»O Ewigkeit, du Donnerwort!«

[222] Und zu jener Hütte führte uns Herr Guhl, wo er die Vögel gefüttert hatte. Unter der Bedachung lag ein rechteckiger Stein, dessen Meißelung durch Abwaschen von Erde und Moos gereinigt war. »Dees da han i entziffert.« Und Herr Guhl wies auf eine Zeichnung, die auf ein Brett gespannt war: »Anno Domini ... die Jahreszahl ist leider zerstört, der Name net ganz leserlich: Martinus ... Aber die Verse han i so ziemlich beisamme: ... seynd die Menschenkind / ... all Fleisch wie Heu. Auff Tennen tanzt eyn Würbelwind / Und bläset von dem Korn die Spreu / Was staubgeborn, das muß verwehn / Nur was aus Gott ist, bleibt bestehn.« – Die Lücken der Inschrift versuchten wir auszufüllen – Herr Guhl meinte, es seien freilich auch andere Lesarten möglich. »Aber Lesart hihn, Lesart her – die Hauptsach bleibt halt die Wahrheit vom Vergehn und von der Ewikkeit – gelt, Jergle?«

»Bitte, Herr Guhl, derf i noch ebbes frage?« bemerkte Wendelin bescheiden. »Von Ewikkeit sprechen Sie. I möcht gern wisse, waas für Bewandtnis es hat mit der Ewikkeit.« – Mit gutlaunigem Lächeln Guhl: »Ha, Büble – selbes möcht i au wisse! Was onsereins begreife tut, wenik gnug ischt dees – ha!« Ernsthaft sah er den Kandidaten an. »Ka'scht du's vielleicht deute?«

Dieser fand die Antwort: »Paulus meint: Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort. Ja, von Dämmerung[223] bleibt die Abspiegelung verschleiert – mögen auch Umrisse hervortreten – nur Ahndeutungen sind's des ewik Wahren – drüber naus kann Menschewitz net gelange ... O Ewikkeit, du Donnerwort!« – Langsam nickte Guhl: »Donnerwort! Ein Blitz aber muß beim Donner sein. Den Blitz, den wolle mer schaue!« – »Er blendet!« – »Blendet ond erleuchtet!« – »Dees schon, Onkel Guhl – aber net dauernd erleuchtet er. Kaum, daß er aufzuckt, ischt er wieder erlosche. Ond nicks Bessers hat er aus der Finschternis zur Deutlichkeit erhobe als ein Sekundebild – was liegt daran! Mr kann's net fescht halte!«

»Immerhihn!« meinte Guhl. »In mancher Gewitternacht blitzt es so rasch aufeinander, daß sich die Augenblicke wie Glieder einer Kette aneinander reihen. Ond einmal han i e Wetter gschaut, sell ischt e einzige Flamm gwä: versteinerte Zeit.«

Leuchtenden Auges Hainlin: »Versteinerte Zeit!« Und zu mir gewandt, mit leisem Lächeln: »Nunc stans lautet eine treffende Bezeichnung – was heißt das, Bruno?« – »Ein Jetzt, das still steht.«

»Allerdings, das ist die Ewikkeit,« bestätigte Guhl – »festgefrorener Moment – richtiger noch: der unverwüstliche Zusammenhang aller Daseinsmomente – das sonst von Trennung zerrissene Leben verschmolzen zur heiligen Einheit.«

»Festgefrorener Moment!« nickte Hainlin – »Dies Wort, Onkel, erinnert mich daran, daß du mal so ebbes erlebt hast – ich meine die Gschicht vom Herzog Christoph – die solltescht dene Buebe da verzähle, gelt? Denket, ihr Buebe! Unsern Herzog Christoph, der vor dreihundert Jahren gelebt hat, den Enkel Aeberhards, hat Onkel Guhl mit eigene Augen geschaut – net bloß im Bild, nein leibhaftik!« – »Ha!« stutzte Wendelin – »wie wär dees mögli?«[224]

»So möcht i selbr frage,« sagte Guhl – »i staun alleweil von neuem, daß ein Moment, vor drei Jahrhunderten erstarrt, mir Gegenwart hat sein können. Ja, den Herzog Christoph, den han i vor mir ghätt, wie jetzt euch! Bloß daß er wie e Schlafender war ... So höret! Anno Zwanzik ischt's gwä – i bin damals im Geschäft von meim Vatter, dem Tübinger Stadtmauermeischter, gwä. Da hat's geheißen, das Grabmal vom Herzog Christoph tu sich über der Gruft senke und könn einstürzen, wenn mer net vorbeug. Na hat mr beschlosse, die Gruft zu repariere. Mei Vatter hat's übernomme, und i bin dabei gwä, wie mr's Gwölb geöffnet hat. Im Schein der Laterne hänt wir da den Herzog liegen sehn – noch völlik unversährt, als ob er grad entschlummert wär. Den Kopf mit dem Herzog-Hut auf dem Purpurkissen, im Talar von grünem Samt. Auf dem schwarzen Wams eine goldene Kette. Das volle Kinn vom runde Bart umgebe, dunkelbraun mit Grau vermischt. Unerschütterlich ruhevoll war das gutmütige Gesicht, das gelblich blasse. Die Hände lagen gefaltet, Ringe an den Fingern. Mit Ahndacht sah's, wer durfte.«

Wir Knaben blickten schweigsam staunend den Alten an, der da unter dem Baume saß, den Eberhard gepflanzt; und Eberhards Enkel, einen vor drei Jahrhunderten Verstorbenen, hatte dieser Alte von Angesicht zu Angesicht geschaut. Geweiteten Auges, wie ein Seher, fuhr Guhl fort: »Ja ja! Das war ein versteinerter Moment – nunc stans. Wie nun Einbalsamierung den entschlafenen Herzog vor Vergänglichkeit bewahrt, so enthält die Ewikkeit alles, was einmal war, jeden Augenblick, in sich geborgen, und zwar nicht bloß mumienhaft, sondern in Lebendikkeit, überdies in säliger Harmonie mit dem Ganzen.«

Wie ein Entrückter starrte Hainlin und sprach leise vor sich hin: »Species aeternitatis, Schau der Ewikkeit! Ja, so könnte[225] sie gelingen. Gleichwohl wäre sie bloß Schau. Auf Aeußerliches erstreckt sich die Schau, das uns gegenübersteht wie ein Gegenstand. Faust, der soeben schauen gedurft, wie alles sich zum Ganzen webt, kann net umhihn, gleich dar auf zu seufzen: Ein Schauspiel, aber ach, ein Schauspiel nur! Wo faß' ich dich unendliche Natur? So möcht auch ich das Ewige net als bloßer Zuschauer erfassen ... Das bloß Gedachte ischt mir net eigen gnueg – fascht äußerlich steht mir's gegenüber. Grad darauf aber käm's mir ahn, das Ewige unmittelbar zu haben, net als Gegenstand, sondern innerlich

»Zu haben? Sag lieber: zu sein! Um Ewiges ganz zu haben, müssen wir Ewiges sein! Richtiger noch: Die Ewikkeit soll uns haben! Wie eine Mutter ihr Kind umfängt.« – »Recht so, Onkel Guhl! Ja dann hätten wir sie unmittelbar!« – »Vorerscht freile« – fuhr Guhl fort – »tut's Kindle net viel erlebe von seiner Mutter – schlafe tut's meischt – benommen von wirrer Träumerei – und da ischt ihm oft bang ... Aber wach kann's werde

»Hilf mir, daß i wach werd!« sagte Hainlin, und es war in seiner weichen Stimme ein Flehen: »Das Einzelne zu verbinden zum heiligen Ganzen! Wo ist der Born, aus dem sich solche Macht schöpfen läßt?«

»Liebe«, sagte der Alte, »ischt innikschte Schau der Ewikkeit. Wer's erlebt, der weiß es. Mußt halt derart lieben, – daß keine Zeitlichkeit hinanreicht zur Höhe deiner Liebe.«

Bei diesem Gespräche war uns Knaben zumute gewesen, als wachse vor uns ein Felsenberg ins Ungeheure, so daß der Emporlugende Schwindel empfindet, daß er meint, jetzt müsse der Berg auf ihn hereinstürzen. An den Glasberg gemahnte mich dieser Felsenriese. So unermeßlich freilich hatte ich meinen Märchenberg noch nicht gesehn.[226]

Ein Aufatmen war's für mich, als jetzt zu Herrn Guhl eine zahme Dohle gehüpft kam. Wir lachten über ihre Drolligkeit – wie sie krächzend, als begrüße sie ihn freudig, auf ihres Schirmherrn Schulter flatterte und da behaglich kauerte, als sei's ihr angestammter Platz. »Bischt mei Peterle?« sagte der Alte. – »Ich nenne ihn Hugin,« scherzte Hainlin. »Hugin und Munin sind Wotans heilige Raben; alle Zeiten durchschauen sie, stellen also die Sehergabe dieses Weisheitsgottes dar. Ja, Onkel, ein Seher bist du, hast von der weißen Schlange gegessen, wie Merlin der Wilde – bist ein Zauberer, der sich und seine Gäste in graue Vorzeit versetzen kann, tote Helden aus der Gruft beschwört und die Sprache der Vögel versteht. Den Gedanken des Weltenmeisters weiß er nachzuspüren – die Allsymphonie belauscht er, die Chöre der Engel ...«

»Eure Chöre will ich belauschen –, ihr seid mir jetzt Seraphim, ihr jungen Dachse. Wenn schön Wetter ischt, hat mei Großvatter gern gsagt, so fliegen die Engele spaziere. Drum hänt ihr Engele-Bengele heut beim alten Guhl vorgsproche, gelt? I aber laß euch net eher wieder fort, als bis hier ebbes Schöns gesungen ond geklungen ischt.« – »Singet unser Schwabenlied vom Weißdorn,« bestimmte Hainlin – »die Buben hänt's in der Schul' gelernt, gelt?« Während nun im Wipfel des Weißdorns, den das Abendgold verklärte, eine Grille geigte und kleine Vögel gemütlich kauerten, als ob sie lauschten und zwitschernd mittun möchten, erscholl es aus frischen Kehlen, und den Baß brummte der Alte:


»Graf Eberhard im Bart,

Vom Württemberger Land,

Er kam auf frommer Fahrt

Zu Palästinas Strand.
[227]

Daselbst er einsmals ritt

Durch einen frischen Wald;

Ein grünes Reis er schnitt

Von einem Weißdorn bald.


Er steckt' es mit Bedacht

Auf seinen Eisenhut;

Er trug es in der Schlacht

Und über Meeres-Flut.


Und als er war daheim,

Er's in die Erde steckt,

Wo bald manch neuen Keim

Der milde Frühling weckt.


Der Graf, getreu und gut,

Besucht' es jedes Jahr,

Erfreute dran den Mut,

Wie es gewachsen war.


Der Herr war alt und laß,

Das Reislein war ein Baum,

Darunter oftmals saß

Der Greis in tiefem Traum.


Die Wölbung, hoch und breit,

Mit sanftem Rauschen mahnt

Ihn an die alte Zeit

Und an das ferne Land.«


Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 222-228.
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