Der Drache

[129] Die letzten Getreidegarben waren eingeheimst. Ein Knabe, der im Flachland aufgewachsen ist, spürt um diese Zeit eigene Sehnsucht, nun er über Stoppelfeld und Anger schweifen darf, unbehindert wie der kühle Wind, indessen am mattblauen Himmel Wandergänse mit den Wolken um die Wette reisen. »Hier oben ist's herrlich!« locken Vögel und Wolken und der Knabe sehnt sich empor. Befreit von Schwere, möcht' er das Luftreich durchschweben, möchte ein schweifendes Schauen sein.

Außerstande, selber zu fliegen, will er wenigstens einen Boten zur Höhe haben, – der soll ihm das Fliegen veranschaulichen, damit er sich hineinträumen kann. Der Drache aus Papier ist dieser Bote; ihn verfertigt der norddeutsche Knabe mit Sorgfalt – und stolz schaut er empor, wenn der Liebling in die Lüfte saust und immer mehr Faden nimmt. Als wir noch in Magdeburg ansässig waren, hatte mein Vater seinen zwei Knaben jedesmal im Herbst einen Drachen gebaut, und ein Fest war's für meine Phantasie, wenn unser Drachen die ganze Fadenrolle abgewickelt hatte und nun unter den Wolken stand, in der Entfernung ganz klein, lauernd wie ein Falke, der zum Niederstoßen zielt.

Kulturell rückständig kam mir die Lustnauer Jugend vor, weil sie keine Ahnung davon hatte, daß man einen Vogel aus Papier steigen lassen kann. Enzio, der mir in der Laube zusah, wie ich einen kleinen Drachen zusammenbastelte, empörte mich durch die dummspöttische Bemerkung: »Ond wenn er fliege tut, waas[130] hoscht na du dervon?« – »Blödsinn! Es macht mir eben Freude!« – »Ja, wenn du selber fliege könntescht! So aber geht nicks in die Höch als bei Papierle!« Solche Einrede verdroß mich. Immerhin hatte ich die Genugtuung, daß Enzio ein Zuschauer voll neidischer Bewunderung war, als ich hinterm Garten, auf Stoppelfeld mein Kunstwerk erprobte und nun der Drache munter im Winde wirbelte, ohne daß ich mich zu bemühen brauchte. Er hielt sich wacker, und wenn er zuweilen etwas wackelte, mit dem Schweife wedelnd, so schien das auszudrücken, wie behaglich ihm droben die frische Luft sei.

»Zu klein ischt er!« meinte Enzio geringschätzig. Doch ich konnte demonstrieren, was für ein Teufelskerl solch ein fliegender Zwerg sei. »Ich telegraphiere hinauf,« sagte ich. Während nun Enzio den Drachen hielt, schnitt ich mit der Schere ringförmige Scheiben aus Papier. Sie wurden über den Faden gezogen und glitten, vom Winde getrieben, am sogenannten Telegraphendrahte hinauf. Schließlich hingen oben so viel Depeschen, daß der Drache nieder mußte, um Erleichterung zu finden.

Eine neue Kunst mußte er jetzt produzieren, – einen »Brummer« brachte ich ihm bei – so nannten wir eine Papierzunge, die unter der Wölbung des bogenförmig gekrümmten Drachens schnarrend schwirrte. Mein Drache brummte in der Höhe wie ein Maikäfer. »Gewaltiger müßt' mir dees Brummerle sein! Wenn i en Drache baue wollt, der müßt groß sein wie e Scheunetor! Na könnt er einen Menschen hebe. I tät mi dra feschthalte – ond wenn er hochgeht, na tät er mi mitnemme. Ha, dees riskier i!« prahlte Enzio. Etwas Verlockendes hatte dieser Gedanke, und im Gerede spannen wir ihn weiter. Ich malte aus, wie mir zumute sein würde, wenn ich von einem Drachen in die Höhe getragen und vogelgleich bei den Wolken schweben würde, tief unten die Fluren mit den[131] winzigen Menschlein. »I hab's erfunde!« protzte Enzio – »ja, i krieg's Patentle – Millionär werd i!«

