Bertas Glasbergle

[108] Als wir bei Hainlin anklopften, war nicht er im Zimmer, sondern die Tochter seiner Wirtin, die kleine blasse Berta Schneckle. Bei'nem Eimer kniete sie auf der Diele und wischte auf. Daß wir sie überraschten, machte sie verlegen.

Uli sagte, wir möchten net stören, Herrn Hainlin hätten wir gern gesprochen. »Der Herr Kandidat« – entgegnete sie – »kann jeden Augenblick komme.« – »Wir möchten ihm eine Bitt vortrage,« fuhr Uli fort – »Sie errate wohl, welche...« Traurig schlug Berta die Augen nieder.

»Gelt, Fräulein Schneckle? Ihne geht's au nah, daß 'r uns verlasse will!« – Schmerzlich verzog sich ihr schmaler Mund – in der Schürze barg sie ihr Gesicht. Dieser Schmerz wirkte ansteckend. »Oh!« stöhnte ich – »Scha-Schafe sind wir – oh – ohne Hirten!« In mein Jammern stimmte Uli ein – dumpf und rauh war seine Stimme: »Unsern Meischter, den solle mr verliere? Sind wir net seine Jünger?« – »Oh – hu – huh!« schluchzten wir drei zusammen.

Da ging die Tür auf, Hainlin stand vor uns. »Aber – Kindle!« begütigte er – mit beiden Händen nach Bertas Köpfchen greifend, als wolle er's zurechtrücken. Sie erhob die nassen Augen und lächelte weh. Das unansehnliche Mädchen kam mir auf einmal verklärt vor. Ich sah nicht die schwächliche Gestalt mit der schiefen Schulter – sah nur das engelhaft-zärtliche Auge und fühlte mich ihr verbunden durch unsere Liebe für Hainlin.[109]

Dieser wandte sich zu mir und Uli mit weichem Lächeln: »Ond ihr, Büble? Weswege ihr da seid, braucht ihr net zu sage. I dank euch! Aber macht net so Gschichte! Macht mir's Herz net schwär! Aendern läßt sich dooch nix! Gemuschtert bin i scho – Oktober bin i Rekrut – Sela!« Diese Aeußerung seiner Entschiedenheit hatte eine Wirkung, wie wenn einem, der Zahnweh hat, mit 'nem Ruck der Zahn ausgerissen ist. Gefaßt blickten wir auf. Und des weitern ermunterte Hainlin: »Wenn i scho jetzt den bunten Rock ahnzieh, bin i ein Semeschter früher zrück. – Ohnangnehmes soll mr sich rasch vom Hals schaffe, gelt?« – »Ond nach Ihrem Jahr, Herr Hainlin?« fragte Berta hoffend – »komme Sie na wieder zu ons?« – »Uebers Jahr, übers Jahr, wenn mr Träubele schneidt!« scherzte Hainlin. »Aber so lang brauche mr net z' warte! Stuggart liegt net aus dr Welt – in fünf Stonde lauft dr Uli durch den Schönbuch – mit 'm Zügle hat mr's no viel kürzer ond ganz bequem, gelt, Bertale? So mach i glei jetzt den Vorschlag, ihr Kinderle: Sonntags, wenn mei Hauptma Urlaub gibt, marschier i Tübinge zue – ihr aber kommt mir entgege – ond in Waldebuch treffe mr ons! Im Gaschthaus zur Krone! Am runde Eichetisch, wo viel Musensöhn ihrer Flamme Namen eigschnitte hänt ... Glaube, Liebe, Hoffnung – gelt?«

Wir wollten nun Herrn Hainlin nicht länger behelligen und verabschiedeten uns.

Als wir durch die Gassen gingen, erkundigte ich mich bei Uli nach Berta Schneckle. Ob sie schon konfirmiert sei? – »Ha freili! Sie ischt scho siebzehn Jahr – schaut allerdings zurückgeblieben aus, schmächtik.« – »Sie ist wohl kränklich? Ihr Rücken scheint verkrümmt zu sein.« – »Ja, 's arm Dingle hat sich verletzt – ischt gfalle! Hätte bald's Leben verlore. Ond dees ischt so komme: In ihrem zwölften Jahr ischt's Bertale zu[110] Besuch beim Großmütterle gwä, die wohnt im Gäßle da nooch drbei – mr wolle durchgehe, gelt? Na zeig i dir, wo's Bertale abgestürzt ischt.« – »Abgestürzt? Hoch herunter?« – »Vom Hausdach! 'em Bertale sei Großmueter wohnt im dritten Stock, gegenüber steht e Häusle mit zwei Stockwerk, ond im Dach hat's noch e Wohnung, Frau Pfeifer wohnt da mit ihrem Kindle. Diesmal war sie fort – ond's vierjährige Mariale allei z' Haus. Jetzt waas gschieht? ... Aber da hänt mr ja die Gaß! Jetzt lueg, die zwei Häusle strecken ihre Köpf so weit vor, daß sie enander fascht berühre. Drobe rechts wohnt's Bertales Großmueter – links aber, schau dees Dachgärtle! Die Käschtle vor dene Fenschterle? Da wohnt die Familie Pfeifer.«

