»Dem unbekannten Gotte«

[170] Den Konfirmandenspaziergang hatte man mir als große Sache hingestellt, und so war ich enttäuscht, als auf dem Schloßberg, wohin wir uns verabredet hatten, kaum ein Drittel der Knaben und Mädchen erschien; zumeist auch noch solche, die ich nur vom Ansehn kannte. Ein Trost, daß wenigstens ein paar meiner Mitschüler dabei waren: Freund Jahn und Enzio. Wendelin, den ich eingeladen hatte, war ausgeblieben, weil er meinte, als Katholik auf einem protestantischen Feste nicht ganz willkommen zu sein. Uli hatte gesagt, er sei ja bald siebzehn Jahre, also übers Lämmerhüpfen hinaus. Jahn verhehlte nicht seine Unzufriedenheit über die Zusammensetzung der Gesellschaft. Außer den paar Pennälern und wenigen Realschülern waren lauter »Gogen« gekommen. So lautet eine studentische Bezeichnung für die Tübinger Weingärtner und kleinen Ackerbürger. Ob die gogischen Konfirmanden »Rauhbeine« waren, wie die Pennäler sagten, konnte ich nicht beurteilen, weil ihre Mundart mir kaum verständlich war.

Nachdem unser Trupp durch Warten auf Nachzügler Zeit vertrödelt hatte, setzte er sich in Bewegung und trollte auf dem Kamme des Schloßberges dahin. Voran die Schar der Mädchen, Arm in Arm, schnatternd wie eine Gänseherde. Auf ihre Kränzlein, ihre langen schwarzen Röcke und weißen Taschentüchlein waren sie stolz und schielten zurück zu den Knaben. Wir aber taten, als machten wir uns nichts aus ihnen – nur daß ein[171] Gog herausfordernd grölte: »O Mäd – chenn – vom Lan – dee, wie bischt du – so – scheen!« Und dann wurde gekichert.

»Warum sagt mr eigentlich das Mädchen?« philosophierte Jahn – »'s ischt doch feminini generis – müßt also die Mädchen heißen, gelt?« Die Bemerkung kam mir tiefsinnig vor, doch fand ich einzuwenden: »Mit demselben Rechte könntest du fragen, warum man das Weib sagt, und nicht die Weib.« – »Ihr ssaudumme Kerle!« belehrte Enzio – »weil's Mädle noch keine Frau ischt – sondern erscht werde will! So Backfisch send halt nicks!«

In diesem Punkte schienen wir einer Meinung. Im stillen allerdings verhehlte ich mir nicht, von klein auf eine Scheu den Mädchen gegenüber gehabt zu haben, eine Schüchternheit, die an Ehrfurcht streifte. Ich sah in den Mädchen eine besondere Menschenrasse. Eine Rasse mit weichem Gesicht und langem Haar, das in Zöpfe geflochten und mit bunten Schleifen geziert war. Eine Rasse, die keine Hosen anhatte, wie wir Knaben, sondern Rock und Schürze. Eine Rasse, leicht einzuschüchtern, zum Aufkreischen oder Juchzen geneigt. Eine Rasse, zum Nähen und Stricken tauglich, zum Kochen und Waschen. Hatte ein junger Mann einen Schnurrbart und eine Anstellung, so durfte er aus der Mädchenrasse eine Braut wählen. Führte sie dann eine Zeitlang spazieren, artig, aber langweilig, an seinem Arm, als ob sie hinfällig wäre ohne männliche Stütze. Waren endlich eigene Möbel angeschafft, so wurde geheiratet, und es hieß: »Nun ist sie unter die Haube gekommen.« Frau war sie alsdann – feminini generis – aber auch schon ziemlich alt.

Näher getreten war ich der Menschenrasse Mädchen niemals – eine Schwester besaß ich nicht, meine Kusinen sah ich selten, und sie hatten nichts Jungenhaftes. Mit sonstigen Mädchen war ich bloß in flüchtige Beziehungen geraten, auf Geburtstagskränzchen, wo fade Zimmerspiele, wie Schwarzer Peter, gespielt[172] wurden. In Magdeburg war's Zeitvertreib für Bengel, Schulmädchen mit Schneeballen zu bewerfen oder, wenn sie Arm in Arm gingen, von hinten dazwischen zu springen und die Kette zu zerreißen. Daß kein Mädchen sich einfallen ließ, dem Missetäter eins hinter die Ohren zu hauen, kam mir sonderbar vor; ich wußte nicht, sollte ich die Mädchen deshalb verachten oder bemitleiden. Jedenfalls begriff ich, warum man sagte »das schwächere Geschlecht«. Den Ausdruck »das schönere Geschlecht« bezog ich nur auf ganz ausgewachsene Mädchen, besonders auf Rosel Funk; auch auf Isolde Kurz, die Tochter des verstorbenen Dichters – auf der Eisbahn hatte ich diese goldzöpfige Walküre bewundert. Mädchen mit kurzen Röcken kamen mir unbedeutend vor – sie hatten spillrige Strumpfbeine und benahmen sich albern.