Auch ich nahm die Sache wichtig, tagelang berieten wir, suchten Material, bastelten und probierten. Von einer alten Mosttonne ergatterte Enzio einen Reifen, der sollte die Stirn unseres Drachens bilden. Zum Rückgrat schien eine Dachlatte verwendbar, dickes Packpapier gab es in Kuttlers Magazin. Schwierig war die Beschaffung hinreichend starken Fadens. Es bedurfte eigentlich schon eines Strickes, um des Riesenvogels Zugkraft auszuhalten. Das Geld, das der Seiler verlangte, brachten wir nicht zusammen, trösteten uns aber mit ein paar Waschleinen, wie sie im Haushalt gebraucht werden. Da meine Mutter die große Wäsche kürzlich erledigt hatte, merkte sie nicht, daß wir ihre kostbaren Stricke, auf denen sonst Hemden und Laken hingen, für unsern tollen Plan in Anspruch nahmen.

Als wir die Flugmaschine nahezu fertig hatten, war der Wind günstig. Zufällig kamen Uli und Wendelin; da gab's neues Geschwätz. Uli erklärte sich ebenfalls zum Fliegen bereit und wollte sich am Drachen festbinden lassen. Wendelin gab zu bedenken, einen so ausgewachsenen Kerl zu tragen, sei das Gestell zu schwach; lieber solle mit dem leichten Enzio der Versuch gewagt werden. Zur Anerkennung seiner kühnen Bereitschaft verlangte Enzio, das Flugzeug solle »Hohenstaufen« genannt werden, weil ja Enzio der letzte Hohenstaufe gewesen sei. »Taufen müssen wir allerdings!« erklärte Uli, »jedes Schiff trägt am Spiegel einen Namen, so darf der Name unserm Luftsegler net fehle! Bloß kann i mi net für Hohenstaufe begeischtere – dees wär ebbes gschichtlich Ueberlebtes, während unserm Werk die Zukonft ghört.« – Ich stimmte bei: »Ja, die Zukunft! Eine fabelhafte Zukunft! Vogel Rock soll der Drache heißen, nach dem Märchen in Tausendundeiner Nacht.« Wendelin[132] schlug den Namen Ikarus vor – aber Uli entgegnete: »Onsinn! Der Ikarus ischt e schlechter Flieger gwä – abgestürzt ischt er.«

Ich befürwortete die Namen Pegasus und Gigant, die Giganten hätten bekanntlich den Himmel erstürmen wollen.

»Wieso bekanntlich?« wandte Uli ein. »Von Mythologie hat der schwäbische Bauer keinen Schimmer – nur's Maul wird er aufreiße, wenn er auf dem Ding in den Wolken die Inschrift entziffert: Gigant! Sage mr lieber Wolkestürmer! deescht allgemei verständlich.« Einstimmig wurde dieser Name gewählt, nur daß Wendelin zu bedenken gab, die Schrift auf dem Flugzeug werde nicht zu entziffern sein, wenn's in den Wolken schwebe, – ratsamer sei, ein deutliches Wappen auf die Fläche zu malen, etwa das Zollernwappen, vier Quadrate, schwarz und weiß abwechselnd. Enzio murrte etwas von Preußentum – das sei in Schwaben net beliebt. Uli trat für Bismarck ein, und ich wandte meine Glasberg-Idee auf die Hohenzollern an, denen es jedenfalls gelungen sei, ihren Glasberg zu erklimmen. »I mein's gar net politisch!« entschied Wendelin. »Schwarz- weiße Quadrate hat's ja auf dem Schachbrett, ond im vorliegenden Fall wären sie ein Sinnbild der Berechnung. Net der Zufall, net Glück bringt dem Schachspieler Erfolg, bloß Verstand. Drum wolle mer onsern Wolkestürmer mit dem Schachbrett ziere – Symbol des Erfindergenies!«

Leuchtenden Auges betrachtete Uli das Ungeheuer, für das die Laube viel zu klein war. Im Warenschuppen hatten wir's fertiggestellt, und da lag es in Läng' und Breite – neben ihm der mächtige Schweif, ein Strick mit Papierbüscheln – er brauchte nur noch angeknüpft zu werden. Mit seinem Schachbrettwappen war der Wolkenstürmer versehen, auch mit zwei Schlingen, durch die Enzio die Arme stecken sollte, um in die Luft getragen zu werden.[133]

