Die Mühlspinne

[144] Ein Nachmittag in den Herbstferien war's, als unten bei Kuttlers ein Geschimpfe und Geschrei losging. Enzio war unter der Faust seines Vaters, der mordsmäßig wetterte. Gellend ging die Ladenklingel, und wie ich zum Fenster hinausblickte, flog Enzio, von einem Arm geschleudert, auf die Dorfgasse, daß er der Länge lang in den Staub fiel. Als er aufstand und in ohnmächtiger Wut plärrte, wurde hinter ihm drein, kaum minder unsanft, ein Handwägelchen expediert, dann unter einer wilden Androhung die Ladentür wieder zugemacht.

»Was ist los, Enzio?« fragte ich. Ein scheuer Blick aus den schwarzen Augen, und mürrisch wandte er sich – schämte sich offenbar vor meiner Mutter, die soeben gleichfalls am Fenster erschien und teilnehmend fragte: »Du sollst wohl etwas holen, Enzio, mit dem Wagen da?« – Er würgte sein Schluchzen hinunter: »Zur Neckermühl soll i! Mehlhole.« – »Na und? Das möchtest du nicht? Warum denn nicht?« Er schien unschlüssig, wie er seine Widersetzlichkeit begründen solle. »I ... i ... bi ... Gymnasischt! Dees ... Mehlhole im Wägle da ... paßt sich net ... für unserois!« – »Ach, dummes Zeug! Du bist ja noch ein Junge! Obendrein Dorfjunge! Geh getrost und hole das Mehl! Arbeit schändet nicht.«

»Ich komme mit!« rief ich, um Enzio zu trösten. Und weil meine Mutter nichts einzuwenden hatte, nahm ich meine[145] Schülermütze und lief hinunter. Enzio hatte seine Tränen getrocknet und blickte schon zuversichtlicher. Beide faßten wir den Griff der Wagendeichsel und einträchtig nebeneinander zogen wir los. Auf der Lustnauer Baumstraße raschelte welkes Laub, und aus den geplatzten Stachelschalen der Kastanien fielen die braunen Früchte, so daß davon unsere Taschen prall wurden. Enzios Gram war verflogen, und auch als wir in die noble Wilhelmstraße kamen, bekam er keinen Rückfall. Hinter dem Gymnasium ging's die Mühlgasse hinab. So hieß sie, weil es da mehrere Mühlen gab, die das Gefälle des vom Ammertal hergeleiteten Grabens ausnutzten. Wie eine Schlucht sah die Mühlgasse aus; sie bebte vom Rauschen und Surren der Mühlen. »Bischt in dr Neckrmühl scho gwä?« fragte Enzio, »der Müllergsell heißt Louis Gassenmeier – ischt bloß e Prolet, doch e gscheiter Kerle.« Die Steilheit der Gasse benutzend, setzten wir uns auf das Wägele – Enzio an die Deichsel, um sie zu lenken – und von selber rollten die Räder. Als das Wägele auf den Platz schoß, wo die Neckarbrücke beginnt, stand da der Torwart Fuchs, um von einem haltenden Zweispänner das »Pflaschtergeld« zu erheben. Da wir ihn fast anrannten, schimpfte er – worauf Enzio mit Frechheit diente.

»So isch reacht! Gib's em, Enzio!« hetzte der Müllergesell, der am offenen Tor der Neckarmühle lehnte. Sie war ein nüchternes, nicht hohes Gebäude mit abgeschrägtem Dachgiebel, an den Stadtmauerturm gelehnt, der in alter Zeit die Brücke beherrschte. »Das ist wohl der Gassenmaier?« raunte ich, und Enzio nickte. Eine verkümmerte Gestalt, bleich, bartlos. Mehlbestaubt die schlaffe Mütze, mehlbestaubt die nachlässig hängende Hose. Das graue Hemd, an der Brust offen, war über hagere Arme aufgekrempelt. »Dem Fuchs mueß mr eis drauf gebe auf sei borschtige Ssaukopf!« Nach diesem Giftworte streckte[146] Gassenmaier grinsend die Hand zum Willkommen. Etwas Lauerndes hatten die kleinen, graugrünen, rotumränderten Augen. Auffallend waren die Pockennarben, die das fahle Gesicht übersäten, als ob darauf Erbsen gedroschen wären. Eine Narbe am Halse schien von geschnittener Drüse herzurühren.

Spähend blinzelte mich Gassenmaier an: »Der Gymnasischt aus Norddeutschland? Dem's Wurschterle d' Nas verschlage hat, gelt?« Ich quittierte mit saurem Lächeln. Wir folgten in die Mehlstube, wo uns Surren und Tosen empfing. Nach Mehl roch es, gereiht standen weiße, pralle Säcke. Steinscheiben konzentrisch ineinander, von Treibriemen in Drehung versetzt. Aus dem Trichter darüber rieseln die Körner. Leert sich ein Mahlgang, so läutet eine Glocke automatisch, sobald die Mehlfalle nicht mehr belastet ist. Dann muß neue Frucht aufgeschüttet werden.

»Und's Mühlenrad?« fragte ich. – »Kommet!« erwiderte er und führte zu einer Falltür – eine Treppe ging hinab. Aus der dunklen Tiefe hauchte es feucht, laut war nun das Rauschen, Plätschern und taktmäßige Stampfen. »Lauschet, ihr Studentle!« sagte der Müllergesell behaglichen Spottes – »lauschet, waas die Räder schwätze? Dr Müller, dr Müller – stiehlt tapfer, stiehlt tapfer – e Sechstel vom Achter – hoho!« Indem wir hinabstiegen, wurde das Tosen so stark, daß man die Worte schreien mußte. Die Bretter, über die wir gingen, waren lose auf die Balken gelegt. Unter ihnen schoß das Wasser dahin, dunkelblank im Schein der Laterne.

