Reicher als die Welt

[235] Herbstlich klar war das Wetter, dabei sommerlich warm, als wir zur Waldhäuser Höhe emporstiegen. Am Weg in dürrem Gestäude gab's leis Gezirpe von Grashüpfern. Aus dem geschorenen Rasen der Obstgärten blühten Herbstzeitlosen, die Bäume strotzten von rotbackigen Aepfeln, stellenweise war im Laub ein goldig Lodern. Als wir uns dem Schnützelputzhäusel näherten, sahen wir zwischen den Rebstöcken Herrn Hainlin und seinen Onkel Guhl – sie musterten den stattlichen Traubenbehang. Hainlin kam uns strahlend entgegen, Onkel Guhl hatte seine ruhevolle Gemütlichkeit. Und es nahten Wendelin mit Berta Schneckle, Rosel mit Frau Schneckle – diese beiden trugen Henkelkörbe.

Während Frau Schneckle und Berta die Körbe zum Schnüzelputzhäusel trugen, um Kaffee zu brauen, ging Hainlin mit Rosel Hand in Hand. Onkel Guhl berührte mit keinem Worte den trüben Anlaß unserer Zusammenkunft. Wendelin konnte sich nicht enthalten, leise mit mir darüber zu verhandeln, und ihm kamen die Tränen. Dann wurden wir von Berta zum Häusel geladen und gingen hinauf ins Stüble.

Der zum Fenster gerückte Tisch weiß gedeckt; bei einem Blumenstrauß die Kaffeekanne nebst Tassen, ein Gugelhopf, eine Glaskanne Rotwein. Nach Frau Schneckles Anordnung nahmen Hainlin, Rosel und Onkel Guhl in der Mitte auf Stühlen Platz, während wir anderen zur Seite auf Bänken saßen.[236]

Für Hainlin und sich füllte Onkel Guhl zwei Gläser mit Wein und stieß an: »Zum Kaffee han i mi noch immer net bekehrt – seit er mir vom Arzt verboten worden – wie ich Schwindsuchtskandidat war ... Ja, ihr jungen Leut, damals hat der Arzt das Gutachten abgegeben, keine zwei Jahr würd i am Lebe bleibe – ond jetzt sind vierzik seitdem herum. Drum Prosit, Jörg ond Rosel! An mir wird offenbar: dr liebe Gott fügt die Ding oft ganz anders, als der Mensch vermutet. Also lasset uns net sorge! Vorschmack der üblen Sach ischt oft schlimmer als die Sach selbscht. In der Gegenwart lasset uns lebe! Der Augenblick sei Ewikkeit!« Friedlich lächelnd, stieß Guhl mit seinem Neffen an, schlürfte und lobte das Weinle.

Dann schwelgte sein Aug im Anblick der Alb, die durchs Fenster blaute. – »Heut hat sie e Lächeln so sälik, wie damals, als i Glaubens war, sie zum letztemal zu schauen. Was sie mir damals offenbart hat, gilt au für euch, ihr Kindle. So höret!

In meim Studentestüble war i glege, krank und einsam – bei der Burggass' hoch oben, wo mr die Alb übers Steinlachtal aufsteige sieht. Aber dafür war mir der Sinn schier vergange. Vom Fieber benommen, hatt i's Gsicht zur grauen Wand gekehrt – läär ischt mir die Welt vorkomme, wie e taube Nuß – alsdann han i die brennenden Augenlider gschlosse, gar nicks han i mähr sehe wolle – am gernschte hätt i alle Gedanken aus meim dumpfe Schädel naustan. Dees kammer freili net zwinge. Drum wimmelte hinter den Augenlidern e krauser Gedankeschwarm: Bilder früherer Tage – allerlei Erlebtes und Grübelei. Und obwohl ich teilnahmslos hinstarrte, kam mir die Frage: Hat's unter all dem ebbes, das dich wünschen lassen könnt, noch am Leben zu bleiben? – Student war ich – aber an Schulweisheit hatt' ich net Glauben – und der Burschefreud hatt ich mich enthalten[237] müssen wegen meiner Kränklichkeit. Die Eltern waren tot, meinem fern lebenden Bruder war ich entfremdet, net emal en Freund besaß ich. Wohl hatt ich seit Jahren e Mädle lieb – doch nur verstohle, ohn ihr's Herz entdeckt zu haben. Was hätte sie denn auch gewollt mit me Verährer, der die Schwindsucht hat – und dem sie nur kühle Freundschaft, keine Zärtlichkeit widmete. Zudem war's Mädle fortzoge von Tübinge – an eme Novemberabend, bei glutik dunklem Gewölk hatt ich Abschied von ihr genommen ... Wie ich das alles so bedacht hab auf meim Krankenlager, ist mir durchs Herz das Lied erklungen ... Gelt, Jörgle? Dir ist die Volksweise bekannt: Wenn ich an den letzten Abend gedenk, als ich Abschied von ihr nahm – denn die Sonne scheint nicht mehr, ich muß scheiden von ihr – doch mein Herz bleibt stets bei dir ... Seltsam hänt mich diese Worte ergriffen, besonders die letzten: Mein Herz bleibt stets bei dir ... Welch ein Wunder, han i denkt: hier liegt dr Körper, elend, ein verröchelndes Tier – die Seele aber fliegt in weite Ferne, zu ihr, die ich liebe ...

Wie mir selbiks Lied innerlich gehallt hat, ist es mir zum Wiegenlied worde. Und hat mich in Schlummer gelullt. Tief muß ich geschlafen haben, denn wie ich aufwachte, fühlt ich mich erquickt. Sonniger Tag war's, und grad wie heut lächelte durch mein Fenster das Gebirg herein. In dieser neuen Form rührte mich das Wunder von gestern. Denn ich sagte mir: Fern ist die Alb, aber du hast sie. Und warum? Weil du sie lieb hast. Innen hegst du alles Liebe – und keine Trennung, nicht Raum, nicht Zeit, kann dir rauben, was du liebst – ewiges Leben hat die Liebe – einen Reichtum, so kostbar wie net emal Gold ... Und wie ich so dachte, summte mir als süßer Trost der Schluß des Liedes durch den Sinn: Ich gedenke noch einmal recht reich zu werden – aber nicht an Gut und Geld. Wolle[238] Gott mir schenken das ewige Leben – ei so bin ich reicher als die Welt.«

Hier pausierte Herr Guhl in seiner Erzählung. Unter stillem Lächeln hielt er seinen Kelch empor, drin ein Glimmen war, geheimnisvoll, als solle ein Abendmahl genommen werden. Unvergeßlich ist mir auch der glühende Blick, mit dem Rosel ihn anstarrte – als wolle ihre Seele in sein Heiligtum stürmen. Dann winkte Guhl der Alb zu und schlürfte langsam.

»Ja, reicher als die Welt!« sprach er tief atmend – »der ist es, der sich einlebt in die ewige Heimat. Was dort blüht, im Heilgemüt aller Schöpfung, gehört jedem, der 's lieb hat. Und da gibt's keinen Hader um Mein und Dein. Ein einzik Haben ischt wert, daß wir uns was draus mache: 's Liebhaben – vorausgesetzt, daß man's ohne Habsucht meint. Nun mach du die Torheit der Welt nimmer mit – tu die Augen auf! Fang recht zu leben ahn! Vom Siechbett deiner Seele steh auf und wandle! – Die ferne Alb, die so zu mir gesprochen hat, ist mir vorkommen wie des Herrgotts Vergißmeinnicht-Aug. Auf einmal hab ich sein Wort verstanden, es könne einer von neuem geboren werden – aus dem Geist. Und dieser Geist hat von da an mich hervorgebracht, wie eine Mutter ihr Kind. Und gesprochen hab ich zu mir selber: bin ich auch nichts weiter als e gerings Kindle dieses neuen Lebens, so han i doch Teil daran.

Meine dazumal eingetretene Seelenerquickung hat allmählich auch den siechen Körper geheilt. Immer besser ging's mit meinem Befinden – wiewohl der Arzt, wenn er die Brust beklopft hat, sein Sorgengesicht net hat aufgebe wolle. Herr Doktor – han i gsagt – Hand aufs Herz! Wie lang han i noch zu lebe? Hör' i den Kuckuck noch einmal schreien? – Dees kammer hoffe! gab er zur Antwort – wollte mir aber[239] hökschtens noch zwei Jahr zuerkenne. Gut! han i denkt – so will i diese Frist verständik ausschlürfe – wie e guts Tröpfle. Net Quantität sei mir's Leben, nur Qualität. Jeder Tag, der mir vergönnt ist, soll Liebe bescheren – so wird er mir zum Fest!

Da ich neuntausend Gulden Vermöge hatte, nahm ich mir vor, jährlich dreitausend zu verbrauchen – denn zu meiner Galgenfrist von zwei Jahren hatte ich vorsichtik noch eins hinzugerechnet. Während ich zuvor mein Kapital ängstlich gehütet hatte, um bloß von den Zinsen zu leben, war ich jetzt sorglos in Geldsachen und wirtschaftete aus dem Vollen. Mietete eine sonnige Wohnung mit Garten – bei Hausleuten, die gute Küche hatten – trank täglich mei Schöpple Roten – unternahm Spritzfahrten in die Berg – hielt luschtige Kumpane frei ...«

»Derf i einschalten, Onkel?« sagte Hainlin – »net bloß Kumpane, auch mancherlei Notleidende hascht onterstützt – i ha's wohl erfahre. Bald ischt's e bedrängter Handwerker gwä, en abgerissener Wandergesell, bald eine verwaiste Familie oder ein arms Studentle.«

»Wenn i's net leugne tu,« – erwiderte Guhl – »geschieht's bloß, weil i noch sage möcht: Vom Ueberfluß mitzuteilen, ischt Lebenskunscht! Froh sein kann bloß, wer andre froh macht ... Kurz, ich war e Art Feinschmecker – und das ist dem Leib wie der Seel wohl bekommen. Wie meine zwei Jahr abgelaufen waren, befand ich mich keineswegs am Rand des Grabes, sondern fühlte mich frei vom Husten und rüschtik. Gut, daß noch für e drittes Jahr vorgesorgt ischt! han i denkt – und es schien mir an der Zeit, auf einen Brotberuf bedacht zu sein.

Für Gemälde interessiert, lernte ich einen Antiquar kennen – und nach einem Gespräch über ästhetische Dinge machte er mir den Vorschlag, mit meinen letzten paar tausend Gulden in sein Geschäft einzutreten. Ich habe dann Reisen gemacht, um[240] vergessene Gemälde ans Licht zu ziehen – und mancher gute Fund ist mir gelungen. So hab ich's erfolgreich getrieben, bis vor fünf Jahren mein Geschäftsfreund verstorben ist. Seitdem such ich meinen Frieden, wo einscht der Aeberhard gehaust hat ... Aber, Kinder! I bin am Schluß meiner Gschicht. Lasset den Kaffee net kalt werde!«

Bei dieser Mahnung an Behagliches der Erdenheimat löste sich die Spannung der Lauschenden. In frohem Beifall raunten sie durcheinander und begannen zu genießen, was der Tisch bot.

Durch Anklingen ans Weinglas bat Hainlin um Gehör: »Ihr Lieben, elend sind diese Wochen für mich gwä – an den himmlischen Lazarus han i denken müssen, wie den ein höllisch Gequälter um e Tröpfle Wasser anfleht, seine dürre Zung zu kühlen. Nun hat mich arme Seel mein Onkel Guhl erquickt mit seinem Lebenswasser – hat auch Rosel erquickt – ich seh's ihr ahn. Oh! wir waren arg bedürftik. Die Sehnsucht nach dem Ewigen, die ich hier spür – Onkel Guhl hat sie geweckt – ja alles, was ich Gutes in mir spür, in ihm hat's Wurzel. Das sei dir unverhohlen, mei guter, guter Onkel, ond gedankt.« – Die beiden Männer schüttelten sich die Hände, wortlos vor innerer Bewegung. Tränen im Auge, stand Rosel auf – Hainlin folgte ihr. Auch uns andere hielt es nicht mehr lang im Häusel.

Als wir draußen wandelten, sah ich hinten im Obstgarten Hainlin und Rosel beisammen stehen. Eindringlich schien er zu sprechen – hielt ihre beiden Hände gefaßt – das Paar sah einander in die Augen. Plötzlich schlang sie die Arme um ihn – sie küßten sich. Dann kehrten sie zu uns zurück.

An jeden richtete Hainlin nun ein paar herzliche Worte, dazu gab's Händeschütteln und Umarmung. Wehmütig lächelte Berta den Kandidaten an: »Schier könnt mr meine, da wär dr Bahhof, und Herrn Hainlins Zügle sollt glei abfahre.« – »Noch net!«[241] entgegnete Hainlin mild – »ond net e Lokomotiv soll jetzt pfeife – sondern, mit Verlaub, bloß i auf meiner Flöt.«

Das war allen willkommen – aus dem Häusle holte Hainlin das Instrument: »Von drüben möcht i blase, gelt? Aus der Ferne klingt's besser.« Er deutete auf den benachbarten Weingarten, der einen Vorsprung des Berges bildete.

Dorthin sahen wir ihn gehen – unterwegs tat er den Hut auf – der Sonne halber, die aus geröteten Wolken ihr Abendgold strömte. Zwischen Obstbäumen hatte er sich verloren – nun klang die Flöte herüber – in langen Tönen, weich und bebend. Es war das Lied, von dem Onkel Guhl gesprochen hatte – er nickte in stummer Rührung – lauschend bedachten wir die Worte: »Wenn ich an den letzten Abend gedenk, als ich Abschied von ihr nahm ...«

Wie diese Strophe geblasen war, erwarteten wir Fortsetzung – sie schien nicht kommen zu wollen, und vergebens rief Uli: »da capo!« Nach einer Weile aber sang die Flöte nochmals – jetzt aus größerer Entfernung:


»Ich gedenke noch einmal recht reich zu werden –

Aber nicht an Gut und Geld.

Wolle Gott uns schenken das ewige Leben –

Ei, so bin ich reicher als die Welt.«


Als nach langer Pause kein Laut mehr kam, brach Rosel in Schluchzen aus. Berta starrte ängstlich dort hin, wo Hainlin verschwunden war. Er ist ganz fort! schoß es mir durch den Sinn. Da trocknete Rosel mit dem Tüchle die Augen und sprach mit sanfter Festigkeit: »Er läßt schön grüße – keiner soll ihm nachgehe – er ischt fort!«

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 235-242.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Papinianus

Papinianus

Am Hofe des kaiserlichen Brüder Caracalla und Geta dient der angesehene Jurist Papinian als Reichshofmeister. Im Streit um die Macht tötet ein Bruder den anderen und verlangt von Papinian die Rechtfertigung seines Mordes, doch dieser beugt weder das Recht noch sich selbst und stirbt schließlich den Märtyrertod.

110 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon