in den Scheiben der hohen Fenster Purpurflammen,[14] und rosig angehaucht war der graue Sandstein, während die Schnörkel und Pfeiler bläuliche Schatten warfen. So hatte ich den Dom noch nie gesehen.

Alsdann gingen wir zum Kreuzgang. In seine Wände sind Steinplatten eingelassen, auf denen geistliche Herren aus alter Zeit, mit Kutten angetan, abgebildet sind; und ich war bisher, weiß nicht aus was Ursach, der erschrecklichen Meinung gewesen, hier habe man Mönche zur Strafe für Ungehorsam lebendig eingemauert, also daß ihre Gestalt unter dem angeworfenen Kalke noch erkennbar. Von diesem Aberglauben heilte mich mein Vater: »Solch Einmauern,« sagte er, »ist in den papistischen Klöstern zwar vorgekommen, aber doch nicht also oft, auch nicht in dieser Weise zur Schau gestellet.«

Ich fragte nun, ob es wahr sei, was ein Klosterschüler mir anvertrauete, daß nämlich ein heimlicher Gang unter der Erde den Dom mit unserer Johanniskirche und sogar mit dem Kloster Berge verbinde.

Hierauf antwortete mein Vater: »Also reden die Leute; wollen auch wissen, daß Kurfürst Moritz, wie er Magdeburg belagerte, durch den unterirdischen Gang in des Dompredigers Wohnung gedrungen sei, um daselbst mit dem Stadtrate ohne Wissen der Bürgerschaft zu akkordieren. Das soll vor mehr denn sechzig Jahren geschehen sein. Den früheren Domprediger habe ich gefragt, was Wahrheit daran sei, und die Auskunft erhalten, in den Kirchenschriften werde nichts dergleichen vermeldet. Was aber die Johanniskirche anlangt, so weiß ich allerdings von einem unterirdischen Gang; er führet aus dem Keller unseres Predigerhauses in ein Gewölbe unterhalb der Kirche, weiter jedoch nicht. Wenigstens hat unser Küster keine Fortsetzung des Ganges gefunden.«

»Wie denn? Aus dem Keller unseres Predigerhauses?« fragte ich. »Wir wohnen ja im Predigerhause.«

»Aus unserm Keller,« bestätigte der Vater. »Hinter Gerümpel befindet sich da eine kleine Tür, unser Küster hat den[15] Schlüssel. Ich bin niemals hineingekrochen. Der Gang soll baufällig sein und gefährlich zu betreten.«

Daß diese Worte mir später einmal zum Schicksal werden sollten, ahnte ich damals nicht, prägte sie aber meinem Gedächtnisse ein, weil sie meine Phantasie aufregten.

Im weiteren Gespräche fragte ich, was für Bewandtnis es mit jener Belagerung durch den Kurfürsten Moritz habe. Es fiel mir bei, daß Tages zuvor der Prediger von Sankt Kathrinen zu meinem Vater die Äußerung getan: »Ein neuer Kurfürst Moritz tut dem Reiche not.« – »Wie denn?« fragte ich jetzo verwundert. »Kurfürst Moritz war doch unser Feind. Hat er nicht Magdeburg belagert?«

»Ja, weil es der Kaiser also gewollt hat, und weil Moritz damals kaiserlicher Feldherr gewesen. Doch unser Feind war Moritz nicht. Denn nur ein Gaukelspiel ist seine Belagerung gewesen. Mit dem Scheine des Gehorsams hat er den Kaiser sicher gemacht, um dann auf einmal gegen ihn die Waffen zu kehren.«

»Ei, so ist Kurfürst Moritz ja falsch und treulos gewesen.«

»Das freilich,« versetzte mein Vater, »aber dem evangelischen Glauben hat er durch solch Vorgehen großen Nutzen gebracht, und denen Politicis kommt es mehr auf den Nutzen an, als auf die Treue.«

Also hat schon das Herannahen meines Abschiedes von der Vaterstadt mich aus der Enge kindischer Meinung zu einem weiteren Gesichtskreis geführt. Wie erstaunte ich aber erst, als wir die Reise angetreten, und jeder Tag meiner Neugier frische Weide sattsam bescherte!

Wir fuhren große Landstraßen dahin, zumeist auf Leiterwagen, die bei schlechtem Wetter mit Leinewand bedeckt wurden. Rechts und links zogen Bäume vorbei, Wiesen und Stoppelfelder, Flüsse und Sümpfe, Gutshöfe und Windmühlen; und wenn die eine Kirchturmspitze hinter einer Erdwelle versank, war schon die neue vorn aufgetaucht. Bald holperten unsere Räder über das Pflaster einer Stadt, bald[16] schlichen sie mühselig durch Sand und Heide oder beklebten sich mit der schwarzen Erde feuchter Wälder. In den Einöden besorgten meine Eltern, es möchte mausend Gesindel auf der Lauer liegen. Widerfuhr uns aber keine Gewalttat, sintemalen wir gefährliche Gegenden niemals ohne bewaffnete Reisegesellschaft passierten.

Wir begegneten Leuten mancher Art: Handwerksburschen und Bettlern, Bauern und Viehhirten, reisenden Kaufleuten und Soldaten, auch Bärenführern und Komödianten. Sahen bei Lohburg eines Seiltänzers Künste, manchmal einen Galgen mit Gehenketen dran, zu Wittenberg ein Blutgerüst und im Wendischen Lande eine schreckliche Balgerei bezechter Burschen.

