Die Schöpfung der Welt

[61] Mit geschwollener Nase kam ich am andern Tage zur Schule, wurde aber von den Mitschülern nicht ausgespottet, eher mit Achtung behandelt. Wurschterle, der eine bläuliche und geschwollene Backe hatte, ging mir aus dem Wege. Die erste Stunde war beim Naso: Geschichte. Er begann mit seinem Gebet: »Du hoscht eun heulik Amt ...« Das darin vorkommende Wort »Ohngebärdigkeut« sprach er mit einer anzüglichen Strenge, und nach dem Amen lenkte er sein glasiges Auge auf mich: »Heut repetiere mr Gschichtstabelle – fange mer ahn, Wille! Sag du mr, wann ischt die Welt erschaffe?«

Ich war aufgestanden und starrte den Professor an, wie er mich. »Ja ja, i frag nach der Schöpfung der Welt! Wann ischt die gwä? He?« Ich wußte, die Geschichtstabelle, die ich jüngst angeschafft hatte, begann mit diesem Datum; dann kam eine Jahreszahl für die Sintflut und eine für Abraham. Ich hatte über diese Zeilen hinweg gelesen, ohne sie ernst zu nehmen. Naso weidete sich an meiner Ratlosigkeit: »Also, wann hat Gott ... He, du?«

Dumme Frage! dachte ich. Wer kann das wissen? Als durchschaue Naso meinen Widerspruchsgeist, wurde seine Stimme streng: »Das allererschte Datom der Weltgschicht? Ond daas weischt du net emal?« Ich zuckte die Achsel und meinte kleinlaut: »Das – weiß – niemand!« Naso riß die Augen auf – ich[62] hatte noch die Frechheit, fortzufahren: »Es gab ja damals überhaupt keinen, der die Jahreszahl hätte notieren können!«

Eine Bewegung des Staunens und der Heiterkeit ging durch die Klasse. Naso war so verblüfft, daß er sich sammeln mußte, dann aber ging sein Schnauzen los: »Gschwätz, domms! Gschaffen freili war damals noch niemand. Aber der Herrgott selber war da, ond der hat net nötik ghätt, sich 's Datom zu notiere! Der Allwissende braucht kei Notizbüchle. Aber sein Gschöpf, du hoscht die Pflicht, dir's Datom einzupräge! Drum nimm di zamme, du! Also – wann hat Gott –?«

Da glaubte ich eine Ausrede gefunden zu haben. »In vorsündflutlicher Zeit!«

Wieherndes Gelächter der ganzen Klasse – Nasos Mund stand offen: »Waas? In vorsünd ...? I glaub, du selber ... dei Nas, die scheunt mir vorsündflutlich zu sein.« Dröhnende Heiterkeit. Schmunzelnd betrachtete der Professor meine Nase. »Blau ischt sie, grün, gel – ond der Wurschterle da, der hat auf seiner Backe die Komplementärfarb? He, Wurschterle, versuche mer's mit dir! Wann hat Gott die Welt erschaffe?«

Wurschterle, der Zeit gefunden hatte, in seiner Tabelle nachzusehen, sprang soldatisch auf: »Viertausendeinhondertzweuondachtz'g!« – »Ond?« fragte der Professor lauernd. Wurschterle lugte nochmals in die Tabelle – und wiederholte störrisch: »Ond achtz'g! Zweuondachtz'g! So steht's bei mir.«

»Schafskopf, dees mein i net! Die Zahl tut stimme – aber ohnvollständik bleibt jedes Datom, wenn mr net dabei sage tut, ob's vor Krischtus gwä ischt oder nach Krischtus.« Wurschterle stutzte. Mitleidigen Spottes Naso: »Tut der Ssimpel net emal begreife, daß die Schöpfung der Welt vor Krischtus muß gwä sein.« Der gekränkte Wurschterle zuckte die Achsel: »Ha no! Selbschtverständli!« Naso krähte: »Wenn's selbschtverständlich[63] ischt, warum sagscht es denn net glei? Wiederhol!« Und Wurschterle patzig: »Viertausendeinhondertzweuondachtz'g vor Krischtus war die Schöpfung der Welt.«