Wie mir das so durch den Sinn ging, erschien eine Konfirmandin plötzlich an meiner Seite – von einem kleinen Abstecher kam sie die Halde herauf. In der Hand ein Schneeglöckchen, das sie dort gefunden hatte. Dicht bei mir, blickte sie mich strahlend an – sie hatte braune Augensterne und gesundrote Backen. Zwei dicke, dunkle Zöpfe hingen über die Schultern nach vorn. Etwas wie ein Blitz zuckte aus ihren Augen in mein Herz, und das klopfte nun, von süßem Bangen durchschauert. Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoß, und war vollends verwirrt, weil sie mich deshalb stutzig ansah. Peinlich war noch, daß auch Jahn meine Verlegenheit merkte. Er schwieg, und ich glaubte, auf ihn müsse die Konfirmandin denselben Eindruck gemacht haben. »Rechts!« sagte er, als bei einer Kiefernschonung der Weg abzweigte. »Drunte liegt Schwärzloch.« – »Und dahin gehn wir? Ist das ein Dorf?« – »Eine Bierwirtschaft an der Halde. Von altersher gehn die Konfirmande nach Schwärzloch. Mei Vatter sagt, Schwärzloch heißt Swertis-Wald – Heiliktum des heidnischen Schwertgottes.[173] Zu dem seien die Alemannen an ihrem Jugendfescht gewallfahrtet – daraus hab sich später der Konfirmandespaziergang entwickelt.« Es war mir lieb, daß Jahn plauderte – unauffällig konnte ich dabei die Konfirmandin mit den braunen Zöpfen beobachten. Vor mir ging sie nebst den anderen Mädchen und übertraf diese an Stattlichkeit und Rundung der Gestalt, obwohl sie dabei etwas Zierliches hatte. Anmutig war ihr Gang, der leicht in den Hüften wiegte. Mich nach ihr zu erkundigen, wagte ich nicht.

Als wir nach dem Bergwald hinabstiegen, öffnete sich der liebliche Blick ins besonnte Ammertal und auf die terrassenförmig gebauten Höhen jenseits. Hüben auf einem Hügelchen lag Schwärzloch, ein bäurisches Vorwerk mit Scheune und Stallung. Das für Gäste hergerichtete Haus war an die Ruine einer alten Kapelle angebaut, und es gab da verwitterte Steinmeißelungen, Tiergestalten, von denen Jahn behauptete, sie seien aus der Heidenzeit. Das war die Zeit, – dachte ich – in der die Märchen spielen – da kam noch Wunderbares vor. Heutzutage geht alles langweilig nach dem Schnürchen. Ich habe zwar versichert, ich sei ein Christ, passe aber zu den heidnischen Alemannen besser als in unsre Kirche. Ob vielleicht dieser Heidentempel die verlorene Märchenkirche ist? – »Höre mal, Jahn, eine Idee! Wir sollten eine neue Religion gründen! Und solch heimlicher Gott, wie der Swertis hier, sollte verehrt werden.« – Jahn sah mich groß an und nickte. Doch ihm kam das Bedenken: »Wer weiß denn aber Genaues vom Swertis?« – »Das ist ja gerade das Schöne, daß wir nichts Genaues von ihm wissen. Wenn's einen Swertis-Katechismus gäbe, möcht' ich da kein Konfirmande sein. Ich liebe das Geheimnisvolle.«

Ueber die weiteren Vorkommnisse dieses Tages weiß ich nichts zu berichten, als daß wir an Brettertischen saßen, daß die Mädchen Milch tranken, die Knaben Most oder ein kräftiges[174] Bitterbier, zu dem das dunkle Brot mit Backsteinkäs mundete. Volkslieder wurden angestimmt, Witze gerissen, kindische Faxen gemacht. Den Uhu und den Affen, die in Käfigen zur Schau gestellt waren, neckten die Konfirmanden. Das braunäugige Mädchen stand auch dabei, aus einem Zuruf entnahm ich, daß es Rickele hieß. Und dachte an Justinus und sein Rickele. Die hatten sich ja auch bei einer geheimnisvollen Kapelle gefunden.

Die Flasche Bier, die ich getrunken hatte, war mir zu Kopfe gestiegen, ich lärmte mit den andern. Als wir bei Sternenschimmer heimgingen – diesmal im Tal – bildeten Knaben und Mädchen bunte Reihe, Arm in Arm, zwei lange Ketten. Durch Johlen, durch Hin- und Herwanken nach Art der Angesäuselten und durch Zigarren, die von Halbwüchsigen gepafft wurden, glaubte man, den Erwachsenen näher zu sein. Ich war so albern, durch flegelhaftes Benehmen, das mir männlich vorkam, meiner Braunäugigen auffallen zu wollen. So schloß meine Konfirmation in recht weltlicher Weise.

