Beim Einsiedel

[217] So kam's, daß aus der Geburtstagsfeier in Bebenhausen nichts wurde. Aber der Kandidat Hainlin, den wir im Olgahain trafen, wußte Entschädigung: »Na ganget mr halt zum Einsiedel!« Jubelnd stimmten Uli und Wendelin dem Vorschlag zu. Den Einsiedel, diese Lieblingsstätte Eberhards im Bart, hatten sie rühmen hören, waren aber bisher noch nicht hingelangt. »Ischt dees net, wo Ihr Onkel Guhl wohne tut?« fragte Wendelin, und Hainlin erwiderte: »Gewiß! Der wohnt beim Pächter der Domäne Einsiedel. Und wird sich freuen, daß ich ihm Pennälerle bringe, von denen ich ihm erzählt hab.«

Die Wege im schattigen Olgahain sind gepflegt – einmal freilich mußten wir steil empor durch rauhes Dickicht. Wieder abwärts ging's, es kam die Schlucht des Kirnbaches, dann eine neue Waldhöhe. In hochgelegener Feldlandschaft waren Landleute mit der Kornernte beschäftigt. Pfrondorf berührend, bogen wir in ein Wiesentälchen ein. Laubwald ragte als dunkelgrüne Wand hinter der Kerbung des Geländes, durch die ein Bach floß. Hinüber führte ein Steg aus dicken Stämmen. Alte Buchen bildeten das Gewölbe, dessen Schattigkeit vom Sonnengold durchäugelt wurde. In die steingraue Baumrinde hatten Besucher Buchstaben und Herzen geschnitten.

Aus dem Walde getreten, waren wir auf einer Hochebene, die umfassenden Blick auf die Alb eröffnet. Sanft blauten die Berge, weiße Wolken schwammen drüber. Durch Stoppeln[218] führte ein Grasweg, den alte Apfelbäume einfaßten. Man sah die Spuren von Schafen; drüben in der Ferne blökte und wimmelte die Herde. Nun kam Stallung, Rinder brüllten, auf den Tennen hüpften Dreschflegel. Inmitten landwirtschaftlicher Gebäude lag ein Wohnhaus, von Wein berankt. »Hier wohnt Onkel Guhl,« sagte Hainlin – »er wird aber beim Schlößle sein!« Nachdem wir ein Geviert von Ställen, dann ein Tor passiert hatten, deutete Hainlin auf einen altertümlichen Bau: »Da hänt mr den Einsiedel!«

Vom ehemaligen Kloster war nichts übrig als ein Steinportal nebst halbversunkenem Gemäuer. »Im Baurekrieg ischt alles zerstört, Aeberhards Lieblingswerk ischt verfalle – bloß sei Weißdorn, der grünt.« – »Weißdorn?« fragte ich. – »Ha, kennscht denn du dees Gschichtle net?« fragte Uli. Und Hainlin fügte hinzu: »In deim Uhland steht doch die Ballade von Aeberhards Weißdorn. Der damalige Graf im Bart hat e Wallfahrt gemacht zum heiligen Land – und soll davon en Weißdornzweig heimbracht haben. An seiner Lieblingsstätte hier hab er den Zweig in die Erde gepflanzt – ond e Baum sei draus worde. Drüben seht ihr ihn – zwischen Apfelbäumen, e Steintisch drunter. Aber der Onkel, den i da vermutet hab, ischt net da. Ganget mr, ihn suche!«

Seitwärts abbiegend, wandelten wir am Graben hin, der das Klostergebiet umschließt. Er war schmal, flach, wasserlos – schilfiges Gras wuchs drin. Die Wehrmauer dahinter hatte nur Mannshöhe, und von unserm Pfade konnten wir hinüberblicken ins Bereich des ehemaligen Klosters. Allerdings war nichts weiter zu sehen als Rasen mit Obstbäumen und Gesträuch, Beete mit Salat und Bohnen.

Ein Hund schlug an, und gellend pfiff auf dem Finger Herr Hainlin. Drüben zwischen den Beerensträuchern erschien kläffend ein rehbrauner[219] Dachshund, und der Kandidat deutete auf eine Gestalt, die sich bei einer Bretterhütte zu schaffen machte: »Da hänt mr den Onkel! Seine Lieblinge tut er füttre. Hört ihr ihn locke?« Wir vernahmen, soweit es das Hundegebell zuließ, ein zirpendes Gezwitscher, das wohl von einer Trillerpfeife herrührte. Um einen weißbärtigen Mann schwirrten Vögel, und etliche saßen ihm auf Hand und Schulter, nach dargereichter Nahrung pickend. Neue Gäste kamen geflattert, Fink, Meise, Goldammer, Rotschwänzchen. Auf einem Pfahl lauerte eine Krähe und krächzte begehrlich.

»Aus der ganzen Gegend kommen die Tierle zu ihrem Wohltäter, wenn er bloß pfeife tut – ond so wenik Scheu hänt sie vor ihm, daß sie sich greife lassen. Jetzt ist die Fütterung, scheint's, beendet ... Grieß Goot, Onkel Guhl!« – Der Angerufene winkte: »I komm scho!« Und näherte sich uns, fortgesetzt umflattert. Am Steinportal, wohin wir zurückgekehrt waren, hüpfte uns der Dackel entgegen und schwänzelte um den Kandidaten. Dann kam, etwas schwerfällig, doch für sein Alter aufrecht genug, ein freundlicher Greis. Langes Weißhaar und ein weißwallender Vollbart umrahmten das wettergebräunte Gesicht, aus dessen blauen Augen Gutherzigkeit strahlte. »Grieß Goot, Jergle!« Er schüttelte des Neffen Hand, freute sich über sein stattliches Aussehen, fragte eingehend, was der Arm mache und wie es mit den Militärverhältnissen stehe, erkundigte sich nach Rosel und nach Bolkendorfs Befinden – blickte dann behaglich in die Runde: »Dei Schülerle? Dees da ischt der Uli, ond dees der Wendelin – leicht zu raten. Recht so, daß ihr komme sind! Ihr hänt gewiß tapfer Hunger, gelt? I geh gschwind, i hol was zom Veschpere.« Hainlin duldete nicht, daß sich der Alte bemühe, selber ging er zum Verwalterhause, Speise und Trank zu bestellen.

»Kommt, ihr Lateinerle!« sagte Guhl – »betrachtet derweilen den Ort! Nicks Bsonders freile hat's da. Zunäckscht hänt[220] mr dees Jagdschlößle. 's Innere bleibt uns verschlosse – hauße aber ischt kaum ebbes zu sehe. Uebrigens kann dees da net als ganz echtes Denkmal Aeberhards gelten. Dessen Jagdschlößle ischt im Dreißikjährigen Krieg niedergebrannt – bis auf einen dürftigen Rescht – den hat mr später ausgebaut.« Wir besichtigten das Gebäude. Unter überhängendem Dach hat der Oberstock eine Galerie, die von fünf Holzsäulen gestützt wird.

Die Magd, die nun mit Herrn Hainlin kam, richtete auf dem Steintisch an, was sie beschafft hatte. Es wurde jedem Milch eingeschenkt und Brot gereicht. Gemütlich war die Tafelrunde. Herr Guhl und der Kandidat saßen am Steintisch auf der Bank – wir drei Knaben lagerten im Grase. Der Dackel stand wedelnd vor Uli und erschnappte zugeworfene Brocken. Die Vögel wurden auch nicht vergessen – traulich hüpften und hockten sie, sich zur Familie rechnend.

Der Weißdorn, ein ziemlich dicker Baum, wölbte über uns die schattige Krone; zwischen gekerbten Blättern hingen, noch grün, die Früchte. »Ja ja, so geht's,« sagte Guhl – »Wachsen und Welken! Ond dees nennt mer's Lebe. E Sträuchle ischt der Baum gwä, wie dr Aeberhard sei Schlößle erbaut hat. Wie dann 's Einsiedelstift den Fünfzikjährigen aufgenomme hat, ischt scho e Bäumle hochgewachsen. Später hat mr's abghaue; weil aber die Wurzel noch lebenskräftik gwä ischt, hat sie en Schößling hervorgetriebe – der breitet jetzt den Wipfel da. Ond so hält der Aeberhard über seine Landeskinder noch immer die gütige Hand.«

Gütige Hand – das Wort war mir peinlich, weil es mein Gewissen traf: Ich dachte an die von mir verstümmelte Hand zu Bebenhausen. Hainlin hatte in meinem Gesicht gelesen und lächelte mir zu.

»Ond da herum« – sagte Uli mit Ehrfurcht – »liegt der Aeberhard begrabe?« – »Er lag hier,« erwiderte Guhl. »Im[221] Wald hat er ruhen wölle, unter Bäumen, wo er den Hirsch gejagt, wo er später sinniert hat. Der Graf im Bart tut in den Wald passe, hat ja selber ebbes Waldhaftes. Dees Waldhafte, Eigenwüchsige sollt im Menschenkind Geltung behalten. Aber leider maßt sich dr Menschewitz' ahn, es auszuroden. Menschewitz hat auch hier gscheiter sein wolle als das Waldhafte. Drum hat mr, nachdem der Aeberhard hier bestattet worden, vier Jahrzehnte später seine Gebein ausgegraben und in der Tübinger Stiftskirch beigesetzt. Für en Fürschten, so meint Menschewitz, sei's besser, in prunkender Gruft zu ruhn, als in gemeiner Erd.«

»Bitte, Herr Guhl!« sagte Wendelin – »können Sie wohl erklären, weshalb die Ringmauern des Kloschters da so auffällik niedrik sind? Der Verteidiger hat ja gradezu auf'm Erdboden liegen müsse, um durch die Schießscharte ziele zu könne. Oder ischt die Ruin in die Erd neigsunke? War die Erd etwa sumpfik? Schilfgras wächst im Graben da. Wie i dees bemerkt hab, ischt mir's Gedichtle vom Uhland in den Sinn komme: Ein Kloschter ischt versunken.« – »Net versunken ischt der Einsiedel,« antwortete Guhl – »sondern rings um die Mauern hat sich das Erdreich erhöht – vier Jahrhundert sind drüber hingange. Hänt ihr beim Bachstegle die Buchstaben an den Baumstämmen gsehn? Frisch gschnitte, sind sie lesbar, doch im jahrelangen Wachsen kommt von der Seit die Rinde herübergewallt, und schließlich sind da nur sonderbare Risse. So geht's mit allem, was einscht gewesen – und selbscht Inschriften aus Stein werden unleserlich. Kommet! I will euch das Grabdenkmal zeige, das dr Knecht beim Pflanzen eines Baumes aus Schutt ausgegraben hat.«

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 217-222.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Der Teufel kommt auf die Erde weil die Hölle geputzt wird, er kauft junge Frauen, stiftet junge Männer zum Mord an und fällt auf eine mit Kondomen als Köder gefüllte Falle rein. Grabbes von ihm selbst als Gegenstück zu seinem nihilistischen Herzog von Gothland empfundenes Lustspiel widersetzt sich jeder konventionellen Schemeneinteilung. Es ist rüpelhafte Groteske, drastische Satire und komischer Scherz gleichermaßen.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon