Auf der Mensur

[58] Aus Anlaß dieser Prositberechnung meldete sich Wurschterle und gab zum besten, wie sich auf spottbillige Weise feinschter Kunschtmoscht bereiten lasse. – Als ich nach Schluß der Stunde mit der Bemerkung herausplatzte, hier im Ländle scheine man's nicht minder hinter den Ohren zu haben als sonst in der Welt, trafen mich flammende Blicke, und: »Ssaupreiß!« hieß es, »hättscht solle in deim Makdeburk bleibe!« Wurschterle wollte witzig sein: »Bei uich heißt mr alle Städt' Burk! Makdeburk! Hamburk!« – »Und bei euch«, erwiderte ich, »heißt man alle Ingen! Tübingen! Reutlingen! Bopfingen! Tropfingen!« Hier bekam ich von Wurschterle einen Rippenstoß, und es wäre zu weiteren Tätlichkeiten gekommen, hätte nicht das Erscheinen des »Pedells« in der Klasse ablenkend gewirkt. Dieser »Puddel«, wie wir ihn nannten, war ein ausgedienter Unteroffizier, das Feldwebelhafte seines Auftretens war gemildert durch die wenig soldatische Troddelmütze auf dem ergrauten Haupte. »Achtong!« kommandierte er. »Ond heut wär Hitzvakanz!« – »Hurra!« johlte die Klasse, hurtig zum Abzug bereit.

Auf der Straße war ich umringt von Mitschülern, die Händel mit mir suchten. Ich kam mir vor wie einer, den die Bremsen stechen wollen. Man belästigte mich durch Zupfen und Knuffen. Und vortretend krähte mir Quenstedt, ein Klassengenosse, ins Gesicht: »Wart no, du Ssauballa! Der Wurschterle wird di[59] verschlage! Sein Kartellträger bin i! Gfordert bischt! Die Mensur steigt onter der Neckerbrück!« – »Gänget mr!« heulte die Knabenrotte, und es wälzte sich der Auflauf die Mühlgasse hinab. Auf Wurschterle redete man ermunternd ein, während mich tückische Blicke streiften. Aber da ging neben mir der Mitschüler, den sie Ritter Uli nannten, und raunte wohlwollend: »Immer tapfer! Aber Vorsicht! Der Wurschterle hat Ssauhieb!«

Von der Neckarbrücke führte eine hölzerne Seitentreppe zum Ufer des Flusses, und unter der Brücke war eine Sandbank, wohin man von oben nicht sehen konnte. Hier entstand um mich und Wurschterle ein Kreis von Pennälern, und leidenschaftlich ging das Hetzen los: »Auf, Wurschterle! Bach em ois! Tu em d' Gosch verschlage!« – »Net lang dischkuriere!« prahlte mein Widerpart. »Fanget mr ahn!« Auch ich war für rasche Entscheidung und machte mit meiner entleerten Büchermappe eine Rolle, in der Meinung, mit dieser Waffe solle die Fehde ausgefochten werden. Kampfesmutig legte ich aus und sann schon auf meine Hochterz. Hohngelächter belehrte mich, daß ich den Ernst der Lage verkannte. Mit geballten Fäusten lauerte Wurschterle, und auf einmal traf mich ein Stoß auf die Nase, daß mir war, als sei sie zerschmettert. Gleich im nächsten Augenblick knallte meine Faust auf Wurschterles Backe. Er prallte zurück und spuckte – Zähne schienen ihm wacklig geworden zu sein.

Mit mir drehte sich alles, mein Schädel brummte, die wirren Rufe der Pennäler klangen wie aus der Ferne. Dann unterschied ich Ritter Ulis gutmütige Stimme: »Gib dei Sacktüchle her!« Er netzte mir's mit Neckarwasser und kühlte die blutende Nase. Auch Enzio stand bei mir, mit Kennermiene betrachtete er meine Abfuhr: »Tut's arg weh? Gelt?« Ich schüttelte den Kopf: »Ha – a!« Der indianerhafte Held darf ja nicht merken[60] lassen, wenn's weh tut. »Net lang gaffe!« rief Uli den Knaben zu. »Beiderseits Abfuhr! Mensur ex!« – »Himmel Herrschaft, dees hätt mir passiere solle!« prahlte Enzio, als er mich heimbegleitete. »Metzelsupp tät i aus dem Wurschterle mache!«

Als ich zu meinen Eltern kam, waren sie entsetzt über die Nase, die angeschwollen war wie ein Gebäck. »Du führst dich ja nett ein, Lümmel du! Nach dem Essen gehst du in die Laube und steckst die Nase in die Grammatik!« – »Er soll aber die Wasserschüssel mitnehmen!« fügte Mutter hinzu. »Nase kühlen!« In der Laube kam ich mir vor wie eine geknickte Lilie und legte triefende Umschläge auf das mißhandelte Organ. Bald aber wurde ich guter Dinge. Vom nahen Beete nickten mir Rosen schelmisch zu: »Du mit der komischen Nase! schnüffle mal, ob du uns riechen kannst!« Eine Lerche, die trillernd ins Blaue stieg, erinnerte mich an Jakobs Himmelsleiter. In einer Anwandlung von Frömmigkeit kam ich auf die Idee, den lieben Gott, den ich durch meine Flegelhaftigkeit gekränkt hatte, zu bitten, durch ein sichtbares Zeichen mir anzudeuten, wie er's mit mir meine. Zwischen die Blätter meiner Bibel wollte ich mit der Feder stechen, und die Zeilen, die ich dann zu lesen bekäme, sollten mir Orakel sein. Und ich las: »Selig sind die Friedfertigen!«

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 58-61.
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