Die Ueberführung auf Stoppelfeld blieb nicht ohne Schwierigkeiten. Der starke Wind packte die Fläche, Wolkenstürmer war in Gefahr, in den Wipfel eines Apfelbaumes geschleudert zu werden. Stemmen mußten wir uns gegen die brausende Luft, wild umher blickten wir, wenn ein Windstoß die Obstbäume schüttelte, daß die Aepfel niederprasselten. Aufgeregt waren wir wie Krieger vor dem Angriff, wie Seeleute, wenn ein Orkan heranbraust. Wie ein sich bäumendes Schiff kam uns Wolkenstürmer vor. Dann wieder wie der Riesenhengst Bayard, dessen Ungestüm sich kaum zügeln läßt – nein wie Pegasus, das Flügelroß der Begeisterung. Welterschütternd war unser Vorhaben: ein Mensch sollte fliegen – wie einst Dädalus, dessen Erfindung verloren gegangen ist – an die abgerissene Tradition knüpften wir ein neues Glied. Unter dem grauen Gewölk trieb eine Krähe im Sturme. So wollten wir selber schweben. – Unwillkürlich breiteten sich mir die Arme wie Flügel, dann fuchtelte ich mit den Armen und schrie: »Ho! hoch!«

Auf dem Stoppelfeld postierten wir uns. Das Ende des Strickes, dran ein Querholz festgeknotet war, sollte Uli halten, alle Kraft aufbietend, daß ihm der Sturm den Drachen nicht entreiße. Wir anderen schleppten das Fahrzeug in wagerechter Haltung, bis der Strick gestrafft war. Schräg gegen den Wind wollten wir die Fläche stellen, sobald Enzio in den Armschlingen hangen würde. Doch obwohl von Uli »eins, zwei, drei« kommandiert war – und abermals kommandiert war, blieb Enzios Verhalten schleppend. Wie er endlich die Arme in den Schlingen hatte, rief Uli »Los!«, wir richteten den Wolkenstürmer auf und ließen los. Er stieg sofort – doch ohne Enzio, der sich im letzten Moment freigemacht hatte. Obwohl nicht programmmäßig, war's ein großartiger Moment, als Wolkenstürmer sich bäumte wie ein Hengst – dann brausend einen Bogen[134] himmelan beschrieb und – wieder zur Erde schoß. Ein dumpfer Krach, zertrümmert auf dem Acker lag der Gigant. Mit Mühe entwanden wir dem Winde sein Opfer, das er gänzlich hinzumachen beflissen war.

»Der Enzio hat schuld!« tobte Uli – »der Feigling hat gekniffen!« Der Angeschuldigte wehrte sich: »Deescht verloge! Gekniffe hat mi der Strick – die Schlinge war zu eng – da han i gschwind Ordnung schaffe wolle – aber der Uli hat los' brüllt. Zu rasch! Dees war der Fehler!« – »Schwätz net so fad! Kei Schneid hoscht – deescht die Sach! Im letzte Moment ischt dir's Herz ins Hösle gfalle, ond weil der Wolkestürmer zu leicht ischt, hat er den Salto mortale gemacht.«

»I glaub, die ganze Erfindung taugt nicks,« entschied Wendelin. – »Wohl taugt sie!« trotzte Enzio, – »bloß, daß mer sie noch verbessere mueß!« – »An der Berechnung fehlt's! Die Windstärke muß mr genau in Rechnung stelle, auch die Schwäre des Apparats nebscht seiner Fracht. Dann erscht ka mer beurteile, wie groß die Fläche sein muß, und was für Maderial geeignet wär. Papier ka mer net brauche – dees zerreißt halt bei solcher Belaschtung. Sägeltuch, dees tät scho halte – wär' aber zu schwär. An der Berechnung fehlt's dem Wolkestürmer.«

Die traurigen Reste unserer verunglückten Erfindung bargen wir im Schuppen. Ich war froh, daß die Waschleine meiner Mutter keinen Schaden genommen hatte. Die übrigen Materialien durfte Enzio behalten, der sich nicht ausreden ließ, seinen Wolkenstürmer zu verbessern und patentieren zu lassen. Da er sein Schmollen noch nicht abgetan hatte, mochte er nicht länger unsre Gesellschaft teilen und drückte sich, unter dem Vorwand, er habe eine Besorgung für Vaters Geschäft.

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 129-135.
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