Täglich an die zehn Stunden ging die Reise. Dann waren wir so derbe durchgerüttelt, daß uns alle Glieder wehtaten. Als wir in die Lausitz kamen, fühlte sich meine Mutter elend. Und zu Wittichau mußten wir ihrethalben zween Tage im Gasthause verweilen, da sie aus kaltem Regenwetter ein Fieber davongetragen.

Bei der Stadt Görlitz schimmerte durch herbstlichen Dunst ein spitzer Berg, die Landeskrone geheißen, und fröhlich sagte mein Vater: »Jetzo fanget das Gebirge an, und so Gott uns behütet, sind wir übermorgen abend am Ziele.« Ich spähete eifrig nach den Bergen aus, da es aber andauernd nebelig war, sah ich nur die nächsten Hügel. Merkte aber an Felsen und schäumenden Bächen, daß wir im Gebirge waren.

Am Morgen ging es durch hohen Fichtenwald, ich nickte in Schlaf, fuhr aber bei einem Ausruf meines Vaters empor. Der Nebel war gewichen, und die Frühsonne strahlte von links; zur Rechten hub sich eine blaue Wolkenwand, nach der meine Eltern heitern Antlitzes hinschauten. »Da haben wir das Isergebirge, Johannes, und heute abend sind wir in Hirschberg.« Nun erst erkannte ich, daß die blaue Wand wellenförmig gegliedert war und aus Bergen bestund, die höher und höher ragten, immer hellblauer gefärbt, je ferner sie waren.[17]

»Der Kegel ganz hinten ist der höchste Berg, Schneekoppe geheißen. Dorten wohnet der Herr der Berge, der verrufene Rübenzagel – doch das sind Fabulae,« sagte mein Vater. Nach einer Pause fügte er hinzu: »Der wahre Herr der Berge ist Gottes Geist; den spürest du in den Bergen. Willst du Gott schauen, so vergiß die Berge nicht – auch nicht das Meer.« Nickend wiederholte er: »Berge und Meer!«

Zu Greifenberg angelangt, freuten wir uns der großen prächtigen Burg, die über dem Städtlein am Berge liegt als ein gewaffneter Schirmherr. Heißet der Greifenstein und ist Residenz des Freiherrn von Schaffgotsch.

Als unser Wagen in der Laubaner Gasse Halt machte, kam aus dem Wirtshause, von den Schlesingern Kretscham geheißen, ein Mann, dem Aussehen nach ein Viehhändler, und fragte den Vater in seiner Mundart, die ich schwer verstund, ob er der neue Konrektor von Hirschberg sei. Drauf berichtete der Mann, daß meines Vaters Bruder, Tobias Tilesius, uns bis Hirschberg entgegengereiset sei und da bereits zween Tage im Schwarzen Rössel unserer Ankunft harre, in Sorgen, es möchte uns unterwegs ein Mißgeschick widerfahren sein.

Mein Vater traktierte den Viehhändler mit einem guten Botentrunk und forschte ihn nach seinem Bruder aus. Den nennete der Viehhändler immer nur den Kräutertobias, dieweilen mein Oheim die wertvollen Gebirgskräuter sammelte und zu Markte brachte. Früher ein kunstfertiger Glasmacher und Schleifer, hatte mein Oheim sich in diesem Handwerk, das die Brust angreift und mit Glasstaube anfüllt, einen schweren Odem zugezogen und sich nun dem Laborantenwesen zugewandt. Wohnte hoch im Gebirge zu Schreiberhau.

Es dämmerte bereits, als wir an einem zweiten Schlosse des Herrn Schaffgotsch, auf einem Berge über dem Städtlein Kemnitz gelegen, vorbeifuhren. Noch ein paar Stunden, und aus der Dunkelheit schimmerten die Lichter von Hirschberg. Unter einer Brücke schoß rauschend Wasser dahin, und[18] nun fuhren wir durch ein festes Tor in die Stadt, um bald vor dem Schwarzen Rössel zu halten.

Aus dem Gasthause trat ein hochgewachsener, doch im Rücken gebeugter Mann, spähete nach dem Wagen und kam hastig herbei. »Tobias!« rief mein Vater froh, sprang vom Wagen und umarmte seinen Bruder. Hierauf begrüßte der Oheim meine Mutter und küßte mich auf die Wange. Wie mein Vater war er lang und hager von Gestalt, auch melancholischen Antlitzes. Während aber mein Vater versonnen und sehnsüchtig aussah, beseelte den Oheim eine wilde Unrast. Grau und verwittert seine Haut, wie Fichtenrinde, struppig der große Bart, keuchend sein Odem. Die Augen lagen in tiefen Höhlen unter buschigen Brauen und glommen düster.

Wie wir so auf der Gasse stunden, nur trübe von der Wagenlaterne beleuchtet, stumm und bewegten Herzens, da ja diese Stadt unser neues Vaterland sein sollte, war mir seltsam zumute. Hörete die Mutter heimlich weinen, den Vater aber mit gefalteten Händen die Worte sprechen:


»Arm zages Pilgramherze,

Irrst lange schon im Dunkeln.

Da siehst du eine Kerze

Durch Nacht und Nebel funkeln.

Gewiß, wer die entzündet

Dem Irrenden zur Hut,

Hat also ihm verkündet:

Komm her, ich bin dir gut;

In meiner treuen Klause

Sei endlich nun zu Hause.«


Du lieber Boberfluß, dein Murmeln tönet hold durch mein Gedenken, so ich des Nachts im Kämmerlein die zurückgelegte Lebensreise betrachte. Dann seh ich frischgemut wie in den Knabentagen deine Wellen an der Sonne blinken und über moosige Felsen hüpfen, vorbei an Stauden und Gebüsch, an Häusern und Gartenmauern. Aus einem finstern Walde bei Schatzlar kommst du her, wo vorzeiten[19] eine Glashütte gestanden. Zwingest und windest dich schäumend durch die Berge bis zu meinem guten Hirschberg, dessen Stadtmauern du gen Mitternacht berührest, um dicht dabei den Zackenfluß zu verschlucken.

