Die Insel Kreta

[177] Es kam dahin, daß der Glasberg, den ich bisher nur von der romantischen Seite gesehen hatte, mir bösartige Wirklichkeit erschien: das Pennal ist ein Glasberg, droben lockt die Prinzessin Freiheit, zu ihr streben alle Pennäler, doch mancher gleitet die glatte Fläche hinab. – Seit mir dies Schreckgespenst vor Augen stand, war's sogar mit der geringen Aufmerksamkeit, die ich dem Unterricht noch gewidmet hatte, vorbei. Dumpf und stumpf starrte ich auf mein Verhängnis. Schließlich wollte ich meine Sorge nur vergessen. Und stürzte mich von neuem in die Arbeit an meinem Epos. Während die Klasse brav dem Lehrer folgte, schmiedete ich Reim auf Reim und kritzelte die Verse auf den Zettel, den ich unter der Bank oder im Cäsar verborgen hielt. Wurde ich plötzlich gefragt, so benahm ich mich wie einer, der aus Traum erwacht, und konnte selten befriedigende Rede stehen.

Keinem Lehrer kam in den Sinn, es sei angebracht, in die Eigenart einzelner Schüler einzudringen. Nach der äußeren Schablone urteilten sie. Die Fehler, die jeder machte, wurden zusammengezählt, und hiernach fielen die Noten aus. Geradezu erpicht waren die Lehrer darauf, durch Ausfragen den Schüler aufs Glatteis zu führen und möglichst oft purzeln zu lassen. Wie blödsinnig diese Methode ist, empfand ich, seit ich Herrn Hainlins Unterricht genossen hatte. Er war beflissen, Fehler zu verhüten und, wo sie auftraten, des Uebels Heilung von[178] Grund aus anzubahnen. An des Zöglings schöpferische Kräfte wandte er sich, an seine Freude und Freiwilligkeit; niemals ging er unterdrückend, stets entwickelnd vor. Sein Einfluß wurde als Wohltat empfunden, als Anregung zum Lichten und Guten, das in der jungen Seele gedeihen möchte. Drum vergötterte ihn sein kleiner Schülerkreis. Aber Hainlin war ja nun Soldat in Stuttgart – bitter vermißten wir ihn, ich kam mir recht wie ein Schaf ohne Hirten vor.

Wendelin hatte sich meiner angenommen und mir des öftern lateinische Grammatik erklärt. Die Früchte waren nicht ausgeblieben, mehrere schriftliche Arbeiten leidlich ausgefallen. Auf den Rechenlehrer und besonders auf den tonangebenden Naso setzte ich Hoffnungen. Da geschah etwas, das meinen Abrutsch vom Pennal-Glasberg unaufhaltsam machte.

Mein Epos war bis zu jener Stelle gediehen, wo der bunte Vogel dem Ritter eröffnet, er müsse aus dem Garten der Prinzessin den silbernen Apfel holen. Die Strophe, an der ich arbeitete, sollte mit den Worten schließen:


»Den Silberapfel mußt du holen, Mensch.«


Einen Reim auf »Mensch« indessen fand ich nicht, wie ich auch grübelte. Zu helfen suchte ich mir durch Umstellung der Worte und notierte:


»Greif zu, o Mensch, und brich den Silberapfel.«


Doch abermals stand ich wie der Ochs am Berge – auch auf Apfel gelang kein Reim. Wohl gaukelte mir etwas von »Krapfel« vor, doch diese Wiener Leckerei ließ sich in meinem Epos nicht anbringen. Während ich sonst spielend reimte, war diesmal mein Schädel wie vernagelt. Auf einmal glaubte ich einen Ausweg aus der Klemme gefunden zu haben – von neuem wendete ich die Worte:


»Den Apfel hole, Mensch – er ist von Silber.«
[179]

Es reizte mich, das malende Wort Silber als Reim zu verwenden. Aber zum Kuckuck, auf »Silber« wollte sich ebenfalls nichts reimen. Ich konnte doch nicht sagen:


»Sind auch des Baumes Blätter gelb und gilber.«


Für solch elenden Lückenbüßer hätte ich das Los des Marsyas verdient. Silber! Silber? Gibt es denn sonst kein Wort auf ilber? Himmel! Sollte Zuckerbeck, unser neuer Deutsch-Lehrer, den wir nach einem Stück im Lesebuch mit dem Spottnamen Adrast nannten, das schwächliche, rotlockige Männchen, am Ende recht behalten mit seiner Behauptung, es fehle mir an Phantasie? Er hatte es behauptet, weil ich nicht genug »blumige« Redensarten im Aufsatz anbrachte, wozu er uns abgerichtet hatte.

Ich war eine geknickte Lilie und starrte vor mich hin. Geradezu auf die große Landkarte, die neben der schwarzen Wandtafel hing. Ein Atlas war's der Alten Welt – hauptsächlich das Land der Griechen und die Heimat der Römer darstellend. Ich betrachtete die italienische Halbinsel und fand von neuem bestätigt, daß ihr Umriß – wie jeder Schüler weiß – eine verblüffende Aehnlichkeit mit einem Reiterstiefel hat. Dann stellte ich fest, die griechische Halbinsel Morea sei einem Maulbeerblatt ähnlich.