Einen weltlichen sowohl wie einen geistlichen Teil hatte auch die bald folgende Abendmahlsfeier. Das weltliche Abendmahl bestand darin, daß die am Portal der Stiftskirche versammelten Konfirmanden gemäß einer alten Stiftung Weizengebäck erhielten. Aus Körben wurden jedem Erschienenen ein paar Wecken gereicht, und sogleich biß er tapfer hinein.

Der folgende Sonntag brachte das kirchliche Abendmahl: Leib und Blut ihres Heilands sollten die Eingesegneten genießen. In meiner Erinnerung sind folgende Erlebnisbilder geblieben: Da meine Mutter behauptete, das Abendmahl solle man nüchternen Magens nehmen, genoß ich als Frühstück nur Pfefferminztee mit Milch. Das Abendmahl, das ich mit Spannung erwartete, wurde vor dem Altare gereicht, und zwar von zwei Geistlichen. Von einem wurde dem Teilnehmer ein kleines[175] Gebäck in den geöffneten Mund gelegt. Es schmeckte pappig, war eine Oblate, wie man sie zu damaliger Zeit auch als Briefverschluß anwandte. Der andere Geistliche hielt einen schweren Kelch aus blankem Metall hin – daraus nahm der Andächtige einen Schluck. Mir kam der Wein süß und feurig vor, und ich tat ein paar herzhafte Züge, als ob es gelte, auf diese Weise meinen Eifer zu erweisen. In langen Reihen traten die Teilnehmer zum Altare, und wenn einer die Spendung erhalten hatte, war gleich der nächste da. Inzwischen hatte der Kirchendiener mit dem weißen Tuch den Rand des Kelches abgewischt. Fortwährend sprachen die Geistlichen bei der Darreichung die Formel: »Nehmet hin und esset, das ist mein Leib, der für euch gegeben wird – solches tut zu meinem Gedächtnis. Desselbigen gleichen nahm er auch den Kelch, dankte, gab ihnen den und sprach: Nehmet hin und trinket alle daraus – dieser Kelch ist das Neue Testament in meinem Blut, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Solches tut zu meinem Gedächtnis.«

In einem Taumel frommen Staunens hatte ich das Abendmahl empfangen. Eine geheimnisvolle Gefühlswoge durchflutete nebst Orgelsäuseln das Gotteshaus. War das der Heilige Geist? – Lebendig ist mir noch die Gestalt meines Schreiblehrers, des Herrn Kleinfelder. Vor dem Tisch des Herrn neigte er sich fortwährend in frommem Eifer – so daß der Geistliche Mühe hatte, den Kelch an seinen Mund heranzubringen. Ein wunderlicher, aber auch rührender Anblick.

Am Abend des Tages hatte ich einen Gang durch die Stadt. Wie ich an den Altar dachte, wo ich heute gestanden, kam mir eine der Bibelstellen in den Sinn, die Eindruck auf mein Gemüt gemacht hatten: die Geschichte von Paulus in Athen. Wie er einen Altar fand mit der Aufschrift »Dem unbekannten Gotte« – wie er dann, von dieser Idee begeistert, zum Volke redete:[176]

»Nun verkündige ich euch denselben, dem ihr unwissend Gottesdienst tut.« Das war nun auch für mich ein andachtsvoller Ausblick – auf ein Geheimnis, tief und schimmernd, wie droben die Milchstraße, zu der ich aus dunkler Gasse emporstarrte. Dann fiel mein Blick auf die finster ragende Stiftskirche, an deren Altar ich heute getreten war, einen Gott suchend, der mir unbekannt blieb, obwohl ich so sicher meinen Katechismus hergesagt hatte. Oder war er mir doch nicht ganz unbekannt? Hatte nicht heute der Prediger gesprochen, Gott sei die Liebe? Etwas von ihrem heiligen Schauer hatte schon das Herz des Kindes berührt. Hingebend staunte ich zur ewigen Sternenhalle empor. Und hörte den Apostel predigen: »Wohlan, ihr Männer von Athen! Nicht in Tempeln hat Gott seine Wohnung, nicht in Bildern von Stein, nicht in Formeln der Menschen! Sondern Gott ist unseres Herzens reine Sehnsucht. Wir sind göttlichen Geschlechts – und sollen seine Kinder sein – in ihm leben, weben und sind wir.«

Was solche Worte ausdrücken, war dem Knaben nicht bewußt, war Gefühl, Ahnung. Erst auf der Höhe meines Lebens ist mir klar geworden, inwiefern ich mich als Konfirmand keinem Katechismus-Gotte, sondern dem Unbekannten konfirmiert und einverleibt fühlte. Alles Bekannte hat etwas Enges, Gewöhnliches, doch meine Sehnsucht suchte eine Lebendigkeit, die übers ärmlich Beschränkte hinausflutet ins wunderbar Unergründliche. Am Altar des unbekannten Gottes fleht das Erdenkind, eins mit ihm zu werden, ratlos, wie das könne geschehen. Und sieh, der sonst Unfaßbare steigt zur Erde nieder; als Speise dem Geschöpf eingefleischt, will er's in seine Ewigkeit einverleiben, emporreißen zur himmlischen Heimat.

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 170-177.
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