Als ich mit meinen Eltern nach Hirschberg gezogen kam, war die Stadt noch schön gebaut und volkreich, hatte gedoppelte Mauern, Brustwehre, Schanzen und Gräben, drei starke runde Tortürme und andere Fortifikationen. War bewohnt von Ackerbürgern, Kaufleuten, Handwerkern, insonderheit Webern. Die lebten ein lustig Leben, liebten wackern Schmaus und Trunk, Gesang und Tanz. Zogen Feiertags vor die Tore zum dörfischen Kretscham, hatten viel Freude am Armbrustschießen und küreten jährlich einen Schützenkönig, so am besten den Vogel auf der Stange getroffen. Waren dabei gar betriebsam und kunstfertig. Das Weibesvolk wirkte Borten und Schleier, die weithin nach Polonien und Böheim, sogar nach Reußenland zu den Moskowitern verführet wurden. Vor der Stadtmauer auf den Uferwiesen des Zacken und Bober lagen die schlohweißen Gewebe hingebreitet, ähnlich Schneeresten im Märzen. Schwatzende Mägde schritten barfüßig über den Rasen, aus gesiebten Kannen Wasser auf die Bleiche zu gießen.

Das Hirschbergische Leben behagte uns allen weidlich. Gern war der Vater im neuen Amte, die Mutter erfreute sich eines reicheren Haushaltes, und ich empfing mit aufgeschlossenen Sinnen all das Neue und Wunderschöne der Gebirgslandschaft. Vernachlässigte dabei die Studia mit nichten. Nachdem ich allbereits zu Magdeburg »amo, amas, amat« gelernt hatte, drang ich jetzo unter Vaters Leitung in der Grammaticae tiefere Gründe ein und galt als ein tüchtiger Scholar.

Die Stunden meiner Muße verbrachte ich gern einsam vor den Stadttoren. Ging abends etwa auf den Hausberg, wo vorzeiten ein fest Gehäus gestanden, vom Herzog Boleslao erbaut, von den Hussiten aber in Asche gelegt, daß[20] nunmehr bloß etliche Mauerfragmenta aus dem Busche ragen. Hier bin ich oft gesessen, in ein Buch vertieft, zum Exempel in die Beschreibung Schlesiens durch Caspar Schwenkfeld. Meditierete dann über die wunderlichen Abenteuer, so dieser Autor vom verrufenen Rübenzagel berichtet.

Wie einmal mein Vater mit mir auf den Hausberg gegangen ist, habe ich den Blick auf die blaue Schneekoppe geheftet und nach einer Weile gesprochen: »Sage mir, lieber Vater, was vermeinest du über den Rübenzagel? Mag wohl etliche Wahrheit in diesem Glauben an den Geist der Berge sein?«

Zur Antwort gab mein Vater: »Was gemeiniglich in Spinnstuben und Schenken vom Rübenzagel laut wird, sind Fabulae. Gleichwohl gibt es einen Geist der Berge. Denn versenkest du dein Schauen in die Art unseres Gebirges, so spürest du darin eine eigne Lebendigkeit. Sie ist ein Teil des göttlichen Odems, der die ganze Welt durchflutet, und ohne dessen Spiritum kein Erdending bestehen mag – das Wasser nicht ohne Undinen, der Fels nicht ohne Kobolde, und kein Elementum ohne seine Elementargeister. Drum gebe ich Unrecht gleichermaßen denen, so den Rübenzagel für eitel Aberglauben halten, als auch jenen anderen, so ihn für eine teuflische Riesengestalt ausgeben. Es lebt der Herr der Berge und ist ein Geist, aber nur im Gemüt spürest du ihn. Er ist groß und gütig, freilich auch rauh und wetterwendisch, wie halt unseres Gebirges Art.«

Mich freute solcher Bescheid. »So ist also der Rübenzagel kein Teufel, und wir brauchen uns nicht vor ihm zu fürchten?«

»Nein, Johannes, das brauchen wir mitnichten. Der Teufel, den wir Menschen zu fürchten haben, hauset nicht in Wäldern und Gebirgen, sondern in uns selber, im menschlichen Herzen.«

Derweilen uns das Gespräch in solch Meditieren einspann, regten sich raunend die Gebüsche im Winde, und es erlosch mählich das Abendrot ob den Tannenwipfeln. Auf dem Heimwege[21] blieben wir noch ein Weilchen stehen bei der Quelle an des Hausbergs Fuße, das Mirakelbörnel benamset. Gedachten der alten Mär, dorten liege ein Schatz vergraben, den die Jungfer Praxedis bewache. Und in tiefer Dämmerung, wann Fledermäuse schattenhaft um uns huschten, und ein Nebel aufstieg, schien aus dem Dickicht die Jungfer im weißen Gewande mir zuzuwinken, daß ich den Schatz heben solle.

