Die Schlange

[250] Von Pia, die seit September in Wurmlingen weilte, hatte Wendelin einen Brief erhalten, der ihn furchtbar aufregte. Sie habe sich, schrieb sie, nunmehr fest entschlossen, ins Kloster zu gehen. Warum? Darüber sei oft im einzelnen gesprochen. Jetzt erkläre sie rundweg: Vor der Schlange, die auf dem beiliegenden Bildle dargestellt sei, wolle sie ihre Seele retten.

Die Schlange bedeute die Erbsünde. Nach Adams und Evas Verstoßung aus dem Paradiese halte sie das ganze Menschengeschlecht umringelt. Sogar den heiligen Menschensohn habe sie versucht in der Wüste. Der freilich habe ihr den Kopf zertreten. Es sei dies aber nicht so gemeint, als dürften wir Menschenkinder uns jetzt einfach auf den rettenden Helden verlassen – man müsse ihm nacheifern. »Drum« – so schloß Pia – »will ich meine Zuflucht nehmen zur benedeiten Mutter Gottes, sie soll mich bewahren. Sind unsere armen Eltern der Schlange anheimgefallen, so muß ich schauen, daß es mir nicht ebenso ergehe. Und schon aus Kindespflicht hab' ich beizutragen, daß ihre gequälten Seelen zum Frieden gelangen. Versäume ich das, so bleibt ihnen der Gram, daß ihr Kind ihnen nachfolgt auf dem Unheilsweg. Und ach, mir ist so bang – ich bin in arger Gefahr – bin so schwach. Heilige Jungfrau, steh' mir bei, daß ich der Welt entweiche, wo die Versucherin immer neue Evaskinder zum Apfelbiß verlockt! Ich flehe zum Himmel, daß[251] mir keine andere Mutterschaft beschieden sei als jene, von der unser Heiland spricht, es könne jemand von neuem geboren werden. Hilf mir, lieber heiliger Geist, daß in mir ein neuer Mensch werde, der würdiger ist, Pia zu heißen, als ich – deine arme, arg weltliche, doch zur Buße entschlossene Schwester.«

Daß Wendelin mir diesen Brief zu lesen gab, war ein Zeichen seiner kummervollen Ratlosigkeit. Er hatte jetzt keinen anderen Vertrauten als mich. Herr Hainlin war ja fort, und vor Uli sollte, wie der Brief beschwörend bat, alles einstweilen geheim bleiben.

Das Bild, auf das der Brief bezugnahm, war einer jener kleinen Buntdrucke, die in katholischen Kreisen verbreitet werden, um Gestalten des kirchlichen Lebens volkstümlich zu machen und erbaulich zu wirken. Vor der Pforte des Gartens Eden, den ein Engel mit Flammenschwert bewacht, sieht man Adam und Eva in angstvoller Lage. Während sie zwischen Dornen und Disteln weinend zum verlorenen Paradies zurückverlangen – wobei Eva den angebissenen Apfel noch in der Hand hält –, sind ihre zur Flucht erhobenen Füße und ausgestreckten Arme von der großen Schlange umwunden. Indessen kommt auf weißer Wolke Maria geschwebt, auf ihrem Arm den Retter der Welt.

Im Zusammenhange mit dem Flammerschen Familienschicksal machte der Brief auf mich wie auf Wendelin erschütternden Eindruck. Gleichwohl war Wendelin nicht einverstanden mit seiner Schwester: »Waas redet sie von der Erbsünd? Daß ihre Liebelei mit dem Uli sündik sei, die Verschrobenheit hat ihr der Beichtvatter in den Kopf gesetzt. In der Welt da hat's viel Wüschtes. Aber mei Piale ischt reine Unschuld. Ond die Erbsünd, von der ihr bangt, kann nicks anders bedeuten als des Menschen leibliche Natur. Ha freile, die Leiblichkeit hält alle in[252] Banden. Aber warum hat sie uns der Schöpfer verliehn? Warum uns aus dieser Natur herausgeschöpft? Warum sollen wir hernach büße, wofür wir doch nicks könne? Pfaffegschwätz!«

Trotz solcher Freigeisterei kamen Stunden, wo Wendelin seinen guten Glauben an die Natur wanken fühlte. Ein Buch über Bau und Leben des menschlichen Körpers fand ich bei ihm aufgeschlagen, und ein paar Abbildungen überrumpelten mich, daß ich in bange Verwirrung geriet. »Ist das wirklich so?« fragte ich – und er nickte unter Erröten. Dann mochte ich das Buch nicht mehr sehen, auch nicht hier bleiben – und wir liefen hinaus, in Wind und Regen. In der Platanen-Allee, die bei dem Wetter einsam war, wagten wir zu raunen von den Dingen, die mich bestürzt ge macht hatten, und die auch Wendelins klaren Kopf verwirrten. »Ich habe geglaubt,« – sagte ich – »was die Jungen davon reden, sei gemeines Geschwätz. Soll das nun wirklich wahr sein?« – »Ond i,« gestand Wendelin, »i han gemeint – e Kindle wachs der Mutter unterm Herze – wie aus der Apfelblüt der Apfel hervorwachst.« – »Ja – und stimmt das etwa auch nicht?« fragte ich bekümmert. – »Wohl stimmt's – aber dabei ischt ebbes Rohes. Die Natur scheint's, macht net viel Unterschied zwischen dem Menschen ond dem Viech.«

Mir war, als sei eine weiße Lilie in widerlichen Unrat gefallen. Wir schwiegen lange. Und traurig fuhr Wendelin fort: »Wann i denk, mei Schweschter – tat so Sache ... oh!« Auch ich schämte mich für andre, die mir nahestanden, – und für mich selbst – daß ich ein Menschenkind war.