Im Süden liegt die Insel Kreta – berühmt durch ihr Labyrinth, dem der erste Flugkünstler Dädalus auf dem Luftwege entfloh. Mein Labyrinth war das Pennal, und aus dem gab's für mich einstweilen kein Entrinnen – der Luftwagen mit den Lämmergeiern war ja noch nicht konstruiert.

Uebrigens war die Insel Kreta noch durch etwas anderes berühmt: durch eine Scherzfrage, die beim Studium der Logik gern erörtert wird – sie lautet: »Alle Kretenser sind Quatschköpfe, behauptet einer, der aus Kreta ist – was folgt daraus?«[180]

Hat er die Wahrheit gesagt, so ist er selber ein Quatschkopf, und dann ist es unwahr, daß alle Kretenser Quatschköpfe sind. Folglich hat er vielleicht recht mit seiner Behauptung – dann aber sind doch alle Kretenser Quatschköpfe ...

Aus diesem geistigen Labyrinth kommt man nicht heraus.

Sinnend betrachtete ich die Insel Kreta. Einem liegenden Männchen ist sie ähnlich – und seht doch: Dies Männchen hat eine knollenhafte Nase – wie unser Naso! Donnerwetter ja! Ist das nicht Naso, wie er leibt und lebt? Sogar die Warze auf der Nase deutlich zu erkennen! Eine Schirmmütze hat er auf, wie sie Naso in seiner Häuslichkeit trägt. Es stimmt der Hals mit dem vorspringenden Kehlkopf, es stimmt die Geschwulst am Nacken – stimmt der zugeknöpfte, schlappe Gehrock. Und genau wie Naso hat diese Inselgestalt den Unterarm auf den Rücken gelegt. Meine Entdeckung versetzte mich in eine Lustigkeit, daß ich kaum imstande war, mein Gelächter im Taschentuch zu ersticken – was Nasos Mißtrauen erregte. O, wenn er geahnt hätte, welch einer ketzerischen Phantasie ich huldigte!

Kaum war die Stunde zu Ende, so schlug ich meinen »Atlas antiquus« auf, zeichnete die Insel Kreta genau ab und darunter das Konterfei Nasos. Hinzu schrieb ich noch boshafte Worte:

»Die Insel Kreta, wo es lauter Quatschköpfe gibt, sieht so aus:«[181]


Die Insel Kreta

»Wer aber hat mit ihr bedenkliche Aehnlichkeit


Die Insel Kreta

Als meine Mitschüler das sahen, brachen sie in Gewieher und Freudengeheul aus – ich war der Held der Klasse, und mein sonst gedrücktes Selbstbewußtsein schoß auf einmal derart ins Kraut, daß ich an mein Sitzenbleiben nicht mehr glaubte.

Doch das Unheil schreitet schnell. Als zwei Stunden später der Saubock Unterricht erteilte, kam es mir verdächtig vor, daß er mich wiederholt mit lauerndem Blick streifte. Sollte er von meiner Zeichnung wissen? Es wäre möglich gewesen, da sie in der Pause auf die Pennäler eine Anziehungskraft ausgeübt hatte, wie Käse auf Fliegen. Statt nun die Zeichnung zu verstecken, behielt ich Schaf sie im Lesebuch und lugte sogar von Zeit zu Zeit hin, mich daran weidend. Plötzlich schoß der Saubock auf mich los, nahm mir das Lesebuch weg und fand die Zeichnung. »Aha!« triumphierte er – »jetzt hänt mer's Mäusle in der Falle, gelt du?« Grinsend betrachtete er das Konterfei, trat sogar vor die Landkarte hin, um es mit der Inselgestalt zu vergleichen, und kicherte in sich hinein, daß ihm der Bauch wackelte. In der Klasse war niemand, der diesem Schein von Nachsicht getraut hätte.

Naso, der andern Tages mündliche Prüfung der einzelnen Schüler veranstaltete, ließ nicht merken, daß er etwas wisse von meiner Karikatur – nur daß er mir besonders schwere[182] Lateinstellen zum Uebersetzen aussuchte und die Prüfung in der Geschichte, die für mich ungünstig ausfiel, mit der Bemerkung schloß: »Ja ja, so geht's! Mit Ammonshörnle ond so vorsündflutliche Sächle weiß er Bescheid! Kein Wunder, daß die Sündflut, wenn sie hereinbricht, grad ihn verschlingt ... Setz dich, Wille!«

Gramvoll berichtete ich meiner Mutter und fügte hinzu, ich sei krank, das Herz tue mir weh, und wenn ich sitzenbleibe, wolle ich gar nicht mehr in die Schule gehen. – »Und was soll dann aus dir werden? Dein Vater meint, zum Landpastor könntest du's allenfalls bringen. Aber wenn du solche Abneigung vor der Schule hast, kommst du nicht zum Studium.« – »Pastor will ich nicht werden – ich bin ein Heide.« – »Heidenmäßig dumm bist du, das stimmt! Es wird dir nichts übrig bleiben, als Schuster oder Schneider zu werden. Deine Versmacherei ist eine brotlose Kunst. Ein Dichter, der nicht wenigstens den Doktor hat, bringt es zu nichts.«

Nach vielem Hin- und Herreden kamen wir dahin überein, daß ich die paar Tage bis zum Schulschluß nicht zur Schule zu gehen brauchte. Ein Stein war mir vom Herzen. Die geringschätzigen, ja schadenfrohen Blicke, die einzelne Mitschüler und Lehrer für den Durchgefallenen haben, blieben mir erspart.