Im zweiten Frühjahre unseres Hirschberger Aufenthaltes hat sich ein Omen begeben. Durch die Luft kamen grausam viel Heuschrecken geschwirrt, aus dem südlichen Reußenlande. Haben im Fluge die Sonne verdunkelt, und wo sie niederfielen, ward der Boden ein viertel Ellen hoch bedeckt, also daß man in dem grünen Gewimmel waten gemußt bis an die Knöchel. In ihrer Freßsucht haben sie Gras, Laub und Getreide abgebissen bis auf das letzte Hälmlein und Stümpflein, und ist davon ein Geräusch gewesen, als ob eines Pappelhaines Blätter zittern. Mit Dreschflegeln haben die entsetzten Landleute dreingeschlagen, auch in Karren das Ungeziefer geschaufelt und verbrannt. Haben die Säue und Schafe auf diese seltsamliche Weide getrieben und so die grünen Leiber zerstampfen lassen. Aber die Säue haben so massenhaft vom Geziefer gefressen, daß viele hernach einer Seuche erlegen sind, und der rote Jörge, unser Schinder, genung tote Säue mit seinem blinden Gaule hat hinausführen und beim Gerichte verscharren müssen.

Kaum waren die Heuschrecken so ziemlich fort, da ist eine neue Plage und Beunruhigung losgegangen. Zigeuner, wohl an die hundert Häupter, sind gekommen, auch zwanzig Zeltwagen mit kleinen zottigen Pferden. Haben vor dem Schildauertore ein Lager gemacht. Um dieses Volkes wundersame Art und Sitte zu betrachten, ist die Bürgerschaft in Menge hinausgezogen, nicht ohne Waffen. Auch mein Vater ist hingegangen und hat mich mit sich genommen. Da sah ich denn viel braune Gesichter mit blitzenden Augen und Rabenhaar. Kauderwelsch haben sie geschwatzt, auch mit[22] Bettelei die Besucher angeschrien und um Geld aus der Hand geweissagt. Mein Vater hat mancherlei von diesem Volk berichtet: »Rechte Zieh-Gauner sind es, ohne Vaterland, im Umschweifen geboren, allezeit Stehlens und Raubens beflissen. Geben für, ihre Urväter in Kleinägypten seien vom christlichen Glauben abgefallen, und hierauf habe ihnen Gott die Buße auferlegt, daß sie so viele Jahre im Lande umziehen sollten, als sie dem Unglauben gehuldigt. Aber das ist schelmenhafte Heuchelei, zu dem Ende ersonnen, sich bei den Christen lieb Kind zu machen.«

Unter solchem Gespräche waren wir an Zigeunerlagers Ende gekommen. Am Feuer saß hier ein altes Weib und kochte Gerste mit gebackenen Pflaumen. Auch war sie damit beschäftigt, die stachlichten Körper etlicher Igel mit Lehm zu umhüllen und solchergestalt in der Glut zu rösten. Derweilen ich ihrem Treiben verwundert zuschaute, sagte mein Vater: »Ei, da ist ja der Tobias!«

Allerdings war mein Oheim in der Nähe; eifrig redend stund er bei einem Zigeunermanne, dessen gepichter Schnauzbart schwarz und stechend wie sein Auge. Der Vater schien ebenso befremdet, seinen Bruder im Gespräch mit einem Zieh-Gauner anzutreffen, als dieser verlegen war, solchen Umganges überführt worden zu sein. Indessen mein Vater und sein Bruder einander durch Zuwinken grüßten, lief ich erfreut zum Oheim und gab ihm die Hand.

»Schucker tschawo, scheen Bub mit Weißhand!« sprach auf einmal eine helle Stimme, und neben mir stund eine Zigeunerjungfer. Aus dem zartbraunen, von schwarzen Locken umloderten Angesichte blitzten die großen dunkeln Augen in mein Herz hinein, und ihrer geschmeidigen Glieder Form, kaum verhüllt durch ein zerrissen Hemde und ein kurz Röcklein, stiftete in mir eine seltsame Verwirrung an.

»Schucker tschawo, mit Güldenhaar – wird sich rot wie Blut – ah bravo!« lachte die Jungfer, wobei ihre Zähne wie Perlen blitzten. »Gib Hand, Bub! Turkewawa, wahrsagen[23] will Zigeunermadel. Tsi kosteles – kostet nix! Turkewawa ohne Geld, wahrsagen ganze wahr!«

Der Zudringlichen ließ ich willig meine Hand, die sie lächelnd streichelte und betrachtete. Aufmerkend war der Oheim herbeigetreten, und die Wahrsagerin sprach: »Oh, oh, schucker tschawo werden wie Keenig Salomo – finden Stein der Weisen – heben Schatz – oh, oh, große Schatz!« Und die Zigeunerjungfer ließ meine Hand und blickte mich an, als ob sie über mein Glück staune. Der Oheim schien erregt, da er oft hustete und unter den düstern Brauen die Augen rollte. Seine Hand reichte er hin und sagte: »Prophezeie sie auch mir!« Spöttisch blinzelte ihn die braune Jungfer an: »Will er auch Stein der Weisen?« Und die Hand betrachtend, schüttelte sie verächtlich den Kopf: »Eh, narbulo! ist sich nix von Weisheit, nix Salomo! Ist sich narbulo – hier Linie von narbulo! Ist sich narrisch – narbulo und wie ewige Jüd – ha, ha, ewige Jüd!«

Höhnisch auflachend sprang die Jungfer fort wie eine wilde Katze. Doch bevor sie hinter den Zelten verschwand, drehte sie sich noch einmal um, tat beide Hände küssend an ihren Mund und streckte sie nach mir aus: »Schucker tschawo – Bub mit güldene Haar – oh, oh, Keenig Salomo!«

»Nun aber komm, Johannes!« rief mein Vater und fügte für den Oheim hinzu: »Ade, Tobias! laß dich hernach bei uns sehen.«

Wie bestürzt und verwirrt blieb der Oheim stehen, seine Augen suchten bald die entwichene Wahrsagerin, bald die von ihr gedeutete Linie seiner Hand. Da ich ihm Lebewohl sagte, blickte er mich stumm an.