»Na möcht mr bald der Pia vergönne, daß sie ins Kloschter kommt – gelt?« – Ich seufzte – und fügte kleinlaut hinzu: »Bloß daß sie dann immer eingesperrt bleibt, das ist traurig.« – »Dees wär mir alsdann grad recht!« erwiderte[253] er bitter, »weil die Welt ahnsteckend wirkt mit ihrer – Ge – mein – heit!«

»Und Uli?«

»Ach, Uli! Der macht sich keine Skrupel – der denkt weltlich! Schau dees Bänkle da! Weißt noch, wie wir da sind mit Uli gsesse – ond über so Sache hänt gschwätzt? Der Uli ischt e derber Kerle!«


*


Die Bank im Seufzerwäldchen, wo jetzt Novemberlaub moderte, erinnerte mich allerdings an das Gespräch. Kurz vor Ulis Entfernung hatte es stattgefunden – und sich anfangs auf den übeln Ruf eines hübschen, von Studenten umschwärmten Bürgermädchens bezogen.

»Aekelhaft sind so Sache!« hatte Wendelin gesagt – worauf Ulis Antwort lautete: »Aber sie sind natürlich! Honger ond Durscht ond Liebe, glaub mir, solche Triebe hänt ihr eigene Philosophie. Wann i nen saftigen Pfirsich in dr Hand hab ond i spür Durscht, na beiß i halt nein in die leckre Frucht. Iß du vom Baum der Erkenntnis – na hascht mitrede – eher net!« Mit schelmischer Heiterkeit hatte Uli so gesprochen, dann leichtfertig vor sich hingeträllert. Seine Lebenskenntnis hatten wir schweigend bestaunt.

Was mich betrifft, so war ich in solchen Dingen unerfahren, während Wendelin darüber schon gelesen und nachgedacht hatte. Jetzt begriff ich, warum mich meine Magdeburger Mitschüler noch in der Untertertia »die Unschuld« zu nennen pflegten. Was bisher bedeutungslos, fast unbeachtet in einem Winkel meines Innenlebens versteckt gewesen war, erhielt jetzt, durch die Gespräche aufgestört, eine beunruhigende Geltung. Worte, die ich von Erwachsenen aufgeschnappt, Vorkommnisse, die ich beobachtet hatte, erschienen in neuer Beleuchtung. In einer Deutung,[254] die ich »gemein« nennen mußte, die aber Macht über meine Phantasie gewann – als habe sich bei mir ein fremder Gast, ein roher, eingenistet. Träume, die nachts, Träume, die selbst bei Tage kamen, wehten mich mit süßlich-banger Schwüle an. Von ihnen umgaukelt, ahnte ich Ungeheuerliches unter den Hüllen der Kleidung und Sitte. Das Erröten, das mich beim Anblick der Konfirmandin überrumpelt hatte, kam nun öfter vor, bezog sich aber nicht auf Backfische, sondern auf ausgewachsene Weibsleute, zum Beispiel üppige Mägde.

Wendelin gestand, ihm gehe es ebenso. Er war verstört und bleich: »Jetzt spür i, was die Schlange Erbsünd ischt – wie sie Adams Kinder umringelt. Mir wird die Welt verleidet! Oh! wenn dr Herr Hainlin noch bei uns wär! Der hätte rechten Rat für uns.« – »Wir wollen mit Uli über diese Dinge sprechen, wenn er wieder mal von Reutlingen kommt.« – »Ach, dr Uli!« seufzte Wendelin und sah mich traurig an. Er wollte weiter sprechen – da zuckten seine Lippen, und der Mund verzog sich, wie wenn ein Kind zu greinen beginnt. Von Mitleid bestürzt, ergriff ich seine Hand: »Was hast du? Was ist mit Uli?«

Mit Tränen rang er und winkte mit der Hand ab: »Dr Uli!« Das sprach er auf einmal in einem rauhen Baß, während seine Stimme in letzter Zeit mädchenhaft gewesen war. »Ach der!« fuhr er bitter fort und wischte sich die Augen. Zögernd kam dann folgendes Geständnis heraus, wobei die Stimme bald tief gluckste, bald fistelte: Uli mache sich nichts aus ihm. Nur wegen der Pia habe Uli mit ihm verkehrt. Nun sie fort sei, hab' Uli, wenn er mal von Reutlingen herüberkomme, ein unerquickliches Wesen – frostig sei er und mürrisch.

Ich entgegnete, auch mir gegenüber benehme sich Uli so, er komme mir verwandelt vor. »Hat ja nie recht zu uns gehört – aber jetzt ist er völlig erwachsen, scho wie ein Student.« –[255] »Also du meinscht, er hab nicks gegen mi?« – »Gegen dich? Keine Spur! Die Sache ist ganz einfach: In Ulis Augen sind wir dumme Jungen!« – Wehmütig lächelte Wendelin und nickte: »Dees könnt stimme!« Obwohl er sich beruhigte, brach aus seinem stummen Brüten noch einmal die Leidenschaft: »Wenn – oh! Wenn mir net so arg bang wär! Die Schlange, die Schlange!« – »Unsinn! Die ist ein Popanz – wie der schwarze Mann!« – Scheu raunte Wendelin: »Einmal wie ich's Bildle von der Schlange besehn hab – da ischt mir's vorkomme, dr Adam ond d Eva seien niemand anders als dr Uli ond die Pia.«

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 250-256.
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