Adelaïde

[112] Das Ammonshorn, von dem Wendelin Flammer so klug zu reden wußte, bildete den Anlaß, daß ich mich zu ihm hingezogen fühlte. Dies um so mehr, als Flammer der Intimus Ritter Ulis war, dem ich Schwärmerei entgegenbrachte. Es freute mich daher, als Wendelin Flammer, im Anschluß an ein Gespräch über Versteinerungen, mich einlud, ihn zu besuchen. Ein Buch wolle er mir zeigen, das auch die Ammoniten behandle. Es heiße Evangelium der Natur, setze also der Bibel die Offenbarung der Natur entgegen. Er lese dies Buch heimlich – sein Onkel, katholischer Pfarrer, dulde keine Ketzerei. Der möchte ihn geistlich machen, doch ihm passe dieser Beruf nicht, er wolle Mathematik und Naturwissenschaft studieren. Ich solle – sagte Wendelin – gleich nächsten Samstag kommen. Da sei auch Herr Hainlin anwesend, und es werde musiziert. Ich erfuhr noch, daß Wendelin keine Eltern mehr habe und mit seiner Schwester Pia bei der Witwe Häfele wohne. Verdrossen erwähnte er, Pia habe sich in den Kopf gesetzt, Nonne zu werden. Aber er und Uli hätten sich zugeschworen, sie davon abzubringen.

Die Nachhilfestunde, die ich am Samstag hatte, schloß Kandidat Hainlin: »So, Büble! Bischt erlöst! Ins Ränzle mit Buch ond Heft! Komm jetzt zu unsrer Frau Musika, gelt? Ganget mr zom Wendelin! Von der Adelaïde zu schwärmen – kennscht du dees Tongedicht, dees wunderbare, vom Beethoven?[113] Text von Matthisson.« Und aus einem Stoß Noten suchte Hainlin die Blätter. »Eigentlich soll das Lied gesungen werden – aber Wendelins Schwester hat 'ne zu leise Stimme. I selber möcht scho singe, aber mein Organ reicht net aus. Dafür soll jetzt die Flöte her. I han dees Lied für Flöte, Gitarr und Harmonium bearbeitet. Heute wolle mer probiere, ob's klingt.«

Hainlin hatte seine Flöte in eine Wachstuchhülle getan, und da ich bereit war, gingen wir die Stiegen hinab. Das Haus, wo Flammer wohnte, war unweit gelegen, in der Münzgasse, wo ihre wallartige Höhe zum Neckartal abfällt. Ein altertümlicher Bau von gediegener Eigenart. Ueber dem Rundbogen der eisenbeschlagenen Haustür sind zwei Wappenschilde aus Stein – das eine führt ein Winkelmaß, das andere einen Stern. Nicht in einen Hausflur traten wir, sondern auf die Plattform einer Steintreppe. Vom Vorderhaus überbaut, war sie nach dem Hof ohne Wand, so daß dieser zur Schau lag wie eine Theaterbühne. Was ihn besonders traulich machte, war ein vollgewipfelter Nußbaum, unter dem die Bank zum Träumen einlud. Den breiten Rahmen dieses Stillebens bildete das schwarzbraune Gebälk des Treppenüberbaus. »Den Blick da han i jedesmal gern,« sagte der Kandidat, und wir gingen die Treppe hinab zum Hof.

Aus offenen Fenstern, auf deren Blumenbrettern Geranien glühten, erklang ein sanftes Zusammenspiel von Harmonium und Gitarre. Der Kandidat lauschte, dann rief er hinauf: »Flotter!« Gleich darauf erschien Wendelin Flammer und gab Herrn Hainlin herzlich die Hand, auch mir: »Grüß Goot!« – »Am Tempo fehlt's!« mahnte der Kandidat – »Fräulein Pia soll net elfenhaft zirpe – sondern au Temperament ... E Jungferle von Sechzehn kann doch scho Leidenschaft entwickele – gelt, Pia?« Das Mädchen, das gleichfalls heruntergekommen[114] war, errötete. Ihres Bruders Zierlichkeit hatte sie – dazu etwas rührend Kindliches, um den holden Mund einen wehmütigen Zug. Ich fühlte, wie mir das Blut ins Gesicht schoß, als mich ein Blick ihrer Rehaugen streifte, während der Kandidat meinen Namen nannte. »Setz dich onter den Nußbaum, Bruno! Vielleicht, daß dir beim Zuhören ein Ahnhauch kommt vom göttlichen Beethoven.«

Nach oben gingen die drei, während ich unterm Baume Platz nahm. Eine der Steinplatten, die den Hof bepflasterten, war ausgehöhlt zu einem Wassertröglein für Enten und Hühner – weil aber solch Nutzgeflügel zurzeit fehlte, zu einem kleinen Aquarium hergerichtet, vom Naturfreunde Wendelin. Farne hoben ihre lichtgrünen Wedel, es regte sich was im Wasser. Als ich beobachtend saß, kam ein Spatz, zu trinken und zu baden. Eine Dohle, deren Flügel beschnitten waren, hüpfte herbei und vertrieb mit eiferndem Schnabel den Eindringling. Deutlich war zu vernehmen, was der Kandidat im Musikzimmer verhandelte: »Alle Kunscht ischt Ausdruck der Seele! Ond der kann bloß glücke, wo's Innerliche sich durchringt zur äußern Gestaltung – wie die Blüte ihre Knospenhülle sprengt. Also, Kinder! Erfasset jetzt das Erlebnis, das onser Dichter meint: Einsam wandelt Adelaïdes Freund im Frühlingsgarten – mild von lieblichem Zauberlicht umflossen, das durch wankende Blütenzweige zittert: Adelaïde!« Er hatte das singend gesprochen mit seiner wohlklingenden Stimme. Um auch rein musikalisch den Ausdruck anzudeuten, erklang nun seine Flöte. Bebend schwollen die Töne – Sehnsucht wogte und wuchs, als lohe eine Feuersbrunst in weiten Nachthimmel. Das Gedicht malte die Kette der Alpen. Schneeberge erglühn im Sonnenuntergang – Goldgewölke. Abendlüftchen im zarten Laube flüstern, Silberglöckchen des Mais im Grase säuseln, Wellen rauschen und Nachtigallen[115] flöten: Adelaïde! Wie dann der Himmel dunkelt, ragen in blaue Nacht die Zypressen eines Friedhofs, und Sterne glimmen wie zärtliche Augen. Engel sind die Sterne, und es neigt sich ein Engel über den Grabhügel, zu küssen die Blumenknospe, die ihren Purpurkelch öffnet: Adelaïde!

Im kühlen Hofe war's lauschig unter dem Nußbaum, der mich mit grüner Dämmerung umfloß, während im höchsten Wipfel Sonnengold träumte. Es jauchzten Schwalben, die von oben in den Hof schossen und die Wände entlang streiften. Wenn die Musik eine Pause machte, regten sich flüsternd die duftigen Nußbaumblätter. Zuweilen unterbrach Hainlin die Musik, – im Eifer wurde seine Stimme befehlerisch: »Mit Glut, Pia!«

Allmählich hatte jeder seine Partitur ziemlich beherrschen gelernt, und nun erfolgte das Zusammenspiel. Daß Musik imstande sei, derart zu bezaubern, hatte ich zuvor nicht gedacht. In eine andere Welt war ich versetzt, in Gefilde von himmlischer Klarheit.

Dann kamen die drei Musikanten in den Hof und setzten sich zu mir. Als sie fragten, ob mir's gefallen habe, nickte ich in wortloser Begeisterung.

