Die Meuterei

[242] Ssaubock hatte herausgeschnüffelt, demnächst solle unser Gymnasium visitiert werden durch ein großes Amtstier aus Stuttgart. Wohl wissend, daß seine Schüler im Französischen verwahrlost seien, fürchtete er, durch sie blamiert zu werden. Bat sie daher, noch rasch etwas zu lernen – und sich einstudieren zu lassen, was zu antworten sei auf Fragen, die er stellen werde. Zur Einpaukung sollten wir am Sonntag vormittag erscheinen. Darob erbost, beschlossen wir, zu meutern. Als Bock die Klasse betrat, war sie leer – auf der Tafel stand dick mit Kreide: »Du sollst den Feiertag heiligen!«

Nicht zu uns in die sechste Klasse kam der Herr aus Stuttgart, sondern in die höhere. Von Uli angestiftet, hatte sich diese verabredet, möglichst dumm aufzutreten, um den Ssaubock in seiner Unfähigkeit zu zeigen. Der Schulrat war denn auch starr über die allgemeine Unwissenheit. Da die Uebersetzung des Ausdrucks »ich habe zu verdanken« Schwierigkeiten machte, sagte der Schulrat: »Bildet mal einen Satz mit verdanken!« Stumpf saß die Klasse da, keine Hand zeigte auf, und jeder Gefragte blieb maulfaul. – »Unerhört!« grollte der Schulrat. Da hob Uli den Finger, stand stramm und sprach in festem Baß: »Das Wenige, das die Klasse im Französischen gelernt hat, verdankt sie natürlich ihrem Lehrer.« Bock bekam seinen[243] roten Kopf – vor Wut zitternd, wandte er sich an den Schulrat: »Dieser Schüler ischt e ganz gefährlicher Bursch – eine geheime Schülerverbindung hat er gegründet – was ich hiermit gehorsamscht zur Meldung bringe. Da hab ich's corpus delicti, eine Schmähschrift auf die Schule. Das Heilikschte wird da in den Kot gezerrt, oh!« Was Bock dem Schulrat überreichte, war unsere Schülerzeitung.

Der Schulrat blickte hinein, stutzte, las weiter, schüttelte den Kopf und fragte: »Herr Präzeptor, wie sind Sie zu dieser Schrift gekommen?« – »In seim Zimmer han i die gfunde!« behauptete Bock. – »Dees ischt ver-loge!« brüllte Uli, »Be-trug hunds-gemeiner!« – »Wa-waas?« rief der Schulrat außer sich – »sofort – ins Konferenzzimmer mit dem Lausbubn!«

»Den Ssaubock da – den bringen's vor Ihre Konferenz! Net mi! I gang scho selber! Ond pfeif auf dees Tinte-Zuchthaus ond die ganze Schul!« Bücherranzen und Mütze nahm Uli – und der lange, starke Bursch verließ das Lokal, nachlässig schlürfenden Schrittes, im Gesicht kalten Trotz.


*


Sein Leugnen war nicht aus Furchtsamkeit erfolgt. Er besaß den Mut, für seine Handlungsweise, wo es sein sollte, offen einzustehn. Bocks Angabe, er habe die Schülerzeitung auf Ulis Zimmer gefunden, war tatsächlich eine gemeine Lüge.

Die Dinge hingen folgendermaßen zusammen, wie Uli mir nach der Katastrophe dargelegt hat: Das Exemplar unsrer Schülerzeitung, das Bock zu erlangen verstanden hatte, gehörte Enzio und war von Linda ausgeliefert worden, unter der Bedingung,[244] daß man ihren Bruder aus dem Spiel lasse. Bock wollte Hainlins Anstellung und Verbindung mit Rosel hintertreiben, und obwohl er verheiratet war, hielt ihn die sinnlich-gefallsüchtige Linda am Bändel. Bock hätte sich damit begnügen können, Hainlin zu kompromittieren, hätte also, nachdem die Abschrift des Hainlinschen Gedichts ihre Wirkung getan, die Schülerzeitung nicht vorzubringen brauchen. Aber nicht bloß einen Konkurrenten wollte er beseitigen, sondern auch Uli, den er zu fürchten hatte.

Bock hatte sein Ränkespiel folgendermaßen angelegt: Der Schuldiener, alias »Puddel«, bei dem Uli Wohnung und Kost hatte, benahm sich Lehrern gegenüber mit der Unterwürfigkeit des kleinen Beamten, und so fiel es dem Ssaubock nicht schwer, hier zu erreichen, was er wollte. »Herr Kordes,« hatte er feierlich gesprochen, »ich komme zu Ihnen, weil die Aehre unsrer Ahnstalt auf dem Spiele steht, und man erwartet von Ihnen, daß Sie mir sofort behilflich sind, den Dorn, der unsre Schulmoral vergiftet, zu entfernen. Ulrich Ritter, den Sie in Pension haben, ist der Rädelsführer eines Geheimbundes, der's arg treibt. Im Keller des Schlosses, wohin sie als Einbrecher gedrunge sind, hänt die Kerle wie Studente gsoffe. Wer Rädelsführer ischt, könne Sie sich denke, gelt? Ulrich Ritter, der bei Ihm wohnt. Daß er gschaßt wird, scheint onvermeidlich. Aber's braucht Ihne net leid zu sein – e Sälenverderber ischt dieser Lausbub – ond einen Pensionär von besserer Art will i mit dem Herrn Direktor Ihne verschaffe. Jetzt aber zur Tat! Es trifft sich gut, daß dr Ritter graad spazieregange ischt, gelt? Sie haben mich unverzüglich auf sei Zimmer z' führe – Haussuchung muß i halte – im Namen der Schuldisziplin, verstande? Ond im Vertraue gsagt – morge kommt dr Schulrat aus Stuggart.«[245]

Der überrumpelte Puddel, ein ehemaliger Feldwebel, ohnehin gewohnt, strammzustehn wie einst vor seinem Hauptmann, hatte nichts gegen dies Ansinnen einzuwenden gehabt, und so war's gekommen, daß der Ssaubock auf Ulis Bude gelangte. »Aha!« schnüffelte er – »nach Tabak riecht's! Da steht die lange Pfeif! Am Bierstudiom hat's der saubere Ritter an net fehle lasse. Aber dees ischt jetzt Nebensach. Die Bibliothek da will i mal revidiere – da scheint mir's net richtik zu sei.« Und indem er sich bei Büchern und Heften zu schaffen machte, tat er so, als hab' er soeben hier die Schülerzeitung gefunden – während er sie ja von Linda hatte.

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 242-246.
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