Auf dem Heimwege berichtete ich dem Vater, was mir widerfahren. Er aber meinte: »Ei ja doch! Sei kein Narr! Willst du etwan betrogen sein, wie das dumme Volk, das blind vor Aberglauben? Einer zusammengeklaubten Schelmenrotte darf man nicht trauen. Noch ist die Welt nicht witzig – sei du es wenigstens!«[24]

Da die Zigeuner Getreide und Hühner stahlen, so sprachen die Bauern: »Da sehen wir nun, was die vorjährigen Heuschrecken anzukündigen hatten. Ein Fürzeichen waren sie dieser zigeunerischen Landplage, haben anzeigen wollen, daß hinter ihnen menschliche Fresser und Mausköpfe kommen, und daß wohl gar noch schlimmere Verwüster folgen werden, als da sein Tartern oder Türken – sintemalen von den Zigeunern das Gerücht geht, sie seien der Türken Ausspäher, beflissen, der Christen Land den Heiden zu verkundschaften.«

Solche Sorge ward genähret durch die seltsamliche Gestalt der Heuschrecken, von denen etliche geblieben waren. »Sehet doch« – sprach man – »wie gewappnete Krieger ist dies Geziefer, mit festen Sturmhauben bedeckt und mit Fühlhörnern als Spießen bewehret. Ihr Schwirren und Zirpen hört sich an, als wetze man Schwerter und rassele mit Rüstungen. Fürwahr auf Schlimmeres denn auf Zigeuner deuten die Heuschrecken. Ein grausam Kriegesheer wird von Osten einbrechen, räuberische Heiden, alles Land kahl und wüste zu machen.«

Der Aberglaube fand an den Heuschrecken fürchterliche Hieroglyphen. Meines Vaters Collega, der Linguiste Hinschius, wollte auf den Flügeln Schriftzeichen aus dem arabischen Alkoran erkennen; andere Zeichen glichen wiederum hebräischen Buchstaben, und ein Scholar las auf einer Heuschrecke das lateinische Wort: cave! – zu Teutsch: hüte dich!

So ward der Leute Sinn gemeiniglich voll Sorgen auf die Zukunft gelenkt. Insonderheit erwartete man für den evangelischen Glauben ein groß Unheil. Munkelte, der Erzherzog Ferdinandus habe den Jesuitern angelobet, das ganze Reich von der lutherischen Pest – dies Wort soll er gebraucht haben – mit dem Schwerte zu kurieren. Bei den in Österreich und Böheim entbrannten Streitigkeiten der Konfessionen war manchem nachdenklichen Menschen zumute wie Pilato, da er die Frage tat: »Was ist Wahrheit?« Und wie der Parteien Hader im ganzen Reiche enden werde, konnte[25] kein Menschenverstand berechnen. Nur das eine wußte man, daß grausame Kämpfe, jammervolle Zeiten bevorstünden. Ratlos starrte man dem Himmel ins Angesicht, von ihm etwan zu erspähen, was im höchsten Rate beschlossen sei. Damals kam der Spruch auf:


»Sechszehnhundert zehn und acht,

Wenn ich dies Jahr recht betracht,

Geht darin die Welt nicht unter,

So geschehn doch schlimme Wunder.«


Zu Hirschberg lag ich mit Eifer den Studiis ob, ward dabei mitnichten ein Stubenhocker. Zum langen starken Burschen emporgeschossen, trieb ich mich mit andern Scholaren umher und machte gern ihren Rädelsführer. Zur Erinnerung an die Hussitenzeit spielten wir Krieg auf dem Hausberge. Die kämpfenden Parteien aber hießen wir Union und Liga. Führer der Liga war ein katholischer Junker namens Zetteritz, während ich die Union befehligte. Den Anlaß dazu gab ein Mann kindischen Gemüts. Ehedem Kapuzinermönch, war er durch die Ausbreitung des evangelischen Glaubens seines Klosters verlustig gegangen und fristete als Dachdecker sein Leben. In diesem Handwerk war er einmal vom Dache gefallen, aber so seltsam, daß er auf beide Füße zu stehen gekommen, als sei er gesprungen. Mit Gelächter ist er in den »Schöpsen« zu einem Kruge Bier gegangen und bald auf sein Dach zurückgekehrt. Doch es sollte wohl sein, daß er zu Schaden käme, denn kaum hatte er die Arbeit begonnen, so stürzte er abermals, und diesmal so schlimm, daß er unbewußt liegenblieb und eine Verkürzung des Verstandes davontrug. Blieb indessen wohlgemut und nicht übel gelitten bei alt und jung. Saßen die Bürger beim Trunke, so trat er pfiffig herbei, griff ungeladen nach einem Kruge und sprach, erst nachdem er ihn geleeret: »Mit Verlaub, Herr Bruder!« – »Hol dich der Kuckuck, Kapuzinerwenzel!« ward ihm entgegnet. Aber die Herumsitzenden lachten und lobten den Kerl. Dieser Kapuzinerwenzel[26] also war mit uns, als wir Scholaren auf dem Hausberge Krieg spielten. Es ward aber die Präpositio getan, unsere zween Haufen Union und Liga zu benamsen, nach den beiden Religionsparteien, in die sich die teutsche Fürstenschaft gespalten hatte. Sintemalen nun die meiste Bevölkerung von Hirschberg lutherisch war, begehrten die Knaben fast allesamt zur protestantischen Union, und das Los mußte entscheiden, wer der katholischen Liga angehören sollte. Zum Hauptmann der Liga proponierte ich den Kapuzinerwenzel. Da trat der Zetteritz auf und rief: »Eine Schande, wenn vor die Katholischen ein abtrünniger Mönch gesetzet würde, so sein Ordensgelübde gebrochen hat.« – »Oho,« rief ich, »er hat wohl getan, sich vom Papste zu wenden. Aber gut, der Kapuzinerwenzel soll nicht Hauptmann der Ligisten sein, dafür ist er viel zu schade. Mag derohalben der Zetteritz selber seine Partei anführen. Was mich betrifft, so bin ich Hauptmann der Union.« Jubelnd traten mir viele Knaben bei. Der Zetteritz aber sprach grimmig zu seinen Ligisten: »Auf denn, streiten wir für den Erzherzog Ferdinandum, so geschworen hat, er werde alle Ketzer ausrotten.« Da erhub sich groß Protestieren, selbst unter den Ligisten: »Mit dem papistischen Ketzerfresser haben wir nichts zu schaffen.« Ich maß den Zetteritz herausfordernden Blickes und sprach: »Wärest du nicht ganz ohne Beistand, ich möchte dir schon weisen, wie man denen heimleuchtet, so uns Ketzer schimpfen und ausrotten wollen.« Da fletschte der Zetteritz die Zähne und stieß mit der Faust nach meiner Brust. Ich aber packte ihn flugs, warf ihn zu Boden und hielt ihm die Arme fest, bis der Kapuzinerwenzel uns voneinander brachte.