Frau Häfele, eine behäbige Alte, brachte ein Körbchen Kirschen: »Jetz probieret onser Gwächs, Herr Kandidat! So fromm hänt ihr musiziert – beim Lausche han i mei Rosenkränzle hernemme müsse. Dees Ave sollt in onserer Kirch zom Vortrag komme!« – »Hoho, Frau Häfele! Dafür tät sich euer Pfarrer bedanke. Weltliche Musik ischt dees, e Liebeslied.« – »Liebeslied?« staunte Frau Häfele einfältig. »Hänt Sie denn net gsunge: Ave Maria?« – »Adelaïde! Net Ave Maria! Aber die benedeite Himmelskönigin hat an der Adelaïde ihr Wohlgefallen. Für euch Katholiken heißt sie Maria – für mich Frau Musika. Lebt in Gottes Herzen und ist aller Musen göttliche Mutter. Demgemäß hänt die alten Griechen in ihren Schulen viel auf[116] Musik gehalten. Wer die Harmonie der Töne liebt, wird für den Einklang der Seele ond der ganzen Welt empfänglich – ond waas die Menschen heilik nennen, ischt eigentlich nicks als e bsondere Erscheinung des einen Einklangs, des göttlichen ...«

»Piale,« warf Frau Häfele dazwischen, und ihre Miene war bedenklich, »geh gschwind! 's Tellerle han i vergesse für die Kirschestoi.« Als Pia gegangen war, eiferte die Alte: »Aber, Herr Kandidat! 's Piale hat noch ihren Kinderglaube, gottlob! Aber guet kann ihr's net tun, wemmer die Musik mit onsrer Gottesmueter gleichstellt – wo doch in der Musik allerlei Weltlichs vorkommt, wie Walzer ond so Sächle.« – »Ha, om Gotts wille, Frau Häfele! Von mir aus wird niemandem e gueter Glaube gnomme, ond net ärmer soll's Menschenherz werde, nur reicher – net wirr ond trüb, sondern klar ond schön.«

Wendelin blickte düster auf Frau Häfele und nagte an seiner Lippe.

Pia kam mit dem Teller – Frau Häfele suchte dem Gespräch eine Wendung ins Harmlose zu geben. »Gelt, Piale? Morge beim Onkel hat's bessere Kirsche – die pflückt mer vom Bäumle glei ins Schnäble.« – »Also geht's morge nach Wurmlinge? Solltescht den Bruno mal mitnemme, Wendelin!« – »Ha, freili!« sagte Wendelin herzlich zu mir. »Komm morge mit!« – »Danke! Morgen soll ich mit den Eltern gehn.« – »Also ein andermal,« meinte der Kandidat. »Wurmlinge ischt ebbes für den Bruno – der schwärmt romantisch. Wenn der auf dem spitzen Hügel die Kapelle sieht, kommt sie ihm vor wie sein Glaasbergle.«

Die Anspielung auf meine Träumerei vom Epos ließ mich erröten. »Waas für e Glaasbergle?« fragte Wendelin. Meine Verlegenheit bemerkend, antwortete der Kandidat: »Dees bleibt onser Geheimnis – gelt, Brunole?«[117]

Frau Häfele, der nicht entgangen war, daß ihre Mahnung, Pias religiösen Glauben nicht zu stören, verstimmend auf den Kandidaten gewirkt hatte, sagte versöhnlich: »Ond gelt? Herr Kandidat – auf den Kirscheschmaus folgt e Ohreschmaus. Tun's ons noch e bißle flöte!«

Der Kandidat hob die Querflöte an den Mund – sie war aus schwarzem Holz mit silbernen Klappen. Er blies eine wehmütige Volksweise – dabei zogen sich seine goldigen Augenbrauen an der Nasenwurzel wehmütig in die Höhe. Phantasierend ging er in die Melodie der Adelaïde über – dem Hauchen hingegeben, als wolle seine Seele in die Unendlichkeit fluten, zum Herzen Gottes. Wie der letzte Ton verzittert war, träumten die Vergißmeinnicht-Augen dem Entschwebenden nach, und sanft sprach der Jüngling:


»Einst, o Wunder, entblüht auf meinem Grabe

Eine Blume der Asche meines Herzens,

Deutlich schimmert auf jedem Purpurblättchen:

Adelaïde!«


Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 112-118.
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