Ich beugte mich übers Geländer, da donnerte der breite Schwall auf Schaufelräder – ächzend wälzten sie sich und trieften. Unter dem Gischt schimmerte grün die Flut. Einen so mächtigen Eindruck hatte ich nicht erwartet und riß die Augen auf. Nickend schrie mir Gassenmaier zu: »Gelt? Dees ischt e Mühlwerk!«[147]

Als er in die Höhe leuchtete, sah ich Seile, Balken, Zahnräder. Von oben dämmerte Tageslicht – ich spähte hinauf – wir waren in einem Schacht, durch die Oeffnung oben blaute der Himmel herein.

Nahe bei mir bemerkte ich etwas, das mich peinlich berührte: ein ausgebreitetes Spinnengewebe, mitten drin eine dicke Spinne. Gassenmaier, der meinem Blick gefolgt war, leuchtete mit der Laterne hin: »Mei Glücks-Spinn ischt dees!« Es war eine unheimliche Kreuzspinne, schwarz und weiß gestreift, graubepudert wie der Müllergesell. Regungslos lauerte sie, – hier und dort hingen im Netz ausgesogene Fliegen. Anzuglotzen schien uns das Raubvieh, zugleich nach einer Motte schielend, die um die Laterne taumelte. Da die Motte meinem Gesicht nahe kam, wehrte ich mit der Hand ab. Gassenmaier meinte, ich wolle seiner Spinne etwas tun, und hielt mir den Arm fest: »Spinne am Abend, erquickend und labend, gelt?« Dann haschte er die Motte, drückte sie tot und gab sie der Spinne ins Netz. Durchs Schallrohr seiner Hände rief mir Gassenmaier zu: »Au e Mühlteufel han i! Willscht sehe?« Und er drehte mich einer Tür zu, die mit Eisenblech beschlagen war. »Da tut der Mühlteufel wohne ond sei Großmütterle. Glaubscht net? Beileib! Mühlteufels Großmütterle ischt nämlich die Mahlkrott – e quappiks Viech – grad' scheint's, spaziert se irgendwo.«

»Eine wunderliche Mühle haben Sie da, Herr Gassenmaier. Uebrigens ist es schon mehr eine Fabrik.« – Er hielt das für ein Lob und nickte: »Net wahr! Ond viel besser tät sich die Fabrik rentiere, wenn mei Kabidalischt schlauer wär. Schlau mueß dr Mensch sei, wenn er's zu ebbes bringe will.« Er tippte sich auf die Stirn, als ob er da einen Schatz habe. Und wir begaben uns wieder zum obern Raum.

Das Knappenstüble war im Turme, den die Mühle in den Neckar vorschiebt. Eine Bank war durch übergebreitete Kissen[148] zum bequemeren Liegen hergerichtet. Bei einem Fenster lag auf dem Werkeltisch Hobel, Axt, Bohrer. »E rechter Müller mueß au Zimmerma sein. Hier gibt's auweil ebbes zu repariere. Aber jetzt kommt 's Bescht!« Aus einem Wandschrank holte er eine Flasche: »Schwarzwälder Kirschegeischt!« Ein Schnapsgläschen voll kippte er in seinen Mund, den Kopf zurückwerfend: »Ha! dees tut guet!« Das zweite Glas bot er Enzio an und dieser ahmte dem Beispiel forsch nach. Auch ich erhielt mein Glas und nippte vorsichtig. Feuer rann mir durch die Kehle, ich hustete.

Des Müllergesellen Gastlichkeit vergalt Enzio nobel mit Zigarren, und die beiden setzten ihre Glimmstengel in Brand, indessen ich durchs Fenster blickte. Drüben, jenseits des Neckars, war die Platanenallee, links die Brücke. Dicht unter dem Fenster kam grünweiß das Mühlwasser herausgeschossen, in den Fluß. Paffend bemerkte der Gesell: »So läßt sich's Müllerdasein ertrage – aber e Ssauerei ischt's dooch! E guets Kräutle! Davon derfscht mer e Kischtle besorge, Enzio! Ond waas macht dei Schweschter, die Linda? Blitzsaubers Weibsbild! Potz Wetter, hat die Auge! Wie Kohle! Ond tanze tut se! Himmel-Ssackerle, dees wär e Bräutle für mi! Wann i die hätt! Ka'scht net e Wörtle für mi einlege, Enzio? Sag, i wär ganz verschosse! Ond Geld han i au! Wer weiß, wozu i's noch bring! Mei Glücks-Spinnle tut für mi spinne. Enzio – wir send ons einik, gelt? Einschtweile bin i noch Galeeresträfling in der Mühl da – aber's kommt e bessre Zeit! Der Johann Moscht wird dem Kabidal den Garaus mache. Ssauhund send die Kabidalischte! Bloß daß mir's zu lang dauert mit dem Moscht sein Omsturz. Drum bin i net grad Sozialischt – bin au net Kabidalischt. Sozial-Kabidalischt bin i – ond wenn Linda ihre Aussteuer bringt, werd i Milljonähr!«

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 144-149.
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