Der Vorfall legte den Grund zu einer Feindschaft, die späterhin entsetzliches Unglück angestiftet hat. War auch ein Fürzeichen der grimmen Kämpfe, so demnächst zwischen den Konfessionibus entbrennen sollten. Zu Hirschberg und in der Umgegend waren meist nur solche Leute katholisch,[27] die aus einem katholischen Lande stammeten oder wegen ihres Amtes zu den Papisten hielten. Die Religionsparteien suchten einander den Rang abzulaufen bei den hohen Herren, und solche Nebenbuhlerschaft trat ergötzlich zutage, als der Warmbrunner Grundherr, Hans Ulrich Schaffgotsch, auf seinem Schlosse Kynast bei Hermannsdorf seinen Geburtstag feiern wollte. Wiewohl Hirschberg nicht zur Herrschaft Schaffgotsch gehöret, waren Vertreter des Rates, der Kirche und Schule, darunter mein Vater, abgeordnet worden, den Freiherrn beim Hermannsdorfer Teich zu begrüßen, wo er einem Fischzuge beiwohnen wollte.

Von Böllern begrüßt, kam Hans Ulrich die Straße von Kemnitz dahergesprengt, nebst einem Gefolge von Reitern. Feuer in den blauen Augen, antwortete er auf unsern Jubel mit dem Schwenken seines Federhutes. Er war ein schöner, langer, blondlockiger Mann. Der Prediger von Giersdorf wollte seine Rede anheben; da ward auf einmal zwischen den Scheunen eine Prozession sichtbar, Gepränge, Fahnen, brennende Kerzen. Papisten waren es, gesonnen, um des Grundherrn Gunst zu buhlen, der Meinung, auf seiner Reise durch Welschland und Hispanien habe er sich dem Papismo zugeneiget. Auch der Zetteritz war bei der Prozession. Angetan mit weißem Chorgewande, schwang er sein Weihrauchfässel und plärrete: »Sanctus spiritus«, riß den Hals immer weiter auf: »Adveni–i–sti, desiderabilis.« Bei Herrn Schaffgotsch angelanget, neigeten sich die Papisten devotest, und ihr Führer kam dem Giersdorfer Prädikanten zuvor, indem er einen salbungsvollen Glückwunsch sprach und dabei eine Schrift überreichte. Hans Ulrich las den Titul »Die wahre Religion der Schlesier« und gab die kühle Antwort: »Wir danken euch, sind aber nicht hergekommen, über Religion zu disputieren.« Und mit der Zunge seinem Rosse schnalzend, galoppierte er zum nahen Teiche. Unsere Schar stund verblüffet, alsdann erhub sich ein Gemurmel, und die beiden Religionsparteien sahen[28] einander wie knurrende Hunde an, bis sie schließlich Herrn Schaffgotsch zum Teiche folgten. Die Fischer waren bereits beim Einholen der Netze. Ihr Fischzug war nicht sonderlich mit Beute gesegnet, und Hans Ulrich sprach: »Wir hätten vermeinet, es müsse dahier mehr Fische haben.« Da brummte ein grauköpfiger Fischer: »Ei ja doch, lieber Junker! Sollen wohl gar noch die Fische prozessionsweise ins Garn gehen?« Lange Gesichter machten die Umstehenden. Hans Ulrich aber lachte und wandte sein Roß zu den Papisten: »Dieser Alte redet frisch heraus. Solch freier Mut, bar aller Schleicherei, gehöre alleweil zur wahren Religion der Schlesier.« Nun ernteten die Papisten schadenfrohe Blicke, und ich verspottete den Zetteritz durch Gebärden.