Ich muß wohl ein erstauntes Gesicht gemacht haben, denn der Professor wandte sich plötzlich an mich: »Dees glaubscht wohl net?« Aufrichtig schüttelte ich den Kopf. Nasos Stimme wurde hart: »So so! Ond warom glaubscht net?«

Warum? Ich dachte noch, und da kam mir ein seltsames Steingebilde in den Sinn. In einem Steinbruch bei Magdeburg war's gefunden und dem dortigen Gymnasium geschenkt. Unser Lehrer der Naturgeschichte hatte gesagt: »Das ist eine Urweltsschnecke, über hunderttausend Jahre alt.« So wagte ich die Antwort: »Wenn's versteinerte Schnecken gibt, die hunderttausend Jahre alt sind, muß doch die Schöpfung älter sein.«

Die Klasse horchte auf – es war ganz still – Naso schien betroffen. Er nahm seine Zuflucht zur Witzelei: »An Schneckle, an so domme Viecher glaubscht? Also geh zu deim Schneckle ond laß dir von dem Gschichtsonterricht erteile! Es weiß wohl bessere Tabelle, als mir da hänt, gelt?«

Plötzlich starrte er einen Schüler an und keifte: »Du da, Quenstedt! Waas hoscht du frech z'lache?« Quenstedt erhob sich und zeigte grinsend seine etwas schadhaften Zähne: »Mei Vatt'r hat au so Schneckle!« Quenstedts Vater war Geologe und hatte aus dem Kalkstein der Alb manche Versteinerung urweltlicher Tiere geholt. Es war dem Naso peinlich, daß diese geologische Autorität als Trumpf gegen ihn ausgespielt wurde: »Bleib mir vom Leib mit so ausgegrabene Knoche! Als ob mr beweuse könnt, wie alt so Versteunerunge sind!«

»Ha, dees kann mr,« entgegnete Quenstedt keck. Und Naso gereizt: »Ein vernönftiger Mensch tut sich net auf so Schneckle verlasse – wo auch noch versteunert sind, wie Lots Weib zur[64] Salzsäule ward. Versuch's ond frag dei Schneckle, wie alt es sei! Meinscht, es werd antworte: Du, Quenstedtle! Tu mer gratuliere! Heut vor honderttausend Jahr ischt mei Versteunerungstag gwä –?« Durch den Beifall der Klasse ermuntert, fuhr Naso von oben herab fort: »Hoscht denn du überhaupt so Schneckle schon gsehe?«

»Ha freili! Ins Hebsackers Gärtle liegt eus. E Theolog hat im Neckrbaad gewohnt – dem hat's e Keemiker dediziert. Wie na der Theolog hat fortmüsse, war's versteunerte Schneckle zu schwär für sei Köfferle. Na hat er's dem Hauswirt dediziert. Der hat's ins Gärtle gelegt, zur Verzierung zwische die Rose.« – »Schwär, sagscht, sei dees Schneckle gwä?« meinte Naso lauernd, »wie schwär denn?« – »Ha, an die fufz'g Pfund!«

Alles staunte, und ungläubig Naso: »Eun Schneckle, eunen halben Zentner schwär? Onsinn!« – »Ha, dees Schneckle, dees Ammonshorn – so heißt mr's in der Geologie ...«

»Ammonshorn? Weuscht denn du überhaupt, wer der Ammon gwä ischt?« – »E Schafbock, mit so runde Hörnle!« grinste der Bengel. Die Blöße, die sich Quenstedt gegeben hatte, nutzte Naso aus: »Selber bischt e Schafbock! Lern du erscht Mythologie! Na kascht von Ammon rede!« Milderen Tons wandte er sich jetzt an Flammer, der wegen seiner vielseitigen Kenntnisse allgemein bewundert wurde: »Also Flammer! Red jetzt du

Flammer erhob sich, ein Hauch von Röte überflog sein kluges Gesicht: »Ammon ist ein Beiname Jupiters. Als Zeichen der Würde trug er Widderhörner am Kopf. Nach denen heißt eine große Schneckenart der Urwelt Ammonshorn, weil sie so geformt ist. Beim Hebsacker, dees stimmt, liegen e paar Ammoniten. Und Herr Kandidat Hainlin hat gsagt, ihr Alter sei kolossal!«[65]

Naso wurde unsicher: »Kolossal? Ha no! Dees möcht stimme! Aber net honderttausend Jahr!« – »Eine Million, sagt Herr Kandidat Hainlin.« – »Ond mei Vatt'r,« platzte Quenstedt dazwischen, »der sagt, auf e paar Millione mähr oder weniger käm's net ahn – so alt sei dees Schneckle.«

Einen krebsroten Kopf bekam Naso, seine Augen glotzten bestürzt auf Quenstedt: »Dei Vatt'r? Der kommt hier gar neu in Betracht! Der'scht ja Nadurforscher! Ja, wenn ihr Nadurkond habt, im Obergymnasium, na mögt ihr vom Ammonsschneckle schwätze! Vorausgsetzt, daß sich der Herr Professor Wildermut überhaupt auf so Sächle einläßt. Ond sollt der alsdann für die Schöpfung der Welt ein anderes Datom ahngebe, als in der Tabell steht – na gilt dees halt für die Nadurkond! Aber jetzt hammr Welt gschicht! Da wolle mr uns an dees halte, waas Hischtoriker feschtgstellt hänt. Zom Ueberfloß ischt dees amtlich ahnerkannt – onser württebergisch Minischteriom hat die Tabell da drucke lasse. Ond wer onser Minischteriom net reschpektiere tut, bleibt halt sitze

Schon glaubte Naso, mit der Genugtuung eines Siegers die Klasse überschauen zu dürfen, da hob Flammer den Finger. »Waas, Flammer?« Und Flammer: »Woher wissen denn die Hischtoriker dees Datom?« Naso erstarrte, Augen und Mund aufgerissen: »Woher sie dees wisse? Ha no – glaubscht denn du net an die Bibel? Aus dem Buch der Bücher hänt die Hischtoriker das Datom ausgrechnet! Der Moses zählt ja die Jahr auf, wo seit der Schöpfung verstriche sind.« – »Aber woher weiß es denn der Moses?« – »Ha,« eiferte Naso, »von Goot selber! Der hat ihm ja die Bücher Mose in die Feder diktiert! Wer also net ans Datom der Schöpfung glaubt, der glaubt net an Moses! Wer aber net an Moses glaubt, der'scht eunfach ... der'scht e Lausbub!«[66]

Etwas erschöpft schien Naso von solcher Abkanzelung. Doch einmal im Zuge, schwang er sich noch zu einem majestätischen Finale auf: »Oh freili,« höhnte er, »Gootsleugner gibt's in der Welt! Aber net bloß, daß so Atheischte ohnverschämt dreischt sind, sie sind au ssaumäßik domm! Hier vor euch, Kinder, steht ein lebendiger Beweis dafür, daß es einen Goot gibt! Wenn's nämlich keunen gäb', waas wär dann i?« Gespannt starrte alles auf seine Brillengläser, hinter denen ein heiliger Eifer lohte. »I wiederhol die Frag: Waas wär dann i? Waas wär euer Professor? Ihr wagt's net auszuspreche – na werd i's selber sage: e Ssimpel wär i! Wenn i mir bloß einbilde tät, daß e Herrgoot ischt, wie er in der Bibel steht, na wär i nicks wie e bemitleidenswerter Idiot

Der Professor nahm offenbar an, schon die leise Vorstellung, er könne ein Idiot sein, müsse wie eine Ungeheuerlichkeit wirken, dabei müsse den Pennälern der Verstand stillstehn. Den Zeigefinger an der Nase, dozierte er weiter: »Weil aber dies – ohnmöglich – gradezu eun Widerspruch in sich selbscht wär, lautet der Vernonftschloß: Also – quod erat demonschtrandom – also gibt es einen Goot!«

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 61-67.
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