Ich beschaute die Situation. Drei aus dem Dach vorspringende Fenster, außen durch wagerechte Bretter verbunden – die entstandene Plattform bildet ein schwebendes Gärtlein. Aus Kästen, die mit Erde gefüllt sind, wachsen Bohnen, rotblühende Kresse und blaue Winden. Holzstänglein mit Fäden gewähren zwar den Gartenpflanzen Halt, nicht aber einem Menschen, wenn er sich anklammern wollte. Nur wer sich schwindelfrei fühlt, kann droben verweilen. »Und von da ist die Berta ...?« fragte ich beklommen. Uli nickte: »Nämlich wie die Pfeifersleut fort sind, klettert's Mariale vom Stuhl aus 'm Fenschter aufs Dachgärtle, wohin sie dr Vatter öfters mitgnommen hat. Die Blümle hat sie gern – munter spaziert sie herum, ohne die Gefahr zu ahnen. Bertas Großmueter sieht's auf einmal – schreit auf – Berta springt die Stiege nunter ond zu Pfeifers 'nauf. Findet aber die Wohnung abgsperrt, den Schlüssel hat Frau Pfeifer mitgnomme. Waas tun? Die Großmueter lauft zum Schlosser. Berta ruft dem Kinde zu: ›Glei gehscht zom Fenschter 'nei! In die Stub zruck!‹ Mariale lacht bloß. Da weiß sich Berta net anders Rat, als e Bügelbrett zu nemme ...« – »Bügelbrett?[111] wozu?« – »Dees tut sie zom Fenschter 'nausschiebe – zom Dachgärtle 'nüber – ond wagt's, auf'm Brückle 'nüber zu krac ksle ...« – »Um Gottes willen! und?« – »Abgerutscht ischt 's Brett – ond 's Bertale ... e Glück noch, daß unte grad e Wägle Klee gstande ischt. Da drauf stürzt die Berta. Ond schlagt mit der Schulter aufs Holz – dr Knoche bricht.« – »Oh! Die arme Berta!« – »Ja, aber weiter hat's ihr nicks gmacht.«

»Die brave Berta! Und 's Mariale?« – »Ischt ruhik weiter spaziert. Mr sagt, onschuldige Kindle behütet ihr Schutzengel. Wie mr's Mariale endlich vom Dach hat hole könne, hat sie gar net zruck wolle ins Stüble, so gut hat ihr's drauße gfalle. Unser Bertale aber hat als Ahdenke die Schulter schief bhalte.«

»Die schiefe Schulter kommt mir jetzt rührend vor. Ein Held ist die Berta, ein rechter Glasbergritter. Zwar abgestürzt ist dieser Ritter, wie die andern auch – seine Tat war aber nicht vergebens, sondern hat was Großes ausgerichtet.« – »Ausgerichtet? Für's Mariale war Bertas Expedition überflüssik.« – »Und doch hat sie gewissermaßen die Prinzessin erlöst.« – »Prinzessin? Wen meinscht? 's Mariale, wie gsagt ...«

»'s Mariale nicht! Die Prinzessin, die Berta erlöst hat, sitzt anderswo als auf'm Dach.« – Nachdenklich sah mich Uli an: »Wo denn?« – Erst war ich verwirrt, ich fand die Worte nicht. Dann pochte ich auf meine Brust: »Hier sitzt die Prinzessin! Ich weiß mich nicht recht auszudrücken. Aber man spürt, daß hier im Herzen etwas erlöst ist durch Bertas Heldentat. Findest du nicht, Uli?« – Er nickte – sein Auge war geweitet, als ob er nach innen schaue und da etwas Großes betrachte: »Hascht recht, ond jetzt rat ich dir, Bruno – tu weiter dichte an deim Epos! Schilder' Bertas Glaasbergle! Stelle klar heraus, welche Prinzessin sie erlöst hat durch ihre Heldentat. Nenn die Prinzessin einfach Menschenseele.«

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 108-112.
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