Der nahm am Abend dafür Rache. Herr Schaffgotsch hatte Ritter, Prädikanten und etliche angesehene Bürger, auch meinen Vater, zum Festin geladen, auf daß männiglich mit ihm fröhlich sei und Gott für alles Gute danke. Bei der abendlichen Gasterei sollten etliche Scholaren eine artige Comödiam aufführen, angezettelt von Herrn Schönborn, dem ehemaligen Lehrer des Freiherrn. Ich hatte dabei kein geringer Amt, als Gott, den Vater, darzustellen, wie er vom Himmel herniederschwebet, den verlorenen Sohn aus Höllenflammen zu erlösen. Die Rolle des obersten Teufels aber war dem Zetteritz übertragen.

Wie nun an mich die Reihe kam, war mein Antlitz rot bemalt, weiß umrahmt von Locken und Bart und gekrönt mit güldenem Heiligenschein; es umwallete mich ein blauer Mantel mit Silbersternen. Auf einer Leiter stund ich, und unter meinen Armen hindurch ging ein Strick, daran ich schweben sollte. In der Tiefe lohete das Fegefeuer, und der Zetteritz als Satan befahl seinen Teufelsknechten, die Zangen glühend zu machen, um den verlorenen Sohn weidlich zu peinigen. Da sprang ich von der Leiter, schwebte in der Luft und hub mit Donnerstimme an:
[29]

»Halt an, du Höllenfürst! Entfleuch, du Satansbrut!

Ich lösche diesen Brand mit meines Sohnes Blut.

Nicht alle Sünder sind zur Höllenpein erkoren,

Und kein verlorner Sohn soll ewig sein verloren.

Komm, arme Seele, komm ....!«


Auf einmal ward mein Strick losgelassen, und ich stürzte zu den Teufeln. Zetteritz starrete mich an, dann fiel er als ein Besessener über mich her, der ich auf dem Boden kauerte wie ein Vierfüßler. Das Sternengewand zog er mir prall und gerbte mein Fell. Dröhnend Gelächter erhub sich. Ich aber raffte mich auf und vergalt meinem Widersacher, bis man herbeigesprungen kam und uns mit Mühe trennte, worüber der Vorhang fiel.

Herr Schönborn, Autor und Rektor der Comödia, war indigniert, aber Hans Ulrich tröstete ihn durch Lobsprüche, und der Hofnarr, Michel Puchhammer, so unter der Schellenkappe Witz und Weisheit trug, klopfte dem Poeten beifällig auf die Schulter, vermeinend: »Der letzte Effektus war das wahre Kleinod Seiner Comödia. Hand aufs Herze, ihr Herren, wäre es nicht fast klüglich und vergnüglich, wenn alle Händel dieser Welt in Summa könnten ausgefochten werden einzig durch unsere höchsten Potentaten, den lieben Gott und den leidigen Satan? Machet nicht lange Gesichter, ihr Herren! Glaubet mir, das wäre die erbaulichste Comödia, so wir dürften dem Duelle zuschauen, wie Israeliten und Philister zuschauten, als ihre Sache durch David und Goliath ausgefochten ward. Wir hätten alsdann nicht nötig, unsere Schwerter widereinander zu wetzen und zu disputieren, wie die wahre Religion beschaffen sei, wer die ledigen Klostergütel bekommen, und wer König in Böheim werden solle. Ei ja, vermieden wäre aller Bruderzwist von Kain und Abel bis zu Liga und Union. Wir wüßten, daß wir nichts mit menschlicher Macht ausrichten und daß wir uns ergeben müssen in das Verhängnus von oben – wie solches ja auch die Kunst der Künste gebeut, die himmlische Astrologia.«[30]

Im Anschluß an solche Worte, die mir mein Vater berichtet hat, mag jenes Mirakel vorgefallen sein, das später in allen teutschen Landen erzählet, aber freilich auch angezweifelt worden ist. Ich vermag darüber nichts Gewisses auszusagen, sintemalen ich nicht weiß, ob die Geschichte auf Angaben meines Vaters beruht. Genung, ich will sie hier mitteilen; ob sie wahr, bleibe dahingestellet.

Der Narr Michel galt für einen kundigen Astrologen, so die Zukunft des Menschen aus dem Stand der Sterne berechnen könne. Wie er nun von der »Kunst der Künste« räsonierete, fuhr Hans Ulrich auf einmal mürrisch dazwischen: »Schweig, Unglücksrab!« Da die Beisitzenden befremdet stutzten, erklärte sich Hans Ulrich folgendermaßen: »Dieser Narre, der mit seinem Sterngucken prahlet, hat auch mir das Horoskop gestellet; und wisset Ihr, was er geweissaget hat? Ich werde sterben einen gewaltsamen Tod, und zwar am kalten Eisen. Merket wohl, nicht am heißen Eisen der Feldschlacht, von dem ich gern fallen will als ehrlicher Soldat; nein, am kalten Eisen, wie es der Scharfrichter schwinget. Pfui, du grober Michel, deine himmlische Astrologia ist eher ein lausige Zigeunerin.«

Michel zuckte die Achseln: »Kunst der Menschen kann irren, und ich wäre frohen Mutes, so ich Ihro Gnaden Nativität als ein Irrender hätte gestellet. Aber bei Ihro Gnaden Geburt sind Saturnus und Mars ins vierte Haus der Sonnen eingefahren, und was das nach den Regulis meiner Kunst andeutet, habe ich aufrichtigen Sinnes bekennet. Doch wir wollen den Himmel fußfällig bitten, daß er alles zum Besten unseres wertesten Herrn wenden möge.«