Krank fühlte ich mich tatsächlich. Zu meiner Stärkung wandte die Mutter ihr Hausmittel an: Eigelb mit Zucker in Rotwein. Hiervon angeregt, saß ich am Tage des Schulschlusses am Fenster und brütete über dem »Poetischen Hausschatz«, einem Lieblingsbuche, dessen kleiner Druck zu meiner Kurzsichtigkeit beigetragen hat. Träumerisch ließ ich den Blick über Garten und Neckar schweifen. Die Platanen waren noch winterlich kahl, während an den Uferweiden schon Silberkätzchen hingen.[183]

Aus meiner Hingabe an das Lesen schreckten mich Rufe auf, Stimmen, die ich kannte. Ein paar Mitschüler standen drüben am Neckar – sie hatten mich am Fenster sitzen sehen – und Wursterle rief mir höhnisch zu: »Wille! Ssaupreiß! Sitzebliebe bischt! I bin versetzt!« – Wie ein Dolchstoß traf mich das – von Schmerz durchkrampft, zog ich mich vom Fenster zurück. Aber die Boshaften hatten mich erkannt, lachten und gröhlten:


»Hinter meinem Schwiegervatter

Seinem graußa Segredähr

Steht a dicker Eichaprügel –

Wenn der no beim Teifel wär!«


Die Tränen schössen mir hervor – verzweifelt warf ich mich auf das Sofa.

Gleich darauf schellte die Klingel unserer Wohnung – ich hörte Ulis Stimme, er sprach mit meiner Mutter –, sie antwortete kläglich. Rasch trocknete ich meine Tränen, aber es traten die beiden schon zu mir herein und sahen auf den ersten Blick, daß ich Bescheid wußte. »Siehst du, Bruno!« schluchzte meine Mutter, indessen Uli männlich auf mich zutrat und mir ebenso gutmütig wie fest die Hand drückte: »Nimm dir's net weiter zu Herze, Brunole! Kopf hoch! Wenn's auch recht schad ischt, daß mr net in derselben Klass' bleibe!« – »Ich hab's kommen sehn,« jammerte die Mutter – »aber der Junge wollte nicht auf mich hören, wenn ich sagte: Nimm die Grammatik vor! Latein bringt dich zu Falle!« – »'s Latein war bei ihm ganz erträglich – wenikschtens zuletzt – beim Herrn Hainlin hat er seine Lücken ausgefüllt. Ond überhaupt – er hätt versetzt werde müsse, wenn's mit Gerechtikkeit zugange wär.« – »Sie meinen also ...?« Mit Sie pflegte meine Mutter Uli anzureden. Und nun legte er Dinge dar, die er vom Pedell, bei dem er ja wohnte, in Erfahrung gebracht hatte:[184] In der ersten Versetzungskonferenz sei beschlossen, es sollten zwei sitzen bleiben – sonst werde in der fünften Klasse, wo unbedingt drei sitzen bleiben sollten, nicht hinreichend Platz sein.

»Was?« trumpfte meine Mutter auf – »weil kein Platz?« – »Eine Bank hänt mr zu wenik! hat mir der Puddel gsagt.« – »Zum Kuckuck, dann muß die Bank eben angeschafft werden!« – Uli zuckte die Achsel: »Bei ons herrscht dr Blödsinn!« – »Das scheint mir wirklich auch! Also weil man zu knaus'rig ist – oder vielleicht die Umstände scheut –, deshalb soll mein Junge in seinem Vorwärtskommen um ein Jahr geschädigt werden? Bedenken die Lehrer denn nicht, daß sie auf diese Weise ein Lebensschicksal ruinieren können?« Uli nickte: »Sie hänt recht, Frau Wille, Sie hänt recht! Ssauerei ischt dees, Gemeinheit!« Meine Mutter, die einen roten Kopf bekommen hatte, schlug die Hände zusammen und sank hilflos in einen Stuhl: »Oh, oh! Was wird Papa sagen zu der Bescherung – oh, oh!«

Während sie vor sich hinbrütete, raunte mir Uli zu: »Was dem Faß den Boden ausgeschlage hat, isch des Bildle gwä, wo du vom Naso g'macht hascht. Der Ssaubock hat's herumgehe lasse in der Konferenz. Ja ja, die Insel Kreta!«

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 177-185.
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