Herr Schaffgotsch blickte unruhig in die Runde, schüttelte das Haupt und sagte nach etlichem Besinnen: »Ich hätte nimmermehr gedacht, daß unter Deiner Kappe, so doch viel Witz heget, dergleichen närrische und fanatische Dinge stecken sollten. Gläubet Er etwan, ein Fernglas zu haben, so ins Kabinett der göttlichen Geheimnisse eindringet? Wie will[31] Er Beweis und Rechenschaft davor geben, daß Er Zukünftiges in Wahrheit kann prognostizieren? Wohlan, stellen wir Seine Sternguckerei auf die Probe ... Heda, Kuchelmeister Jochen, sage mir, ob im Burgstalle die ser Tage etwas jung geworden, und ob man auch die Stunde seiner Geburt erfahren kann.«

»Ja, Euer Gnaden – vor fünf Tagen hat ein Mutterschaf ein Lamm geworfen, gerade wie man zur Vesper läutete.«

Da sprach Hans Ulrich lauernden Blickes zu Michel: »Wohlan, so erkunde aus den Gestirnen, welchen Lebensgang das Lamm haben wird.«

Der Sterndeuter trachtete mit einer Schelmerei von der Aufgabe loszukommen und meinte: »Ei ja, stellen wir dem Vieh das Horoskop! Warum soll es nicht gelingen? Wenn der Herrgott jedes Haar auf unserm Haupte gezählet hat, so wird er seine Sterne gewißlich angewiesen haben, nicht bloß der hochmütigen Menschlein Schicksal zu regieren, sondern auch jedem Schäflein, Grashupferlein oder Flöhlein fürzuschreiben, wie es zu hupfen, zu grasen und zu sterben habe. Ist denn überhaupt ein Unterscheid zwischen Mensch und Vieh? Nun ja, im Saufen ist wohl einer. Säuft doch das liebe Vieh nur, bis es seinen Durst gestillet hat. Der Mensch aber, Herrgotts Ebenbild ...«

Herr Schaffgotsch schnitt die weitere Rede ab: »Schon gut! Diesmal gilt es keine Possen. Tu, was ich dich geheißen! Geh alsogleich und erprobe deine Kunst!«

Unter spöttischem Gelächter der Tafelgäste ging der Sterngucker. Nach einer Stunde kehrte er mit dem Bescheide zurück, in den Sternen stehe geschrieben, der Wolf werde das Lamm fressen.

Da lächelte Hans Ulrich triumphierend und rief: »He, Jochen, sage dem Koch, er soll sogleich das Lamm metzgen und heute abend gebraten auftischen.« Nun erscholl lauter Jubel, in den auch Michel einstimmte, indem er rief: »Bravissimo! Ja, man muß dem Schicksal zu Leibe gehen und die Fortune korrigieren.«[32]

Der Abend kam, und allerlei Gebratenes war bereits aufgetragen. Da rief Hans Ulrich: »Wo bleibet das Lamm?«

»Mit Verlaub,« sagten die Tafelträger verlegen – »es brä – brät anoch.«

»Ei, ei,« scherzte der astrologische Narr – »so hat es wohl doch der Wolf gefressen?«

Hans Ulrich ward verwirret und errötete. »Possen!« rief er. »Wo bleibet der Kuchelmeister? Holet ihn sogleich!«

Bleichen Antlitzes trat Jochen ein und stammelte offenbare Ausflüchte. Wie aber Hans Ulrich mit rauher Stimme rief: »Leuge Er nicht, sondern gestehe, was ist geschehen?« Da fiel der Kuchelmeister auf seine Knie und berichtete unter Zittern: »Ach Gnaden, ein Mirakel! Wohl ist mit dem Lamm nach Ihro Gnaden Geheiß verfahren worden. Gemetzget haben wir's, abgehäutet und auf den Bratspieß gestecket. Zum Drehen des Spießes aber haben wir eine Maschine, das ist ein Käfig, so vom hineingesperrten Hunde gedrehet wird. Früher war's ein Hund. Seit wir aber im Schlosse den Sultan haben, wie wir den zahmen Wolf heißen, ist es unsere Lust, von ihm den Bratspieß drehen zu lassen. Wie nun das Lamm gebraten auf der Schüssel liegt, ist der Bratenmeister mit seinem Kucheldiener auf ein Weilchen zu andern Verrichtungen aus der Küche gegangen. Da hat sich der Sultan aus seinem Käfig gemacht und hat das Lamm gefressen.«

Erbleichend sprang der Freiherr auf und ließ sein Tafelmesser fallen. Voller Grauen starreten ihn die Gäste an.

»Michel,« sprach Hans Ulrich sanft zum Hofnarren – »mit dem Lamm hat deine Kunst recht gehabt. Wie es aber mit mir kommen wird, stehet in Gottes Hand. Eins jedoch weiß ich: So ich dereinst durch kaltes Eisen gerichtet werde, ich sterbe unschuldig.« Niedergeschlagenen Auges wie ein Betender, fügte er leise hinzu: »Dulce decus, pro patria mori – süß und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland sein Leben zu lassen. Dein Wille, o Herr, geschehe – denn dein ist[33] das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit, Amen!«

Erschüttert, zum Teil weinend, falteten die Tafelgäste die Hände zum stillen Gebete. Den Herrn Schaffgotsch aber kam trotz seiner Gelassenheit eine Alteration mit Fieberschauern an, also daß er sich zu Bette legen mußte, worauf die Gäste nach Hause kehreten, mit traurigem Bedenken, wie es wohl am Ende kommen werde.

Quelle:
Bruno Wille: Die Abendburg. Jena 1909, S. 1-34.
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